Olga Picasso (1891–1955), der lesenden, melancholisch nachdenklichen Frau in den Bildern ihres Mannes Pablo ist erstmals im Pariser Musée Picasso eine Ausstellung gewidmet. Die russische Balletttänzerin und Mutter des gemeinsamen Sohnes Paul war ab 1917 Picassos wichtigstes Modell, an dem er seine realistische „Klassische Phase“, oder „Olga Periode“, seine surrealistischen Experimente erprobte. Olga und Pablo Picasso lebten von 1917 bis 1935 zusammen, dann trennte sich das Paar, bliebt aber bis zum Tod Olgas (1955) verheiratet.
Frankreich | Paris: Musée Picasso
21.3. – 3.9.2017
Das Musée Picasso widmet der ersten Ehefrau von Pablo Picasso erstaunlicherweise die erste Einzelausstellung. Olga Chochlova war für Picasso das perfekte Modell, seine Muse und die von ihm am häufigsten gemalte Frau. Mehr als 350 Kunstwerke – Gemälde, Zeichnungen, noch nie ausgestelltes Archivmaterial, Fotografien und drei Filme (1931) – aus den Jahren 1917 bis 1935 dokumentieren die spannungsvolle Beziehung wie die künstlerische Arbeit des Ausnahmekünstlers. Eine Besonderheit stellt Olgas Truhe dar, in der die erste Ehefrau von Pablo Picasso ihre persönlichen Erinnerungen, darunter mehr als 600 Briefe ihrer Familie aus Russland, aufbewahrte, und die erstmals für diese Schau geöffnet wird!
Olga Picasso wurde am 17. Juni 1891 als Olga Chochlova in Nizhyn, in der heutigen Nord-Ukraine (ehem. russisches Kaiserreich), geboren. Im Jahr 1912 trat sie in der prestiegeträchtigen wie innovativen Balletttruppe von Sergei Diaghilev bei. Pablo Picasso und Olga Chochlova lernten einander im Frühling 1917 in Rom kennen, als der Maler Bühnenbild und Kostüme für Jean Cocteaus Ballett „Parade“ mit Musik von Erik Satie und Choreografie von Léonide Massine schuf. Am 12. Juli 1918 heiratete das Paar in der Russisch-Orthodoxen Kirche in der Rue Daru; Jean Cocteau, Max Jacob und Guillaume Apollinaire waren die Trauzeugen. Im folgenden Jahr beendete Olga Picasso nach einer Beinverletzung ihre Bühnenkarriere.
Am 4. Februar 1921 brachte Olga Picasso den gemeinsamen Sohn Paul zur Welt. Im Jahr 1924 wurden Spannungen in der Beziehung spürbar, und Pablo Picasso änderte die Art, wie er Olga darstellte. Ihre Präsenz ist zunehmend zurückhaltender, weniger offensichtlich, dennoch bis zu ihrer Trennung 1935 spürbar. Bereits 1925 hatte sich Pablo Picasso von seiner Frau emotional so distanziert, dass er sie im April alleine zurückließ, um mit Serge Diaghilev in Monte Carlo zu arbeiten. Die Verbitterung ob ihrer aufgegebenen Karriere könnte der Grund für die zunehmende Verzerrung von Olgas Körper in Picassos Bildern sein: „Großer Akt im roten Armsessel“ (5. Mai 1929) zeigt die ehemalige Schönheit als schmerzverzerrtes, schreiendes Wesen, das kaum mehr Ähnlichkeit mit einem Menschen hat. Der Surrealismus Picassos offenbart dessen emotionale Wirklichkeit.
„Heute ging ich in das Schukin Museum und sah endlich die Gemälde von deinem Ehemann. Seine Werke füllen drei Räume! […] Sie kommen in Scharen, um die Gemälde von Picasso zu sehen.“ (Wolodia Chochlova an Olga in einem Brief vom 25. August 1925)
Der zunehmende internationale Erfolg ihres Mannes wurde Olga auch aus Moskau berichtet, und der damit verbundene soziale Aufstieg von der Pariser Boheme in die Sphären des Geldadels lässt sich anhand der Wohnungen und Häuser der Picassos leicht nachvollziehen: Ab 1918 bewohnte das Ehepaar eine Wohnung in der Rue La Boétie in Paris, dann die Villa in Juan-les-ins, im Jahr 1930 erwarb es das Schloss von Boisgeloup. Zu den neuen Freunden zählten Eugenia Errazuriz, eine reiche Chilenin, die das erste Treffen von Pablo Picasso mit Serge Diaghilev und Igor Stravinsky organisierte, Jean Cocteau und Graf Étienne de Beaumont, auf dessen Bällen die Picassos gern gesehene Gäste waren. Mit der Geburt ihres Sohnes engagierten die Picassos einen Koch, ein Kindermädchen und einen Chauffeur.
Nachdem Pablo Picasso 1927 die 17jährige Marie-Thérèse Walter kennengelernt hatte, verwandelte sich Olga in Picassos Bildern von einer liebevollen Matrone in ein Monster. In „Le Grand nu au fauteuil rouge [Der große Akt im roten Fauteuil]“ (1929) scheint Olga nur mehr aus Schmerz und Leid zu bestehen. Der Körper Olgas diente dem Maler, die Krise des Ehepaares in visueller Form umzusetzen: Vielleicht schon im Juli 1928, spätestens aber im Oktober 1929 wusste Olga Picasso von der anderen Frau im Leben ihres Mannes. Ebenfalls 1927 verstarb Olgas Mutter und sie distanzierte sie sich von ihrer Familie in Russland. Ob die Bilder Picassos von Olga ausschließlich seine Sicht auf seine Ehefrau oder auch ihre Verlorenheit thematisieren, kann aufgrund fehlender Dokumente und Selbstaussagen nicht restlos geklärt werden. Das in der Ausstellung gezeigte Film-Footage aus dem Jahr 1931 zeigt eine selbstbewusste, agile Frau, die meilenweit vom Bild ihres Mannes in seiner Malerei entfernt zu sein scheint. Obwohl sich das Ehepaar 1935 trennte, blieben Olga und Pablo Picasso bis zum Tod Olgas im Jahr 1955 miteinander verheiratet.
Noch während Picassos Arbeit am Bühnenvorhang zum Ballett „Parade“ änderte er seinen Malstil und orientierte sich am französischen Klassizisten Ingres. Olga war in dieser Phase die erste Person, die Picasso mit eleganten Linien darstellte und mit dieser Rückkehr zur figurativen Darstellung seine Klassische Phase einleitete. Olga wurde von Pablo Picasso häufig melancholisch, sitzend, lesend oder schreibend dargestellt, was als Sorge der Dargestellten um ihre Familie im postrevolutionären Russland gedeutet werden darf. Zwischen Oktober 1917 und Ende 1919 hatte Olga Picasso keinen Kontakt zu ihren Eltern und Geschwistern, was die ehemalige Tänzerin nachweislich tief beunruhigte. Auffallend ist die Omnipräsenz Olgas im Werk des berühmter werdenden Malers: in klassischer Porträtpose zeigt er sie häufig in die Luft starrend, eigentümlich sind ihre Unbewegtheit, ihre starren Posen, ihre Introvertiertheit, die so gar nicht mit den erhaltenen Filmdokumenten übereinzustimmen scheinen. Pablo Picasso bewunderte Olgas Schönheit, verband diese mit einer Ingres’schen Linienführung und römisch-antiker Körperlichkeit. Gleichzeitig trennte er sie von ihrer ehemaligen Berufung als Tänzerin.
Die Porträts von Olga Picasso werden durch Mutterszenen ergänzt: Am 4. Februar 1921 wurde Paul geboren, der erste Sohn des Paares, was Pablo Picasso zu zahlreichen Kinderporträts, Mütterbildern und Familienszenen inspirierte. Vor allem der Familienurlaub in Fontainebleau im Sommer 1921 ließ glückliche Szenen entstehen, die deutlich Picassos Interesse an der Antike und der italienischen Renaissance widerspiegeln. Beide Epochen hatte er 1917 während seines Italienaufenthalts wiederentdeckt. Auffallend ist die weiche Gestaltung der mütterlichen Szenen, die die emotionale Ergriffenheit des Vaters deutlich zum Ausdruck bringt. In den folgenden Jahren malte Pablo Picasso seinen Sohn auf einem Esel reitend oder im Harlekins-Kostüm. Mit dem Harlekin hatte sich der Maler in seiner Frühzeit während der Rosa Periode selbst identifiziert. In den frühen 1920er und 1930er Jahren weitere Picasso den Themenkreis zu einer Ikonografie der Zirkuswelt: Pausierende Seiltänzer, sich kämmende Akrobaten oder Kinder stillende Mütter, verbunden mit Figuren der Commedia dell’Arte.
Pablo Picasso traf Marie-Thérèse Walter erstmals 1927 und machte die damals 17jährige zu seiner Geliebten. Obwohl das Verhältnis – auch wegen des jungen Alters von Marie Thérèse geheim gehalten wurde, vertiefte sich dadurch die Ehekrise der Picassos deutlich. Der Konflikt wird in Pablo Picassos Gemälden überdeutlich, bedenkt man die surrealistischen, häufig brutal verzerrten Bilder von Olga. Marie-Thérèse Walter hingegen war die Inspiration einer Serie von Badenden, die Picasso im kleinen Küstenort Dinard (Bretagne) in den Jahren 1928 und 1929 malte. Während Olga in gedämpften, grauen Tönen mit schweren und scharf gezeichneten Formen repräsentiert wird, zeigt Picasso Marie-Thérèse in einer frischeren Palette und in schwebenden, oft hocherotischen Posen. Für ihn war Marie-Thérèse ein Energieschub und spendete Freude, wenn man die Bilder richtig deutet.
Der Gegensatz in Wahrnehmung und Repräsentation zwischen der Ehefrau und der Geliebten könnte nicht größer sein. Dennoch verschwand Olga nicht einfach aus Picassos Bildwelt. In der „Klassischen Periode“ erscheint ihr Porträt noch eng verbunden mit dem Bildnis ihres Mannes. Im Atelier, seinem Zufluchtsort, verwandelte er sie im Laufe der 1920er Jahre zunehmend in eine monströse Figur, die häufig aggressives Verhalten, spitze Reißzähne in Form einer Vulva dentata aufweist. Die schwierige, gewaltgeladene Beziehung bricht sich in den Gemälden Picassos Bann; seine Werke sind teils autobiografisch zu lesen.
Dass sich Pablo Picasso in den frühen 1930er Jahren die Themenkreise der Kreuzigung und der Stierkampfarena (Corrida) erschloss, wird in der Pariser Ausstellung ebenfalls mit der Biografie des Künstlers enggeführt. Der Stierkämpferin gab er das Gesicht von Marie-Thérèse Walter, während er Olga in gewissen erschreckenden Formen der Kreuzigung verarbeitete. Die zunehmende Konzentration des Künstlers auf den Kampf zwischen Stier und Pferd lässt sich als verklausulierte Auseinandersetzung zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen interpretieren und ebenfalls auf den emotionalen Kampf Pablo Picassos mit Olga hin deuten. Dennoch darf auf die historische politische Situation nicht vergessen werden, reagierte der Maler doch auf die zunehmenden Spannungen und Auseinandersetzungen im Lauf der 1930er Jahre u. a. mit der Schaffung des Monumentalgemäldes „Guernica“ (→ Picasso: Guernica), in dem er beispielsweise das aufgespießte Pferd als Metapher für Schmerz und Leid einsetzte.
Zu den bekanntesten Themenkomplexen in Pablo Picassos Werk zählt zweifellos der Minotaurus. Für den Maler repräsentierte die antike Gestalt die Verbindung von Tod und Leben, diente gleichzeitig aber auch als Alter Ego des aus Spanien stammenden Künstlers. Im September 1935 brachte Marie-Thérèse die gemeinsame Tochter Maya zur Welt. Die antike Welt erschloss Picasso eine Symbolfigur für seine eigene Zerrissenheit zwischen zwei Frauen, seiner ungestümen, gewalttätigen Männlichkeit, die in dionysischen Festen oder Vergewaltigungen ihren Ausdruck findet. In Picassos selbst geschaffener Mythologie verbinden sich Elemente der Kreuzigung, der Corrida und des Minotaurus-Mythos miteinander. Erst nach der Geburt der außerehelichen Tochter trennte sich das Ehepaar Picasso gütlich. Dennoch schrieb Olga Picasso weiterhin Briefe an ihren gesetzlich angetrauten Mann – jeden Tag einen bis zu ihrem Tod 1955.
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Olga wurde am 17. Juni 1891 in Nizhyn als Tochter von Stepan Khokhlov, einem Kornel, und Lydia Khokhlova (geborene Vinchenko) geboren. Sie hat fünf Geschwister: Vladimir, Olga, Nina, Nikolai und Evgeny. Die Familie stammt aus der Ukraine, aber zog zu einem unbekannten Zeitpunkt nach Petrograd um (heute: Saint Petersburg), um etwa 1910 übersiedelte sie in die Kars Region.
1911 Olga wurde in die Truppe des Ballets Russes aufgenommen und reiste durch Europa und die USA.
1914/15 Letzter Besuch bei ihrer Familie, bevor sie im Dezember auf Tournee ging.
1917 Russische Revolution (Februar). Zar Nikolaus II. dankte zugunsten einer provisorischen Regierung ab. Picasso und Cocteau reisten nach Rom, um gemeinsam mit dem Ballets Russes am Ballett „Parade“ zu arbeiten; das Ballett feierte im Théâtre du Châtelet Premiere am 18. Mai in Paris. Pablo Picasso traf Olga. Picasso begleitete im Herbst die Truppe nach Barcelona. Die Bolschewiken stürzten die Regierung (Oktober), ihr Vater und ihre Brüder meldeten sich zur Gegenrevolution. Olga verlor den Kontakt zu ihrer Familie.
1918 Olga verletzte sich Anfang des Jahres am Bein und konnte kurz nicht mehr auftreten. Olga und Pablo heirateten in der Russischen Kirche in der Rue Daru, in Paris (12 Juli). Das Paar verbrachte seine Hochzeitsreise in Biarritz in Eugenia Errázurizs Villa, La Mimoseraie. Die frisch Vermählten zogen in die Rue November La Boétie 23, in die Nähe der Galerie von Paul Rosenberg, der Picassos Kunsthändler geworden war.
1919 Aufenthalt in London, um am Bühnenbild und den Kostümen des Balletts „Tricorne“ zu arbeiten (Musik von Manuel de Falla; Mai-Juli). Nach einer kurzen Rückkehr auf die Bühne verließ Olga die Ballets Russes Truppe und beendete ihre Tanzkarriere. Aufenthalt in Saint-Raphaël (August). Die Weiße Armee wurde in Süd-Russland geschlagen (September-Dezember 1919). Olgas Vater und ihre beiden Brüder sind verschollen. Stephan könnte im Dezember an Typhus gestorben sein, aber Olgas Familie hat dafür nie eine Bestätigung erhalten.
1920 Olga Picasso kontaktierte ihre Familie in Russland. Olga fand heraus, dass ihr jüngster Bruder Jewgeni im September 1917 verstorben war und dass ihre Mutter und Schwester in Tiflis (Georgien) in zunehmend schwierigen Bedingungen lebten. Ihr Bruder Nikolai tauchte in Serbien unter. Première des Balletts „Pulcinella“ an der Opéra de Paris (Musik von Igor Stravinski, nach Pergolesi, 15. Mai 1920). Aufenthalt in Saint-Raphaël, dann Juan-les-Pins im Sommer.
1921 Vladimir, Olgas ältester Bruder, kontaktierte die Familie. Geburt von Paul Picasso (4.2.), das einzige Kind von Olga und Pablo Picasso. Erste Monografie über Picasso publiziert.
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