Das Künstlerduo Nicole Six (* 1971) und Paul Petritsch (* 1968) bereiste für sein letztes Projekt „Atlas“ (2009-2010) virtuell-konkret die Welt, indem es den Erdumfang von 40.000 km auf einer aufgelassenen Rennbahn in Spanien im Zeitraum von 81 Tagen abfuhr. Raum und Raumerfahrung, die Vermessung der Welt und ihre Dokumentation standen dabei im Zentrum ihres Interesses.
Österreich/ Wien: Secession
19.2. - 18.4.2010
Nicole Six & Paul Petritsch faszinierten nicht die Reise und die damit verbundenen Erlebnismöglichkeiten, auch nicht die Erfahrung des Eigenen in Abgrenzung zu einem Anderen. Ausgehend von dem Wissen um die Größe der Weltkugel und der Einteilung derselben in Zeitzonen, entwickelten sie ein Projekt am Nullmeridian, um die Welt nachzuzeichnen. Idealer Ort für die Umsetzung ihrer Idee schien ihnen eine aufgelassene Rennstrecke in Spanien, die direkt am Nullmeridian liegt und somit den Ausgangs- wie Endpunkt dieser virtuellen und doch faktischen Tour markiert. Dieser geografische „Beginn“ der Welt wurde erst 1884 auf der Internationalen Meridian-Konferenz in Washington festgelegt, was einer Festschreibung der Macht des britischen Empires gleichkam. Gleichzeitig erinnert die Dauer der ersten Phase des Projekts an Jules Vernes berühmten Roman „In 80 Tagen um die Welt“ (1873). Stand für den Romanhelden Phileas Fogg und dessen amerikanischem Vorbild George Francis Train die Schnelligkeit der Erdumrundung in Abhängigkeit von modernsten Fortbewegungsmitteln im Vordergrund, so ist für Nicole Six & Paul Petritsch die Körper-Raum-Erfahrung zentral. Gemeinsam verbrachten sie 81 Tage auf Mofas, klapperten Runde für Rund ab, fühlten sich in die Monotonie ihrer Handlung ein und spürten in tausendfacher Wiederholung dem Raum nach. Da sie sich gedanklich nach Osten bewegten, konnten sie auch die Zeitverschiebungen für sich nutzbar machen und „gewannen“ durch die Datumsgrenze sogar einen ganzen Tag. In einem „Index“ dokumentieren sie in Strichlisten die täglich absolvierten Rundenstände. 81 Fotos, die 24 Stunden belichtet wurden, zeigen Sonnenstände, Wetter und Atmosphäre – nur nicht die Künstler bei der Arbeit, denn die waren für die eingesetzte Technik „zu schnell“. An- und Abwesenheit, so zeigt sich in der folgenden Installation in der Secession, sind wichtige Momente für Nicole Six & Paul Petritsch.
In ihrer ersten großen Ausstellung in der Wiener Secession verschenken die beiden ein Foto der Serie, 20.000fach vervielfältigt und aufgetürmt. Nicole Six & Paul Petritsch sehen es als Symbol ihrer Reise und als Verdichtung der maximalen Ausdehnung der Welt. Der „Stapel“ wird im Laufe der Ausstellungsdauer hingegen immer kleiner werden und vielleicht sogar ganz verschwinden. Im Kontrast dazu steht „Klumpen“ für den kleinsten Raum, den ein menschlicher Körper benötigt. „Klumpen“ ist ein Abguss eines Hohlraumes in der Wand der Wiener Secession, in den sich die Künstlerin Nicole Six für 24 Stunden während der Ausstellungseröffnung begeben hat. Suchte sie in ihrer „Weltumrundung“ den maximalen Raum auf, und erspürte sie den Verlust der Dimensionen in der Weite, so steht die Wiener Versuchsanordnung in diametralem Gegensatz dazu. Die Künstlerin konfrontierte sich hier mit Erfahrungen von Enge, Dunkelheit und Einsamkeit. Gleichzeitig schrieb sie sich in die historisch bedeutende Architektur des Ausstellungsraumes körperlich ein, ihre unsichtbare Präsenz sollte die Phantasie der anwesenden Vernissagebesucher beflügeln. Gleichzeitig arbeitete Paul Petritsch – ein Künstlerduo definiere sich, so die beiden, über die gemeinsame (simultane) Arbeit an einem Projekt – weitere Runden in Spanien ab.
Nicole Six & Paul Petritsch operieren in „Atlas“ mit einem Hauptthema der Skulptur – dem menschlichen Körper, seinem Volumen, seiner Erfahrungsmöglichkeit. Ohne ihn in diesem Projekt je bildhaft darzustellen, markiert er den Ausgangspunkt jeder Überlegung des Projekts. Um dem Besucher der Wiener Secession ebenfalls eine markante Raumerfahrung zu ermöglichen, aktivieren Nicole Six & Paul Petritsch durch ihre minimalistisch anmutende Setzung von Stapel, Klumpen und Index die Leere der Ausstellungshalle. Die Hülle der Architektur, von Joseph Maria Olbrich 1897-98 revolutionär eingesetzt, empfinden sie wie eine Membran, die die plastischen Qualitäten des Raumes bestimmt. Als performativ, raumbezogen, installativ und doch eigentlich gänzlich ephemer könnte man den Skulpturbegriff von Nicole Six & Paul Petritsch beschreiben – verbunden mit einer konzeptuell-empirischen Methodik, mit Hilfe derer sie Raum und Körper neu beschreiben.
Nicole Six (geb. 1971 in Vöklabruck), Studium der Bildhauerei, Akademie der bildenden Kunst, Meisterklasse Bruno Gironcoli
Paul Petritsch (geb. 1968 in Friesach), Studium der Architektur, Hochschule für angewandte Kunst, Meisterklasse Hollein
Zusammenarbeit seit 1997, leben und arbeiten in Wien