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Winterthur | Fotomuseum Winterthur: Ai Weiwei – Interlacing Fotografien und Videos | 2011

Ai Weiwei, Study of Perspective. Tiananmen (Perspektivische Studie. Platz des himmlischen Friedens), 1995-2003 © Ai Weiwei

Ai Weiwei, Study of Perspective. Tiananmen (Perspektivische Studie. Platz des himmlischen Friedens), 1995-2003 © Ai Weiwei

„Ai Weiwei – Interlacing“ ist die erste große Ausstellung mit Fotografien und Videos von Ai Weiwei. Sie stellt den Kommunikator Ai Weiwei in den Vordergrund, den dokumentierenden, analysierenden, verflechtenden und über viele Kanäle kommunizierenden Künstler. Ai Weiwei hat bereits in seiner New Yorker Zeit fotografiert, vor allem aber seit seiner Rückkehr nach Peking unablässig die alltäglichen, städtebaulichen und gesellschaftlichen Realitäten in China dokumentiert und über Blogs und Twitter diskutiert.

Die Fotografien des radikalen städtebaulichen Wandels, der Suche nach Erdbeben-Opfern, der Zerstörung seines Shanghai-Studios werden zusammen mit den kunstfotografischen Projekten, dem Documenta-Projekt „Fairytale“, den unzähligen Blog- und Handy-Fotografien vorgestellt. Ai Weiwei ist ein generalistischer, konzeptueller, gesellschaftskritischer Künstler, verschrieben der Reibung mit und der Gestaltung von Realitäten. Er ist als Architekt, Konzeptkünstler, Bildhauer, Fotograf, Blogger, Twitterer, Interviewkünstler und politischer Aktivist ein Seismograf für aktuelle Themen und gesellschaftliche Probleme: ein großer Multiplikator und Kommunikator, der das Leben zur Kunst und die Kunst zum Leben führt.

 

Vom Filmstudenten zum Konzeptkünstler

Ai Weiwei wurde 1957 als Sohn des Dichters Ai Qing geboren. Nach einem Studium an der Beijing Film Academy gründete er 1978 mit anderen zusammen das Künstlerkollektiv „The Stars“, das sich gegen den sozialistischen Realismus auflehnte und sich für die künstlerische Individualität und das Experimentelle in der Kunst einsetzte. 1981 ging Ai Weiwei in die USA, 1983 nach New York, wo er an der Parsons School of Design beim Maler Sean Scully studierte. In New York entdeckte er Künstler wie Allen Ginsberg, Jasper JohnsAndy Warhol und vor allem Marcel Duchamp. Duchamp ist wichtig für ihn, weil er Kunst als Teil des Lebens begreift. Es entstanden erste Readymades und Tausende von Fotografien, die seinen Aufenthalt und den seiner chinesischen Künstlerfreunde in New York dokumentieren.

Nachdem sein Vater erkrankte, kehrte Ai Weiwei 1993 nach Peking zurück. 1997 begründete er das China Art Archives & Warehouse (CAAW) mit und begann, sich auch mit Architektur auseinanderzusetzen. 1999 eröffnete Ai Weiwei ein eigenes Studio in Caochangdi, 2003 gründete er das Architekturstudio FAKE Design. Im selben Jahr war er zusammen mit den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron maßgeblich am Bau des Olympiastadions, des sogenannten Bird’s Nest, beteiligt, das nach seiner Fertigstellung zum neuen Wahrzeichen Pekings wurde. 2007 reisten 1001 Chinesen und Chinesinnen auf seine Veranlassung hin zur „Documenta 12“ nach Kassel („Fairytale“). 2010 verwunderte er die Welt mit seinem großen, aber formal minimal angelegten Teppich aus Millionen von Sonnenblumenkernen bestehend aus handbemaltem Porzellan in der Tate Modern.

Ai Weiwei setzt sich bewusst mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in China und in der Welt auseinander – mittels fotografischer Dokumentationen des architektonischen Kahlschlags von Peking im Zeichen des Fortschritts, mit provokativ erscheinenden Vermessungen der Welt, seinen persönlichen Standortbestimmungen in Study of Perspective, mit radikalen Schnitten an der Vergangenheit (Teilungen und Neuzusammenfügungen von vorgefundenen Möbelstücken), um für die Gegenwart und Zukunft Möglichkeiten zu schaffen, und mit seinen Zehntausenden von Blogtexten, Blog- und Handy-Fotografien (nebst vielen anderen künstlerischen Stellungnahmen).

 

Ai Weiwei in Winterthur

Dieses erste große Ausstellungs- und Buchprojekt seiner Fotografie- und Videoarbeiten will diese Vielfältigkeit, Vielschichtigkeit, Vernetztheit von Ai Weiwei, dieses „Interlacing“ und „Networking“ mit Hunderten seiner Fotografien, mit seinen Blogs und mit erläuternden Essays ins Zentrum rücken und thematisieren. Der Künstler als Netzwerk, als Firma, als Aktivist, als politische Stimme, als soziales Gefäß, als Agent provocateur: Jede Gesellschaft auf dieser Welt braucht zu jeder Zeit, in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, singuläre, herausragende Figuren wie Ai Weiwei, um wach zu bleiben, um wach gerüttelt zu werden, um den eigenen Starrsinn zu erkennen und um die eigene Betriebsblindheit vermeiden zu können.

Das Fotomuseum Winterthur bedauert, dass die Fertigstellung dieses Projektes mit der Verhaftung von Ai Weiwei zusammenfällt, die es aufs Äußerste missbilligt. Es ist in großer Sorge um den Künstler und wünscht, dass dieser wichtige Denker, Gestalter und Kämpfer uns allen, besonders aber China, als widerständige öffentliche Stimme erhalten bleibt. Die Ausstellung und das Buch wurden in enger Zusammenarbeit mit Ai Weiwei entwickelt. Bei der Fertigstellung des Buches hingegen war er aus den genannten Gründen nicht beteiligt.

Quelle: Fotomuseum Winterthur

 

Ai Weiwei. Interlacing: Katalog

Urs Stahel und Daniela Janser (Hg.)
mit Beiträgen von Carol Yinghua Lu, Daniela Janser, Urs Stahel und Philip Tinari
496 Seiten, ca. 600 Abbildungen, englisch/deutsch
Steidl 2011

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Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.