Paris Noir 5: Ein Sprung ins Abstrakte – Licht, Jazz und Collagen

Luce Turnier, Cabane de chantier, um 1970 (Jézabel Turnier-Traube Collection. Foto © Janeth Rodriguez-Garcia&Centre Pompidou © Luce Turnier)
Zur Ausstellung „Paris Noir“ veröffentlicht das Centre Pompidou einen 14-teiligen Podcast, der die Inahlte und Ziele der Schau sowie das kulturelle Klima gut aufschlüsselt.
ARTinWORDS bietet eine Nachlese und ordnet das Gesagte ein. Viel Spaß beim Neuentdecken der Pariser Kunst der Nachkriegszeit, die von Künstler:innen afrikanischer, afroamerikanischer und karibischer Herkunft geschaffen wurde!
Ein Sprung ins Abstrakte
In den späten 1950er und 1960er Jahren formierte sich in Paris eine neue Sprache der Abstraktion (→ Abstrakte Kunst) – und afro-diasporische Künstler:innen prägten diese entscheidend mit. Inspiriert von internationalen Strömungen, entwickelten sie eine eigene, oft zutiefst emotionale Ästhetik zwischen Farbe, Geste, Klang und Erinnerung.
Formen des Ausdrucks – zwischen New York und Paris
Der amerikanische Maler Ed Clark, beeinflusst von Nicolas de Staël, schuf großformatige Werke, die sorgfältig konstruiert, aber zugleich von expressiver Energie durchzogen sind. Für Clark wie auch für Beauford Delaney war Licht kein bloßes Motiv – es war Medium der Erlösung. James Baldwin, mit Delaney eng verbunden, beschrieb dieses Licht als das „errettende Prinzip“ in Delaneys Werk.
Andere wie Sam Middleton, ein afroamerikanischer Maler, verbanden ihre Bildsprache mit Jazz: Gestische Abstraktion wurde zur visuellen Improvisation – in vibrierenden, rhythmischen Pinselzügen.
Assemblage und Skulptur: Hunt, Cousins, Turnier
Auch in der dreidimensionalen Kunst zeigte sich diese Bewegung. Die amerikanischen Bildhauer Richard Hunt und Harold Cousins arbeiteten mit einer Assemblage-Technik, die industrielle Materialien, organische Formen und abstrakte Kompositionen verschränkte.
Doch eine der faszinierendsten Stimmen dieser Bewegung war die haitianische Pionierin Luce Turnier – Haitis erste professionelle Malerin. Ihre abstrakten Collagen entstanden in einem Vorort von Paris, in einem alten Taubenschlag am Ende eines Gartens. Turniers Werk steht für eine selten gewürdigte Perspektive: eine Schwarze Frau, die in der westlichen Kunstmetropole ihre eigene abstrakte Sprache formte – jenseits von männlich dominierten Schulen und fern der karibischen Erwartungen an folkloristische Motive. Ihre Tochter erinnert sich:
„Sie [Luce Turnier, Anm. AM] ging ganz auf in dieser Arbeit. „Frankreich hat ihr die Möglichkeit gegeben, loszulassen. Und sie hat es gewagt.“ (Jezabel Traube)
Neue Stimmen der 1980er – Monumente, Erinnerung und Materialität
In den 1980er Jahren setzen afroamerikanische Künstlerinnen in Paris neue Maßstäbe der Abstraktion. Die multidisziplinäre Künstlerin Mildred Thompson entwickelt in der französischen Hauptstadt ihre Serie „Rebirth of Light“, eine abstrakte Reflexion über kosmische Ordnung und spirituelle Erfahrung. Auch Mary Lovelace O’Neal schafft in dieser Phase monumentale Werke, darunter ein kraftvolles Selbstporträt, das Abstraktion, Figuration und feministische Kritik vereint. O’Neal, die in Mississippi geboren wurde und zeitweise in Paris lebte, setzte sich in ihrer Kunst mit der Erfahrung Schwarzer Frauen in den USA auseinander. Ihre Arbeiten sind oft politisch aufgeladen, großformatig und von kräftigen Farben geprägt. Mit Serien wie "Panthers in My Father's Palace" thematisierte sie die Verbindung von persönlicher Geschichte, Black Power und malerischer Geste. In Paris fand sie nicht nur künstlerische Resonanz, sondern auch Freiraum für radikale Experimente, jenseits der Erwartungen des amerikanischen Markts.
Auch karibische Künstler:innen finden in der Abstraktion ein Mittel, um Themen wie Exil, Erinnerung und den Grenzbereich zwischen Materiellem und Immateriellem zu erforschen – oft in radikal reduzierter, schwarz-weißer Formsprache.
Skulpturen von Frantz Absalon
Frantz Absalon, ein Bildhauer haitianischer Herkunft, erzählt, wie er Anfang der 1990er Jahre zur Kunst fand – nach einem Studium der Ingenieurwissenschaften und dem Rückzug aus der Erwerbsarbeit. Eine schwere Ischialgie führte ihn zur Bildhauerei:
„Ich war damals oft auf der Straße, wo gebaut wurde – dort lagen Bretter. Ich fing an, sie zu sammeln.“
Er begann, das Holz zu bearbeiten – konkav auszuhöhlen, zu wachsen, mit schwarzer Tinte zu überziehen. Durch den Auftrag von Tusche unter dunkles Wachs gewann das Material eine Tiefe, die er als „nicht ganz schwarz, aber doch voll Präsenz“ beschreibt. Die vertikale Struktur vieler Skulpturen erinnert an menschliche Körper, an Bäume, an die Würde derer, die aus der Geschichte verdrängt wurden.
„Menschen stammen aus dem Wald, nicht aus den Städten“, so Absalon. Seine Skulpturen sind stille Totems einer Erinnerung, die sich ins Material einbrennt – roh, aufrecht, gegenwärtig.
Wer war Luce Turnier?
Jezabel Traube, ihre Tochter, erinnert sich: Luce Turnier (24.2.1924-1994) kam 1951 nach Paris, nachdem sie ein Stipendium der Rockefeller Foundation erhalten und eine Zwischenstation in New York eingelegt hatte. Sie schrieb sich an der renommierten Académie de la Grande Chaumière ein. Dort lernte sie ihren späteren Ehemann, den italienischen Maler Eugenio Carpi de Resmini, kennen und gründete eine Familie – im Exil und unter dem Schutz vor dem haitianischen Diktator François „Papa Doc“ Duvalier, vor dem sie 1960 innerhalb von 36 Stunden fliehen musste.
In Paris, ohne Besitz und unter prekären Bedingungen, arbeitete sie zunächst als Hilfskraft am CNRS. Doch aus dem Abfall der dortigen Vervielfältigungsmaschinen schöpfte sie künstlerische Energie. Die fehlerhaften, tintenverschmierten Durchschläge wurden ihr Material. Mit Schere, Stecknadeln und Pinnwand formte sie ein einzigartiges, poetisches Vokabular aus Farbflecken und grafischen Fragmenten. „Sie war fasziniert von den Kopierfehlern“, so ihre Tochter. „Darin sah sie Formen, Kompositionen, Zufälle, die sie nur noch freilegen musste.“ Luce Turnier verwandelte industrielle Reststoffe in abstrakte Dichtungen. Jede Collage war ein Unikat, geprägt von Spuren, Farbschwüngen, durchstoßen von Stecknadeln, genährt von Erinnerung, Exil und Experiment. In den 1950er und 1960er Jahren malte Turnier u.a. abstrakte Marktszenen und Kompositionen, die Menschen und die komplexe Verbindung von Geschlecht, Klasse und Kolorismus in Haiti darstellen.
Alle Folgen
- Kapitel1: Paris Noir 1: „Paris wird schwarz – Eine andere Geschichte der Moderne“
- Kapitel 2: Paris Noir 2: Eine Buchhandlung verändert die Welt – Présence Africaine und der Aufbruch der Négritude
- Kapitel 3: Paris Noir 3: Poetische Weiten – Édouard Glissants Atlantik und das Tout-Monde
- Kapitel 4: Paris Noir 4: Totems, Träume und Tropen – Afro-atlantischer Surrealismus in Paris
- Paris Noir 5: Ein Sprung ins Abstrakte – Licht, Jazz und Collagen
- Kapitel 6: Paris Noir 6: Revolutionäre Allianzen – Paris und die Welt in Bewegung
- Kapitel 7: Paris Noir 7: Basslines der Befreiung – Schwarze Musik als Pariser Soundtrack
Für alle Francophilen geht es hier zum Podcast, Teil 1 → Pan-African Paris