Paris Noir 1: „Paris wird schwarz – Eine andere Geschichte der Moderne“

Gerard Sekoto, Selbstporträt, 1947 (The Kilbourn Collection - © Estate of Gerard Sekoto/Adagp, Paris, 2025 - Photo © Jacopo Salvi)
Zur Ausstellung „Paris Noir“ veröffentlicht das Centre Pompidou einen 14-teiligen Podcast, der die Ziele der Schau und das kulturelle Klima gut aufschlüsselt. ARTinWORDS bietet eine Nachlese und ordnet das Gesagte ein. Viel Spaß beim Neuentdecken der Pariser Kunst der Nachkriegszeit, die von Künstler:innen afrikanischer, afroamerikanischer und karibischer Herkunft geschaffen wurde!
Kuratorin Alicia Knock über „Paris Noir“
„Wir erzählen hier eine andere Geschichte“, sagt Alicia Knock, Kuratorin der bahnbrechenden Ausstellung „Paris Noir. Circulations artistiques et luttes anticoloniales. 1950–2000“. Und sie meint das im wörtlichen Sinn: Nicht die gewohnte Erzählung, in der Künstler:innen nach dem Zweiten Weltkrieg Paris den Rücken kehren, um in New York das neue Zentrum der Kunst zu suchen. Sondern eine Geschichte, die bisher im Schatten stand – eine Schwarze Geschichte der Moderne, geschrieben von Künstler:innen afrikanischer, afroamerikanischer und karibischer Herkunft, die Paris zu ihrem politischen und ästhetischen Resonanzraum machten.
Paris als „relationelles Feld“
Alicia Knock beschreibt Paris in dieser Zeit als ein „relationelles Feld“, als Treffpunkt, Denkraum und künstlerisches Labor. Es ist ein Paris der Gegensätze und der Bewegung, durchzogen von transatlantischen Strömen: Paris – Fort-de‑France, Paris – Dakar, Paris – Johannesburg, Paris – Port‑au‑Prince… und ja, auch Paris – New York, aber mit anderer Blickrichtung, anderer Energie.
Paris als Black Atlantic-Knotenpunkt
Zwischen 1950 und 2000 wurde Paris zu einem Brennpunkt Schwarzer Emanzipation, künstlerischer Umbrüche und antikolonialer Theorie. Hier wurde das Verhältnis zwischen Kunst und Politik neu ausgehandelt – radikal, vielfältig und weltumspannend.
Die Ausstellung „Paris Noir“ beleuchtet 150 afro-diasporische Künstler:innen, deren Werke ausdrucksstarke Zeugnisse dieses Pariser Jahrzehnte umfassenden Aufbruchs sind. Sie kamen aus Afrika, der Karibik, aus Nord- und Südamerika. Viele von ihnen verbanden sich mit sozialen Kämpfen, nahmen an antikolonialen Bewegungen teil oder formulierten durch ihre Kunst alternative Visionen von Moderne, Selbstbestimmung und Erinnerung.
„Wir wollten nicht nur eine historische Ausstellung zeigen“, so Knock, „sondern die heutige Welt erklären helfen – durch das Prisma der Geschichten, Stimmen und Werke, die in der Vergangenheit zu oft marginalisiert oder unsichtbar gemacht wurden.“
Stadt der Schulen, Galerien – und des Widerstands
Für Alicia Knock ist das Paris Noir mehr als nur ein geografischer Ort: Es ist ein geistiger und kultureller Raum. Die Ausstellung lädt dazu ein, die Stadt neu zu sehen – durch die Augen derer, die sie zu ihrem künstlerischen und politischen Zuhause machten. Sie erschließt neue Fixpunkte auf der Karte: die Buchhandlung „Présence Africaine“, Cafés als Foren des Austauschs, Jazzclubs als Orte der Energie und Freiheit, unabhängige Galerien und Ateliers, die zu Inseln Schwarzer Sichtbarkeit wurden. Denn: Der Verlag organisierte den ersten Kongress schwarzer Schriftsteller und Künstler und zog Persönlichkeiten wie James Baldwin, Édouard Glissant und die Intellektuellen der Négritude-Bewegung an. Eine Ikonografie der Négritude entstand durch Künstler, die sich auf dieser Plattform trafen, darunter der Brasilianer Wilson Tibério und der Südafrikaner Gérard Sekoto, der seine Erfahrungen in der Zeitschrift „Présence Africaine“ teilte.
„Diese Orte haben nicht nur Kunst hervorgebracht, sondern Gemeinschaft, Zugehörigkeit und vor allem: Widerstand."
Was meint Alicia Knock mit „relationellem Feld“?
In ihrem Konzept beschreibt Alicia Knock Paris nicht als isolierten Schauplatz, sondern als ein „relationelles Feld“ – ein Netzwerk aus Menschen, Orten, Bewegungen und Ideen, das erst durch seine Wechselwirkungen Sinn gewinnt. Der Begriff stammt aus den Kultur- und Sozialwissenschaften (z. B. bei Pierre Bourdieu) und bezeichnet einen Raum, in dem Kräfte, Beziehungen und Perspektiven zueinander in Spannung stehen und sich gegenseitig gestalten .
In einem relationellen Feld existieren Macht, Zugang und Identität nicht statisch, sondern entfalten sich durch Interaktion:
- Zwischen Individuen und Gruppen: Künstler:innen afrikanischer, afroamerikanischer und karibischer Herkunft treffen in Paris aufeinander – sie diskutieren, kollaborieren, legen Narrative fest und öffnen Räume gegenseitiger Anerkennung.
- Zwischen Orten und Ideen: Buchhandlungen, Cafés, Ateliers und Jazzclubs sind keine bloßen Kulissen, sondern aktive Orte des Austauschs. Sie werden zu Kraftzentren, an denen künstlerische Perspektiven ausgehandelt und antikoloniale Diskurse entfaltet werden.
- Zwischen historischen Kontexten und Gegenwart: Paris war kein isolierter Hort, sondern verwoben mit Fort-de-France, Dakar, New York & Co. – ein Knotenpunkt im transatlantischen Netzwerk der Schwarzen Diaspora.
Was war die Négritude-Bewegung?
Die Négritude-Bewegung war eine literarische, kulturelle und politische Bewegung, die in den 1930er Jahren in frankophonen Kreisen entstand. Sie war eine Reaktion auf die als erniedrigend empfundene Kolonisation und das vorherrschende westliche Weltbild, welches Afrika und seine Kultur abwertete.
Der Internationale Kongress Schwarzer Künstler und Schriftsteller (1956)
Der Kongress im September 1956 an der Sorbonne markierte einen Wendepunkt. Vor dem Hintergrund der bevorstehenden Dekolonisierung ergriff Alioune Diop, der Gründer von „Présence Africaine“, die Initiative zu diesem Kongress. Er lud die wichtigsten Persönlichkeiten zu einem Treffen an die Sorbonne ein, um über die Zukunft zu diskutieren. Es nahmen Persönlichkeiten verschiedenster Art teil, darunter Richard Wright, der den Auftakt gab. Aber auch Aimé Césaire, Léopold Sédar Senghor, Léon-Gontran Damas, Frantz Fanon, Abdoulaye Wade und Cheikh Anta Diop waren dabei – viele der bekanntesten Stimmen der schwarzen Welt. Einer der Teilnehmer war der amerikanische Schriftsteller und Journalist James Baldwin.
Ein anderes Paris, das bleibt
„Paris Noir ist nicht Vergangenheit“, so Knock, „es ist eine andere Zukunft der Kunstgeschichte, die wir sichtbar machen.“ Die Ausstellung ist somit keine bloße Rückschau, sondern ein Aufruf: zur Anerkennung, zur Umdeutung, zur Öffnung unserer Perspektiven auf das, was Moderne war – und immer noch sein kann.
Denn Kunstgeschichte war nie neutral. Und Paris Noir beweist, dass es höchste Zeit ist, das narrative Zentrum neu zu justieren – aus der Sicht derer, die lange genug am Rand gehalten wurden.
Warum ist das wichtig?
Alice Knock lädt uns ein, Modernität als kollektiven Prozess zu denken, der nicht monologisch von Paris ausging, sondern relational: erst durch Verbindungen, Durchbrechungen, Zusammenarbeit. Ein relationelles Feld ist dynamisch und beweglich – es entsteht in der Interaktion, im Austausch und in der Überschreitung von Grenzen.
Alle Folgen
- Kapitel 2: Paris Noir 2: Eine Buchhandlung verändert die Welt – Présence Africaine und der Aufbruch der Négritude
- Kapitel 3: Paris Noir 3: Poetische Weiten – Édouard Glissants Atlantik und das Tout-Monde
- Kapitel 4: Paris Noir 4: Totems, Träume und Tropen – Afro-atlantischer Surrealismus in Paris
- Kapitel 5: Paris Noir 5: Ein Sprung ins Abstrakte – Licht, Jazz und Collagen
- Kapitel 6: Paris Noir 6: Revolutionäre Allianzen – Paris und die Welt in Bewegung
- Kapitel 7: Paris Noir 7: Basslines der Befreiung – Schwarze Musik als Pariser Soundtrack
Für alle Francophile geht es hier zum Podcast, Teil 1 → Pan-African Paris