Gebetsgesang schwillt an. Mitten im sterilen White-Cube des mumok drängt sich plötzlich eine Wand in zartem Fliederviolett auf. Und mit ihr die Vision einer Nonne, die kniend die Bilder eines großen Dildos anfleht: „San Erectus Prega Per Noi“, „Hl. Erectus bete für uns“.
Österreich / Wien: mumok
6.5. – 3.9.2017
Ein Gebetsbuch auf dem Betstuhl füllt den Raum mit dem scheinbar frommen Gesang. Die sieben Leinwände an der Wand zeigen die schwarz-weiß Fotografie der Reliquie des Hl. Erectus, nach innen hin verblassend. Der Gegenstand der Verehrung ist ein glänzender Penis, umgeben von Perlenstickereien und Edelsteinen. Der Hl. Erectus soll der Betenden das geben, was ihr die Kirche vorenthält: die leiblichen Freuden und die Rechte der Frauen. Gerade der leise Spott in der Installation, die 1979 als Studio Performance entstand, macht den Protest gegen das Patriarchat sichtbar.1
„Ich konstatiere, dass sich das Patriarchat ein riesiges phallisches Waffenlager hält, um seinen Bestand zu sichern.“2 (Renate Bertlmann)
Diese Persiflage erinnert mitunter an VALIE EXPORT‘s „Aktionshose Genitalpanik“ (1969). In dem Foto stellte EXPORT ihr Genital in einer männlichen Pose zur Schau. Sie instrumentalisiert die maskuline Geste und beansprucht damit Selbstbestimmung über die eigene Sexualität. Bertlmann bedient sich ebenfalls der Zeichen der Geschlechter. Sie entblößt den Penis direkt als Zentrum des gesellschaftlichen Systems und dekonstruiert ihn metaphysisch.3 Die Arbeit beschreibt sie auch als spirituelle Versöhnung, wo der Phallus als Symbol der Gewalt verblasst und sich in den Eros als schöpferische Kraft verwandelt.4
Mit Phallus, Ironie und Kitsch bewaffnet arbeitet die österreichische Künstlerin Renate Bertlmann bereits seit über fünf Jahrzehnten subversiv an einer Rebellion in der männerdominierten Kunst. Ihr Werk umfasst Zeichnungen, Fotografien, Objekte, Installationen, Performances und Filme. Als Anerkennung für ihre wegweisende Arbeit erhält sie den Großen Österreichischen Staatspreis 2017.5 Einige Werke sind aktuell in der Ausstellung „WOMAN“ im mumok zu sehen (→ Feministische Avantgarde der 1970er Jahre aus der SAMMLUNG VERBUND).
Am 28. Februar 1943 wurde Renate Bertlmann in Wien geboren.6
1961–1963 Obwohl Bertlmann nach der Matura 1961 eigentlich Kunst studieren wollte, absolvierte sie auf Druck ihrer Mutter eine Hotelfachschule.
1963–1964 Bertlmann begann nach einem Aufenthalt in Oxford das Studium der Malerei an der Akademie der bildenden Künste Wien in der Klasse von Sergius Pauser. Ihr wurde bewusst, dass kaum Studentinnen und keine einzige weibliche Universitätsprofessur ihr Studium begleiten.
1966 Wechsel in die Meisterschule für Malerei von Rudolf Hausner, wo sie neben Maltechniken auch das Kopieren alter Meister erlernte.
1970 Nach dem Abschluss ihres Studiums mit Diplom der Konservierung und Technologie erlaubte ihr ein Lehrvertrag an der Akademie der bildenden Künste Wien die intensive künstlerische Tätigkeit im eigenen Atelier.
1972–1973 Von feministischer Literatur angeregt, begann sich Bertlmann zunächst Mitstreiterinnen zu suchen und engagierte sich in der Frauengruppe Aktion Unabhängiger Frauen (AUF).
1974 Bertlmann schloss ihr Malereistudium bei Wolfgang Hollegha an der Akademie der bildenden Künste in Wien ab. Sie begann sich mit Sexshops auseinanderzusetzen und entwickelte erste Rollstuhl-Objekte aus Plexiglas. Parallel zu ihrer Unterstützung der erstmals erschienenen Ausgabe von AUF – Eine Frauenzeitschrift gründete sie mit internationalen Künstlerinnen die Marebagroup, die in den folgenden drei Jahren Ausstellungen in Italien und Österreich mit dem Schwerpunkt Kunst von Frauen organisiert.
1975 Bertlmann nahm an der ersten österreichischen Ausstellung feministischer Künstlerinnen MAGNA. Feminismus: Kunst und Kreativität, kuratiert von VALIE EXPORT, teil. In dieser Zeit bis 1985 entstanden Protest-Objekte wie z. B. Messerbrüste von 1975, die auf die Unterdrückung von Frauen aufmerksam machen.
1976 Bertlmanns Werke wurden in einer Einzelausstellung in der Galerie Tommaseo in Triest gezeigt. Sie und Linda Christanell gründeten das BC-Kollektiv und arbeiteten bis 1978 zusammen.
1976–1985 Für neun Jahre lang beschäftigte sich Bertlmann mit Särgen und Grabobjekten.
1977 Bertlmann engagierte sich in der neu gegründeten Gruppe Internationale Aktionsgemeinschaft bildender Künstlerinnen (IntAkt) und arbeitete bei Projekten und Ausstellungen mit. Bei ihrem sechsmonatigen Aufenthalt in Russland knüpfte sie zunehmend internationale Kontakte. Einzelausstellung in Wien, Teilnahme an einem Performance-Festival in Bologna. In dieser Zeit fokussierte sich Renate Bertlmann auf geschlechtsspezifische Rollen wie in den inszenierten Fotografien „René ou René“.
1978 Renate Bertlmann prägte ihre neue Maxime AMO ERGO SUM, die sie in die Bereiche Pornografie, Ironie und Utopie unterteilt. Seit Ende der 70er-Jahre verwendete sie als Leitfaden für ihre künstlerische Arbeit. Ausstellungsbeteiligungen sowohl in Österreich, als auch in Deutschland, Italien und in der Schweiz. Ihre provokanten Performances und Objekte riefen immer wieder Empörung hervor.
1979–1981 Ausstellungen und Kontakte, u.a. zur Gruppe Women Against Pornography, führten sie nach Amsterdam und New York, wo sie auch an Performances durchführte.
1980 Z-Förderungspreis der Zentralsparkasse in Wien
1981 Mitgliedschaft bei der IMAG in Wien (Interministerielle Arbeitsgruppe zur Behandlung frauenspezifischer Angelegenheiten in Kunst und Kultur).
1982–1989 Nach Beendigung ihrer Lehrtätigkeit an der Akademie der bildenden Künste Wien arbeitete Bertlmann freischaffend. In diesen Jahren standen Feminismus, Kitsch und Kunst bei teils internationalen Ausstellungen und Performances in Österreich, Deutschland, Frankreich und der Schweiz im Vordergrund.
1989 Publikation des dreibändigen Buchs „AMO ERGO SUM“, Buchpräsentation bei einer Ausstellung in der Secession in Wien. Förderungspreis der Stadt Wien für Bildende Kunst.
1993 Zwei Einzelausstellungen in Wien, Mitglied der Secession in Wien
1994 tritt sie in den Herausgeberinnenkreis der [sic!] Forum für feministische Gangarten.
1995–2005 Bertlmann kuratierte zwei Ausstellungen, beschäftigte sich mit Fingermalerei und Stop Motion. Bei einem sechsmonatigen Auslandsstipendium in London beschäftigte sie sich erneut mit ihren Phallus-Objekten und Fotoserien. In der großen Einzelausstellung „Werkschau VII, Arbeiten 1976-2002“ in der Fotogalerie Wien zeigte sie die Bandbreite ihrer fotografischen Werke.
2007 Bertlmann präsentierte die Fotoserie „Alienfood“ präsentiert sie in einer Einzelausstellung in der Galerie Studio Tommaseo. Der Preis der Stadt Wien für Bildende Kunst wird ihr verliehen.
2008 Sowohl die SAMMLUNG VERBUND, unter der Leitung von Gabriele Schor, als auch die Kunstsammlung der Kulturabteilung der Stadt Wien (2004) erwerben Arbeiten aus den 1970er-Jahren.
2010 Die SAMMLUNG VERBUND nahm eine Werkgruppe von Renate Bertlmann in ihre Gruppenausstellung zur feministischen Avantgarde auf: Diese wurden in der Themenausstellung „DONNA: Avanguardia femminista negli anni `70“ zunächst in Rom und später in erweiterter Form in anderen europäischen Städten gezeigt.
2011 Die 40-teilige Fotoserie „Mo(u)ming“ entsteht.
2012 In der Secession in Wien präsentierte Bertlmann das DVD-Werkverzeichnis „AMO ERGO SUM, works 1972–2010“. Seitdem arbeitet die Künstlerin an der „Wildgans“-Fotoserie.
2014 Für die 10. Biennale von Gwangju reproduzierte Renate Bertlmann gemeinsam mit der Akademie der bildenden Künste Latexobjekte der „Streicheleinheiten“ für die großräumige Installation des „Waschtags“. In Krems werden bei der Ausstellung „Aktionistinnen“ im Forum Frohner Objekte ihrer Performances aus den 1970ern gezeigt.
2015 Teilnahme an der Ausstellung „RABENMÜTTER zwischen Kraft und Krise: Mütterbilder von 1900 bis heute“ (Lentos Kunstmuseum Linz → Mütterbilder von 1900 bis heute). Auch das Tate Modern in London zeigte ihre Objektserie „Exhibitionismus“ von 1973.
2016 Sowohl in der Retrospektive in der Vertikalen Galerie in Wien als auch im Buch „Renate Bertlmann. Works 1969–2016. Ein subversives Politprogramm“ rekonstruierte die SAMMLUNG VERBUND das bisherige Gesamtwerk der Künstlerin.
2017 In der umfassenden Ausstellung „WOMAN. FEMINISTISCHE AVANTGARDE DER 1970ER-JAHRE aus der SAMMLUNG VERBUND“ im mumok wird Bertlmann ein ganzer Raum gewidmet.