Im Jahr 2020 jährte sich der Todestag des Malers und Zeichners François Boucher (1703–1770) zum 250. Mal. Dieses wichtige Jubiläum nahm die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe zum Anlass, um unter dem Titel „François Boucher. Künstler des Rokoko“ einen neuen Blick auf den berühmten französischen Maler und Grafiker, der zwischen 1703 und 1770 lebte und wirkte, zu werfen (→ François Boucher: Biografie). Die Basis für diese Ausstellung bildet ein Sammlungsbestand von vier Gemälden, drei Zeichnungen, 15 Radierungen und 85 Reproduktionsgrafiken nach Boucher. Hauptkuratorin der Schau ist Frau Dr. Astrid Reuter, eine anerkannte Expertin für die französische Kunst des 18. Jahrhunderts.
Deutschland | Karlsruhe: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
14.11.2020 – 5.4.2021
verlängert bis 30.5.2021
In welcher Hinsicht kann man gegenwärtig einen neuen Zugang zum Phänomen Boucher bzw. zur Rokokokunst insgesamt finden? Dazu muss man sich zuvorderst mit der komplexen Rezeptionsgeschichte des Rokoko beschäftigen, die im Wesentlichen in einer Dekonstruktion jenes modernen Mythos, der hauptsächlich auf den Recherchen der Brüder Edmond und Jules Goncourt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts basiert, besteht, wonach das Rokoko bzw. das 18. Jahrhundert überhaupt als ein Jahrhundert der Frau anzusehen sei. Vor allem anhand der legendenumwobenen Figur der Madame Pompadour, ein berühmtes Motiv im Werk Bouchers, wurde das Rokoko vornehmlich als ein mundus muliebris, also als eine Epoche quasi-regressiven Lustempfindens, nachkonstruiert, die im Wesentlichen mit erotisierendem Müßiggang unter der Dominanz der Frau assoziiert wird. Charmant, anmutig, aber lasziv und verspielt – das wären demnach Hauptcharakteristika dieser Kunstepoche.
Die Karlsruher Ausstellung versucht hingegen Boucher nicht länger allein als Hofmaler Ludwigs XV. in das Zentrum zu stellen oder ihn ausschließlich als Personifikation und Gipfelpunkt des Rokoko zu identifizieren, sondern sein schöpferisches Profil in Richtung einer stärkeren Individualisierung zu schärfen – letztlich in die Richtung eines intelligenten und selbstbewussten Kunst- und Kulturstrategen. Seine Einzigartigkeit bzw. Modernität manifestiere sich in der außerordentlichen Fähigkeit zur malerischen Gegenwärtigsetzung äußerst kunstvoll in Szene gesetzter Stoffe und Oberflächen. Mithin wird nun in der Ausstellung in diesem Sensualismus auch eine neue Bedeutung des Naturvorbilds schlechthin erkannt – ein Phänomen, das man mit dem Rokoko und seinen scheinbar verweichlichten und zum Teil als schwülstig angesehenen mythologischen Galanterien kaum in Verbindung bringen würde.
Konkretisiert wird diese Sichtweise in der Karlsruher Schau durch die Präsentation der Muscheln, die sich dem Inventar zufolge einst als teure Kuriositäten in der Sammlung der Kunstkammer des Malers befanden. Die Muschel, die nicht zu Unrecht als motivisches Synonym für die dekorative Ausrichtung der Epoche des Rokoko überhaupt gilt, erlangt somit aufgrund dieser interessanten Kontextualisierung einen weiteren Bedeutungshorizont für diese Periode des 18. Jahrhunderts – diesmal unter dem Aspekt einer vertieften Auseinandersetzung mit der Natur, die kunsttheoretisch als Schöpferin schlechthin gilt. Vielleicht sind die quellenmäßig häufig nur schwer identifizierbaren Sujets der mythologischen Darstellungen und Metamorphosen einerseits und die überreichen Naturvorbilder auch dergestalt in neuartiger Weise miteinander verschränkt, dass bei Boucher nicht ikonografische Konkretisierungen im Zentrum stehen, sondern Mythos und Natur als neuartige (künstlerische) Synthesen unter dem Prätext einer Visualisierung der Fülle des Geschaffenen zu betrachten sind.
Ist dieser Aspekt der Thematisierung der Natur ein tragender Pfeiler in einer Neubewertung des französischen Malers, tritt dazu in der Ausstellung, gleichsam als eminenter Lokalbezug, eine weitere Sichtweise, die unmittelbar mit der Person der kunstsinnigen Markgräfin Karoline Luise von Baden (1723–1783) zu tun hat. Diese baute nämlich im Karlsruher Schloss ein Kunstkabinett auf, das als Basis der späteren Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe fungiert. Mittels eines weitreichenden Netzes von Kunstagenten war Karoline Luise imstande, immer mit den aktuellen Strömungen der europäischen Kulturzentren vertraut zu sein. In diesem Zusammenhang spielt auch Boucher eine besondere Rolle, bemühte sich doch die Markgräfin als einzige Sammlerin eines deutschen Fürstenhofes um einen persönlichen Kontakt zu Boucher sowie um den Erwerb seiner Werke. 1759 gab sie bei Boucher zwei Pastoralen in Auftrag.
Die Karlsruher Ausstellung liefert anhand einer Neubewertung des Phänomens Boucher sowohl einen wichtigen und innovativen Beitrag zur Erforschung der facettenreichen Periode der Rokokokunst überhaupt als auch einen weiteren Baustein für die reiche Geschichte des französisch-deutschen Kulturtransfers. Man versuchte im Rahmen der sehenswerten Schau zurecht, das Rokoko von Vorurteilen zu befreien und die Vielseitigkeit und Modernität im Œuvre und in der Person François Bouchers in den Mittelpunkt zu rücken.
Der reich bebilderte und sorgfältig gedruckte Katalog vermittelt mit facettenreichen Beiträgen deutscher und französischer Expert*innen Einblicke in die aktuelle Forschungslage. Die Gliederung der Werke erfolgt mit sinnstiftenden Infinitiven, wie zum Beispiel „Landschaft erfinden“ oder „Natur genießen“. Zudem werden die medienübergreifenden Aktivitäten Bouchers betont, dienten seine Kompositionen doch als Vorlagen für Bühnendekorationen, Tapisserien, Möbel und Porzellane. Somit stellt die ausstellungsbegleitende Publikation einen wichtigen Meilenstein der Boucher-Forschung dar.
Kuratiert von Dr. Astrid Reuter, sie wird von der wissenschaftlichen Volontärin Barbara Bauer M.A. unterstützt.