Paris | Grand Palais: Niki de Saint Phalle, Jean Tinguely & Pontus Hulten Bewegung und Teilhabe in der Kunst | 2024

Tinguely, Saint Phalle, Strawinsky Brunnen
Niki de Saint Phalle, Jean Tinguely und Pontus Hulten verband in den 1970er Jahren eine intensive Zusammenarbeit im Centre Pompidou. Pontus Hulten war von 1973 bis 1981 der Gründungsdirektor des Pariser Museums und davor am Moderna Museet in Stockholm (1957–1972).1 Ihm verdankt das Centre Pompidou seine Einzigartigkeit: Von Anfang an verwischte er die Grenzen zwischen Kunst, Literatur, Wissenschaft und Leben. Von Anfang an wollte er das Publikum aktiv einbinden.
Die Ausstellung „Niki de Saint Phalle, Jean Tinguely, Pontus Hulten“ im Grand Palais Éphémère (Paris) erzählt eine Geschichte künstlerischer Leidenschaft, politischer Utopien und musealer Innovation. Inmitten der Renovierung des Centre Pompidou, dessen Wiedereröffnung für 2030 geplant ist, dient dieses Projekt als Rückbesinnung auf ein Gründungsideal: Kunst als radikales, demokratisches Erlebnis für alle.
Niki de Saint Phalle, Jean Tinguely
& Pontus Hulten
Frankreich | Paris:
Grand Palais Éphémère
29.6.2025 – 4.1.2026
Revolution aus Liebe – Niki de Saint Phalle, Jean Tinguely und Pontus Hulten im Grand Palais Éphémère
Das rebellische Duo der Nachkriegsmoderne, Niki de Saint Phalle (1930–2002) und Jean Tinguely (1925–1991) prägten mit spektakulären Werken wie Le Crocrodrome de Zig & Puce (1977) oder der ikonischen Fontaine Stravinsky (1983) die frühen Jahre des Centre Pompidou. Ihre Werke waren nicht nur Kunst, sondern Inszenierung, Interaktion und Auflehnung gegen jede Form bürgerlicher Kunstbetrachtung.
„Der wahre Fortschritt liegt nicht in der Maschine, sondern in der Vorstellungskraft.“ (Jean Tinguely)
Die Ausstellung würdigt insbesondere den Einfluss von Pontus Hulten (1924–2006), dem ersten Direktor des Musée national d’art moderne. Er war kein reiner Vermittler, sondern Visionär und Möglichmacher, der radikale Ideen nicht nur tolerierte, sondern aktiv kultivierte. Hulten verstand es, durch seine Nähe zu Künstler:innen wie Saint Phalle und Tinguely museale Konventionen zu sprengen. Er organisierte frühe Retrospektiven beider, ermutigte zu überdimensionierten Installationen und verankerte ihre Werke dauerhaft im Bestand öffentlicher Sammlungen. Hulten glaubte – ganz im Sinne Rimbauds – daran, dass Kunst nicht nur ästhetisch, sondern existenziell die Welt verändern könne.
Kunst zum Anfassen machten Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely. Pontus Hulten hatte de Saint Phalle bereits 1966 in Schweden ausgestellt. Dort konstruierte die Künstlerin mit ihren Freunden die Installation „Hon“, eine begehbare Skulptur in Form eines liegenden Frauenkörpers.
Ihr Partner Jean Tinguely nahm an den Ausstellungen zur Eröffnung des Centre Georges Pompidou 1977 mit dem „Crocodrome“ teil. Das „Crocodrome“ war eine Gemeinschaftsarbeit mit Bernard Luginbühl, Niki de Saint Phalle, Daniel Spoerri, Robert Rauschenberg und Martial Raysse. Die Künstler:innen brachten Offenheit, Widersprüchlichkeit, eine Anregung mit, die in dem Material zu finden ist, aus dem er seine Skulpturen macht: Ein Objekt trägt Spuren, es suggeriert, es widersetzt sich. Einige Jahre später, 1982/83, schuf das Künstlerpaar den Strawinski-Brunnen, auch Tinguely-Brunnen genannt, der bis heute vor dem Centre Pompidou steht.
„Die Schönheit kann explodieren, wenn man sie befreit.“ (Niki de Saint Phalle)
Künstlerische Begegnungen als Lebenswende: Wie sich Hulten, Tinguely und Saint Phalle fanden
Im Jahr 1954 begegnet Pontus Hulten während eines seiner regelmäßigen Aufenthalte in Paris dem jungen Jean Tinguely, der gerade seine erste Einzelausstellung in einer Galerie präsentiert. Hulten hatte zuvor Kunstgeschichte in seiner Heimatstadt Stockholm studiert und arbeitete zeitweise am Nationalmuseum für Schöne Künste. Gleichzeitig verfolgte er eine eigene künstlerische Praxis. Doch die Begegnung mit Tinguelys Werk – das durch die Integration von Bewegung besticht – ließ in ihm allmählich den Wunsch reifen, selbst nicht mehr als Künstler tätig zu sein. Stattdessen wollte er fortan die Werke jener fördern, deren kreative Ansätze ihn tief beeindruckten.
Tinguely wiederum hatte bereits 1952 gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Künstlerin Eva Aeppli, die Schweiz verlassen und sich in Frankreich niedergelassen. Im Winter 1954/55 zog das Paar in die Pariser impasse Ronsin – eine künstlerische Enklave, die auch Größen wie Constantin Brancusi beherbergte. Dort lernten sie 1956 Niki de Saint Phalle kennen, der ein Atelier zur Verfügung gestellt worden war, ebenso wie ihren damaligen Ehemann, den Schriftsteller Harry Mathews. Die bald folgenden Krisen in beiden Partnerschaften führten letztlich zu deren Auflösung. 1960 begann die Liebesbeziehung zwischen Tinguely und Saint Phalle.
Tinguely stellte seiner neuen Partnerin auch Pontus Hulten vor, der sofort auf das Werk der jungen Künstlerin aufmerksam wurde – obwohl sie ihre berühmte Serie der Tirs zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnen hatte.
Institutionelle Vision und künstlerische Loyalität: Pontus Hultens Aufbauarbeit am Moderna Museet
Pontus Hulten sammelte bereits ab 1949 erste Erfahrungen als Museumskurator im Rahmen temporärer Anstellungen am Nationalmuseum in Stockholm, wo er 1957 eine feste Stelle erhielt. Dort übernahm er die Verantwortung für die moderne Kunst und war maßgeblich am Ausbau dieses Bereichs beteiligt – was 1958 in der Gründung des Moderna Museet in einem eigenen Gebäude gipfelte. Von da an prägte Hulten als wissenschaftlicher Leiter das Profil des Hauses, auch wenn seine formelle Ernennung zum Direktor erst 1963 erfolgte.
Mit einem avantgardistischen, spartenübergreifenden Programm und einem innovativen Vermittlungsansatz, etwa durch verlängerte Öffnungszeiten und Angebote für Kinder, verschaffte er dem Museum rasch internationales Ansehen. Zentrales Prinzip seiner Museumsarbeit war der Vorrang des Sammlungsausbaus: Alle Aktivitäten sollten auf den Erwerb von Werken ausgerichtet sein und diesen zugleich fördern.
Ein exemplarisches Projekt dafür war die Ausstellung Unser Museum, wie es sein sollte (1963–64), die Hulten in enger Zusammenarbeit mit dem Freundeskreis des Moderna Museet konzipierte. Nach intensiven Verhandlungen gelang es ihm, Meisterwerke der modernen Kunst zu zeigen, und dank des großen Publikumserfolgs bewilligte der schwedische Staat erhebliche Mittel, um diese Werke nach und nach anzukaufen.
Hulten blieb auch in institutioneller Funktion seinen künstlerischen Weggefährten treu: Zahlreiche Werke von Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely – darunter das außergewöhnliche Paradis fantastique (1966–1967) – fanden durch Schenkungen oder Ankäufe ihren Weg in die Sammlung des Moderna Museet.
Pontus Hulten und das Centre Pompidou: Vision eines offenen Museums für das Leben
Dank des internationalen Renommees des Moderna Museet in Stockholm wurde Pontus Hulten 1973 von Robert Bordaz, einem hochrangigen französischen Staatsbeamten, nach Paris berufen. Bordaz war mit der Entwicklung eines neuen Kulturzentrums auf dem Plateau Beaubourg beauftragt. Hulten wirkte maßgeblich an der konzeptionellen Vorarbeit für das künftige Centre Pompidou mit – in enger Zusammenarbeit mit dem jungen Architektenteam Renzo Piano und Richard Rogers.
Mit der Eröffnung des Centre Pompidou im Jahr 1977 übernahm Hulten die Position des ersten Direktors des Musée national d’art moderne (MNAM) innerhalb des neuen Hauses. Dieses Amt hatte er bis 1981 inne, bevor er zur Mitbegründung des MOCA (Museum of Contemporary Art) in Los Angeles berufen wurde.
Während seiner gesamten Pariser Zeit – und auch darüber hinaus – setzte sich Pontus Hulten unermüdlich für das Werk seiner Künstlerfreunde Jean Tinguely und Niki de Saint Phalle ein. Er erweiterte die Sammlung um zahlreiche Werke der beiden – durch Ankäufe, staatliche Übertragungen und Schenkungen –, organisierte ihnen umfassende Retrospektiven und bot ihnen die Möglichkeit, mit carte blanche ein spektakuläres Projekt im Forum des Centre Pompidou zu realisieren.
Tinguely und Saint Phalle verkörperten für Hulten exemplarisch die Lebensnähe und Offenheit, die er für das Museum anstrebte. Seine Vorstellung einer kulturellen Institution für ein breites Publikum, in der sämtliche Kunstformen in spielerischer und produktiver Dynamik aufeinandertreffen, fand in den beiden Künstlern kongeniale Partner. Sie alle einte die Vision eines „Kunst für alle“, tief verwurzelt im Leben selbst.
Die Ausstellung „Rörelse i konsten“ [Die Bewegung in der Kunst], Moderna Museet, Stockholm, 1961
Das Thema der Bewegung in der Kunst faszinierte Pontus Hulten zeitlebens und wurde zu einem Leitmotiv seiner kuratorischen Arbeit. Sein Ziel war es, eine Geschichte dieser künstlerischen Dimension zu schreiben – ein Vorhaben, das 1961 in einer richtungsweisenden Ausstellung im Moderna Museet in Stockholm erstmals Gestalt annahm.
Die erste Station dieses ambitionierten Projekts war jedoch das Stedelijk Museum in Amsterdam, eines der führenden europäischen Museen für moderne und zeitgenössische Kunst. Dessen Direktor Willem Sandberg – eine große Inspirationsfigur für Hulten – entwickelte die Ausstellung gemeinsam mit Hulten, dem Künstler Daniel Spoerri, Jean Tinguely sowie dem Ingenieur Billy Klüver.
Im Moderna Museet wurde die Ausstellung in erweiterter Form präsentiert und reiste im selben Jahr weiter an das Louisiana Museum of Modern Art im dänischen Humlebæk. Jean Tinguely war mit etwa dreißig Werken in besonders hohem Maße vertreten, was seine zentrale Rolle im Kontext der künstlerischen Auseinandersetzung mit Bewegung unterstrich.
Niki de Saint Phalle, die mit lediglich zwei Arbeiten in der Ausstellung vertreten war, setzte ein starkes Zeichen mit ihrer performativen Praxis: Bei jeder Station führte sie ihre radikal neuen „Tirs“ auf – Schießperformances, bei denen Farbe durch gezielte Schüsse freigesetzt wurde. Auf diese Weise erhielt ihre Kunst trotz geringer Objektpräsenz im Ausstellungskontext eine zentrale Sichtbarkeit.
Diese Ausstellung, die aus der engen Zusammenarbeit von Kuratoren, Künstlern und einem Ingenieur hervorging, markiert einen entscheidenden Moment in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sie führte das Publikum an die Schwelle zu einem erweiterten Kunstbegriff – dynamisch, interdisziplinär und partizipativ.
HON – Eine Kathedrale im Moderna Museet, Stockholm, 1966
Die Ausstellung „HON – en katedral“, die vom 4. Juni bis 4. September 1966 im Moderna Museet in Stockholm gezeigt wurde, zählt zweifellos zu den spektakulärsten und international meistdiskutierten Projekten des Hauses. Ihr radikales Konzept und die spielerische Provokation machten sie zu einem Meilenstein der Kunst des 20. Jahrhunderts.
Pontus Hulten hatte Niki de Saint Phalle, Jean Tinguely und den schwedischen Künstler Per Olof Ultvedt eingeladen, gemeinsam ein groß angelegtes Werk für das Museum zu realisieren. Als sie im April 1966 in Stockholm zusammentrafen, verfügten sie noch über keine konkrete Idee. Schließlich einigten sie sich darauf, eine monumentale Nana zu erschaffen – eine fruchtbare, schwangere Frauenfigur im Geist jener Werke, die Saint Phalle seit dem Vorjahr entwickelt hatte.
Innerhalb weniger Wochen entstand mit Unterstützung von Pontus Hulten, der selbst zum Pinsel griff, eine begehbare Skulptur von monumentalen Ausmaßen. Der Zugang erfolgte symbolträchtig durch die Vagina der Figur. Im Inneren offenbarte sich den Besucher:innen eine multisensorische Erlebniswelt: echte Skulpturen und „gefälschte“ moderne Meisterwerke, ein Mini-Kino, ein Getränkeautomat, eine Rutschbahn, ein Goldfischbecken, eine Telefonzelle und eine „Liebesbank“ – eine veritable Kunst-Installation als utopischer Erlebnisraum.
Die Skulptur wurde, wie von Beginn an geplant, nach Ausstellungsende zerstört. Übrig blieben lediglich einige Fragmente – darunter der Kopf und ein Stück der Außenhülle – sowie vereinzelte Reste der bemalten Oberfläche. Diese Überbleibsel sind heute wichtige Zeugnisse eines der bedeutendsten experimentellen Ausstellungsprojekte der Nachkriegszeit.
Le Cyclop – Der Klang des Monsters in Milly-la-Forêt, 1969–1994
Ende der 1960er Jahre plante Jean Tinguely gemeinsam mit Niki de Saint Phalle und dem Schweizer Künstler Bernhard Luginbühl das geheime Vorhaben, im Herzen eines Waldes einen monumentalen Kopf – ein „Ungeheuer“ – zu errichten. Der gewählte Standort in Milly-la-Forêt (Département Essonne) liegt unweit jenes Dorfes, in dem Tinguely und Saint Phalle lebten, seitdem sie 1963 aus der Pariser Impasse Ronsin weggezogen waren.
Die Umsetzung dieser gigantischen Skulptur aus Altmetall und Fundstücken, die später den Namen Le Cyclop erhielt, erstreckte sich über 25 Jahre. Tinguely koordinierte die Bauarbeiten mit der Unterstützung zahlreicher Mitwirkender und lud befreundete Künstler:innen ein, eigene Werke in die architekturartige Skulptur zu integrieren.
In den 1980er Jahren wurde das noch unvollendete Werk mehrfach Opfer von Vandalismus. 1987 übereigneten die Künstler das Projekt dem französischen Staat. Nach dem Tod Tinguelys führte Niki de Saint Phalle den Bau gemäß seinen Anweisungen fort – unterstützt von Pontus Hulten, der als erster Vorsitzender der eigens gegründeten Association Le Cyclop deren Weiterbestehen und Vermittlung des Kunstwerks sicherstellte. Die Eröffnung für das Publikum erfolgt 1994. Heute ist Le Cyclop im Inventars des französischen Centre national des arts plastiques (Cnap) gelistet.
Cyclop – Eine klangliche Erkundung (2025)
Im Rahmen der Ausstellung „Niki de Saint Phalle, Jean Tinguely, Pontus Hulten“ wurde 2025 eine klangkünstlerische Erkundung des Cyclop entwickelt. Dank einer Kooperation zwischen dem IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique) und dem Cnap konnten sämtliche klangerzeugenden Mechanismen des Werkes systematisch erfasst und archiviert werden.
Aus rund 20 Stunden Audiomaterial – darunter das Knarren von Zahnrädern, das Klirren metallener Stäbe und das Poltern rollender Kugeln – entstand eine achtminütige akustische Fantasiereise durch das Innere des Monsters: eine immersive Komposition, die das Werk in seiner bewegten, lärmenden Lebendigkeit hörbar macht.
Der Crocrodrome de Zig & Puce im Centre Pompidou, Paris, 1977
Pontus Hulten konzipierte das Centre Pompidou als einen Ort des Lebens und der Freude – ein Kulturraum, der sich explizit an ein breites Publikum richtete. Im Jahr 1977, dem Jahr der Eröffnung des Gebäudes, lud er Jean Tinguely, Niki de Saint Phalle und Bernhard Luginbühl – gemeinsam mit weiteren Mitwirkenden – ein, im Forum ein spektakuläres und spielerisches Projekt zu realisieren.
Das Ergebnis war das Crocrodrome de Zig & Puce, ein kollektives Kunstwerk, das sich als gigantisches Monster von rund dreißig Metern Länge präsentierte. Es „belebte“ sich entlang seines Körpers: von dem von Saint Phalle entworfenen Maul über den von Tinguely gestalteten Rücken bis hin zu den Gedärmen, für die Luginbühl verantwortlich war. In seinem Bauch befand sich eine Geisterbahn; durch den gesamten Organismus verlief eine Bahn für metallene Kugeln. Hinzu kamen weitere Erlebnisräume sowie ein unabhängiges Projekt von Daniel Spoerri: das Musée sentimental und die Boutique aberrante, inspiriert von historischen Kuriositätenkabinetten.
Das Werk wurde öffentlich errichtet – das Publikum konnte die Entstehung über mehrere Wochen hinweg mitverfolgen – und ebenso sichtbar nach sieben Monaten frenetischer Aktivität wieder zerstört. Die Eröffnung fand Anfang Juni 1977 statt, die Schließung erfolgte noch im selben Jahr.
Pontus Hulten hatte damit sein Ziel erreicht: Er bot den Besucher:innen innerhalb der Museumsinstitution echte Momente der Unterhaltung, die zur aktiven Aneignung des Kunstwerks durch das Spiel einluden. Sein Ansatz bestand darin, das Publikum in seiner autonomen Handlungskraft zu bestärken – und es dadurch besser auf die Auseinandersetzung mit den Werken in den oberen Etagen des Gebäudes vorzubereiten.
Die Tinguely-Ausstellung im Centre Pompidou, Paris, 1988–1989
Pontus Hultens Unterstützung für Jean Tinguely ging bis in die 1950er Jahre zurück, als er für den Künstler eine erste Einzelausstellung in einer Galerie in Stockholm organisierte und gleichzeitig den ersten grundlegenden Fachartikel über dessen Werk veröffentlichte.
Sein bedeutendster Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Tinguelys Œuvre war jedoch zweifellos die Monografie von 1972, die er nach einem Jahr intensiver Zurückgezogenheit verfasste. Das Werk erschien anlässlich einer großen Ausstellung von Tinguely im Moderna Museet in Stockholm – eine Präsentation, die zuvor unter anderem im Centre national d’art contemporain in Paris zu sehen gewesen war.
1988, sieben Jahre nach seinem offiziellen Ausscheiden aus dem Centre Pompidou, wurde Hulten erneut als Berater der Museumsleitung hinzugezogen. In diesem Rahmen holte er die Tinguely-Retrospektive nach Paris, die er im Jahr zuvor als künstlerischer Leiter des Palazzo Grassi in Venedig konzipiert hatte. Die Monografie von 1972 diente als Grundlage für sämtliche Katalogversionen dieser Wanderausstellung, die über eine Station in Turin nach Paris kam. Für die Präsentation im Centre Pompidou schuf Tinguely eine neue Werkserie: Les Philosophes. Er entschied sich, diesen Arbeiten sowie anderen jüngeren Werken einen frei zugänglichen Raum direkt vor dem eigentlichen Ausstellungsbereich seiner Retrospektive zu widmen.
Mehrere zentrale Werke dieser Pariser Ausstellung wurden in der Folgezeit erneut gezeigt – so auch im Rahmen der hier thematisierten Zusammenstellung.
Die Niki de Saint Phalle-Ausstellung im Centre Pompidou, Paris, 1980
Nachdem Niki de Saint Phalle das Angebot von Pontus Hulten für eine Ausstellung im Centre national d’art contemporain – noch vor der Eröffnung des Centre Pompidou – abgelehnt hatte, akzeptierte sie schließlich 1980 den Vorschlag einer umfassenden Retrospektive im neu eröffneten Kulturzentrum in Paris. Für diese Schau, die für eine weitreichende internationale Wanderschaft vorgesehen war, wählte die Künstlerin Werke aus all ihren Schaffensphasen und Serien. Die Präsentation folgte dabei keiner streng chronologischen Ordnung, sondern orientierte sich an inhaltlichen und formalen Bezügen. Ein besonderes Augenmerk lag auf dem architektonischen und monumentalen Charakter vieler ihrer Projekte – sowohl abgeschlossene als auch im Entstehen begriffene Arbeiten wurden durch Fotografien, Zeichnungen und Modelle dokumentiert.
Das Plakat der Ausstellung zeigte eine farbenfrohe Zeichnung einer Frau in Strapsen – eine kompromisslose Feier der Weiblichkeit. Diese direkte Bildsprache korrespondierte mit zahlreichen ausgestellten Skulpturen sowie den Tableaux-Tirs, auf denen herabfließende Farbe eine rohe, fast gewaltsame Geste visualisierte, die traditionell mit Männlichkeit assoziiert wurde. Die Ausstellung verstörte – oder besser: Sie forderte ein aufgeschlossenes Publikum heraus, dessen Denkweise sich gerade durch Kunst an einem solch innovativen Ort wie dem Centre Pompidou verändern konnte. Dieser Ort, geprägt von High-Tech-Ästhetik, Farbe und Modularität, bildete den idealen Rahmen für eine Künstlerin wie Niki de Saint Phalle, deren Werk soziale und kulturelle Normen provokativ infrage stellte. Mehrere ikonische Arbeiten dieser Retrospektive von 1980 wurden in der Folge wieder gezeigt – auch im Kontext dieser heutigen Ausstellung.
Ein Vermächtnis in Bewegung: Abschied, Erbe und künstlerische Kontinuität
Jean Tinguely verstarb im Jahr 1991. Seine spektakuläre Trauerfeier, die in seiner Heimatstadt Freiburg stattfand, war von ihm selbst minutiös inszeniert worden. Niki de Saint Phalle erwies ihm posthum die Ehre mit einer neuen Werkreihe, den Tableaux éclatés, die Tinguelys Andenken in fragmentierten, expressiven Bildern weitertrugen. Als seine Ehefrau übernahm sie die Verantwortung für seinen künstlerischen Nachlass.
Der Briefwechsel zwischen Saint Phalle und Pontus Hulten zeigt, wie sehr sie sich in grundlegenden Entscheidungen auf ihn stützte – etwa bei der Gründung eines Tinguely-Museums, der Zukunft des Cyclop oder beim Abschluss ihres eigenen Lebenswerks, des Giardino dei Tarocchi in der Toskana (→ Niki de Saint Phalle: Tarot-Garten). Doch sie teilte mit ihm nicht nur künstlerische Anliegen, sondern auch alltägliche Sorgen und Freuden. 1992 organisierte Pontus Hulten, damals Direktor der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, eine bedeutende Wanderausstellung von Saint Phalle, die unter anderem auch im Musée d’Art moderne de la Ville de Paris gezeigt wurde.
Im Jahr 1993 zwang Saint Phalles gesundheitlicher Zustand sie dazu, erneut in die USA zu ziehen, wo sie aufgewachsen war. Sie entschied sich für Kalifornien, dessen Klima ihren Lungenproblemen zuträglicher war. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2002 blieb sie in engem Kontakt mit Hulten. Auch er verstarb wenige Jahre später (2006) – und bleibt als ein Museumsdirektor von außergewöhnlichem Format in Erinnerung, der sich zeitlebens unermüdlich für die Kunst und ihre Schöpfer eingesetzt hatte.
Sophie Duplaix zu Freundschaft, Komplizenschaft und politischer Vision
„Jean dégage une énergie électrique dès qu’il entre dans une pièce [...] mon copain de travail, mon amour, mais aussi mon rival. [Jean strahlt eine elektrische Energie aus, sobald er einen Raum betritt [...] mein Arbeitskollege, meine Liebe, aber auch mein Rivale.]“ (Niki de Saint Phalle)
Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die besondere Beziehung zwischen den drei Protagonist:innen. Für die Kuratorin der Schau, Sophie Duplais, ist es eine „amitié fertile“, eine fruchtbare Freundschaft, getragen von Kreativität und Gefühlen, die viele der radikalsten Kunstprojekte überhaupt erst ermöglichte. Die Liebe zwischen Saint Phalle und Tinguely war nicht nur romantisch, sondern auch künstlerisch ein permanenter Austausch zwischen Bewunderung und Wettbewerb. So schrieb Saint Phalle:
„Jean ist mein Freund, meine Liebe – aber auch mein Rivale.“
Tinguely wiederum war es, der die Künstlerin in frühen Jahren mit den Worten ermutigte:
„Der Traum ist alles, die Technik ist nichts – die lernt man.“
Er konstruierte die Statik ihrer Visionen, während sie seine wilde Maschinenkunst mit Farben und Bedeutungen auflud. Ihr gemeinsamer Paradis fantastique von 1967 ist ein Beispiel für diese symbiotische Zusammenarbeit.
Pontus Hulten hingegen nahm eine fast alchemistische Rolle ein. Als Museumsdirektor mit künstlerischem Hintergrund begleitete er sein Künstlerpaar nicht nur organisatorisch, sondern wirkte auch praktisch an der Entstehung vieler Werke mit – oft im wahrsten Sinne des Wortes mit Farbe an den Händen. Seine Haltung: nichts aufzwingen, alles ermöglichen.
Hultens Fähigkeit zur intimen Nähe zu Künstler:innen wird besonders im reichen Briefwechsel deutlich, der in der Ausstellung teilweise erstmals gezeigt wird. Gleichzeitig war er kein Träumer – im Fall des Paradis fantastique verknüpfte er seinen logistischen Einsatz klar mit musealen Bedingungen: Nur wenn die Arbeit dauerhaft an das Moderna Museet übergeben würde, helfe er bei der Rückführung aus Kanada – ein Deal, den Saint Phalle und Tinguely schließlich eingingen.
Ihre gemeinsame Haltung ist heute aktueller denn je: ein „anarchisme joyeux“, eine freudvolle Infragestellung von Autorität, Technikglauben und kunsthistorischen Dogmen. Saint Phalles feministische Nanas, Tinguelys „nutzlose Maschinen“ und Hultens institutionskritische Ausstellungen manifestieren eine Utopie: Kunst soll befreien, nicht belehren. Kunst soll nicht abgeschlossen, sondern offen und begehbar sein – im Wortsinn.
„Niki de Saint Phalle, Jean Tinguely und Pontus Hulten“ ist eine Ausstellung zur rechten Zeit
Im Vorfeld der vorübergehenden Schließung des Centre Pompidou ist diese Ausstellung ein zukunftsweisender Rückblick. Der Gedanke, dass das Museum ein Ort des Spiels, des Diskurses und der Teilhabe sein muss, geht auf Hultens visionäres Konzept eines transdisziplinären, lebendigen Kulturzentrums zurück. Seine kuratorischen Prinzipien – Dynamik, Interaktivität und Partizipation – könnten auch die kommenden Jahre prägen.
Fazit: Diese Ausstellung ist kein historischer Rpckblick. Sie ist ein Plädoyer für ein anderes Museum. Für eine Kunst, die träumt, fordert, provoziert. Und für ein Publikum, das sich auf dieses Abenteuer einlässt.





