Johannes Itten (1888–1967), der Vorreiter der naturverbundenen Lebensweise, der Analytiker von Formen und Farben, der Bauhaus-Lehrer, der Schöpfer von abstrakten und expressiven Bildern, gelangte über Naturbeobachtung zu einigen seiner wichtigsten Werke. So weit, so bekannt. Doch das Kunstmuseum Thun zeigt im Sommer/Herbst 2020 erstmals die Bedeutung von Thunersee und umgebender Bergwelt für die Entwicklung von Ittens Überzeugungen, Konzepten und Werken. Wer hätte gedacht, dass es sich hierbei um die erste Ausstellung handelt, die Ittens intensive Beziehung zur Natur thematisiert.
Schweiz | Thun: Kunstmuseum Thun
8.8. – 22.11.2020
Johannes Itten wuchs in Thun im Berner Oberland auf und widmete sich der Landschaftsmalerei, bevor er 1914 nach Stuttgart an der dortigen Akademie das Studium bei Ida Kerkovius und Adolf Hölzel aufnahm. Die wenig bekannten frühen Landschaften sind stimmungsvolle Ansichten vom Thunersee, den ihn mächtig überragenden Niesen und den Wäldern der Umgebung. Da der Künstler alles vor 1907 Entstandene vernichtet hat, zeigen die frühesten erhaltenen Werke bereits einen gekonnten Mix aus Stilelementen des Postimpressionismus und des Jugendstils. Wie die Ausstellung im Kunstmuseum Thun belegt, wechseln die Naturimpressionen mit realistischen Familienporträts. Itten beschäftigte sich, so Helen Hirsch zusammenfassend im Katalogvorwort, mit dem Abstrahieren, Stilisierung und dem klaren Akzentuieren der Landschaftsstrukturen, wobei expressive Farbgebung, lebhaftes Licht und energischer Pinselduktus kennzeichnend für Ittens früheste Versuche im Feld der Malerei sind. Die wichtigsten Vorbilder des Mittzwanzigers waren Vincent van Gogh und natürlich Ferdinand Hodler, der den Thunersee in vielen Bilder im Sinne seines Parallelismus „verarbeitet“ hatte. Mit „Vorfrühling an der Rhone“ (Frühling 1911) kann das Museum Ittens erstes Großformat zeigen, das Itten auf der Weihnachtsausstellung des Kunstmuseum Bern ausstellte.
Die Jahre 1912 bis 1916 waren von größter Bedeutung für die Entwicklung Ittens, sowohl was das Selbststudium (1912: Salon des Indépendants, Paris; Impressionisten in Mannheim, Sonderbund-Ausstellung in Köln) als auch sein Studium in Stuttgart zwischen 1914 und 1916 anlangte. „Herbst am Bach“ und „Haus mit Treppe“, beide von 1912, aber auch „Häuser am Wasser (Thun)“ von 1914 lassen erkennen, dass der junge Künstler schnell Errungenschaften vom Spätimpressionismus bis zum Kubismus rezipierte. Die Motive aus Thun sind gekennzeichnet durch die kristalline Analyse und die nahezu organische Verbindung von Stadt und Natur. Über Vermittlung einer Studienkollegin zog Johannes Itten im September 1916 nach Wien, wo er bis zum Sommer 1918 blieb, Alma Mahler-Gropius und ihren Mann Walter Gropius kennenlernte, sich der zweiten Generation der Wiener Moderne (allen voran Joseph Matthias Hauer) anschloss und erstmals selbst lehrte.
Und doch war es wieder die Schweizer Heimat, in der Johannes Itten während eines Sommeraufenthalts in Sigriswil 1918 sein universelles lebensreformerisches Programm formulierte und Skizzen zu „Aufstieg und Ruhepunkt“ von 1919 machte. Obschon sich das Kunsthaus Zürich offenbar nicht von seiner Zimelie trennen konnte, zeigen Entwürfe im Sigriswiller Tagebuch, wie der Künstler auf Anregungen – zum Beispiel das Erlebnis der Johannisfeuer am 1. August, bei dem Feuer auf den Gipfeln der Berge entzündet werden – wie er zu Rad- und Kreisformen fand. Das Gemälde realisierte er, wie der Itten-Spezialist und Kurator der Ausstellung Christoph Wagner kenntnisreich analysiert, auf einer handgewebten Leinwand, die er als Dank für seine Hilfe beim Heuen in Sigriswill erhalten hatte. 1918/19 wandte sich Itten endgültig vom Naturstudium in Sinne eines Abbildens zugunsten einer intellektuellen und emotionalen Durchdringung der Natur ab: Umwelt und Mensch durch Gefühlregung und körperliche Bewegung miteinander verbunden, resultieren in einer Abstraktion, die Itten als Verbindung von reinen Form- und Farbgebilden definierte. Im Jahr 1919 zeigt sich das an schwarz-weißen Lithografien, die expressive Landschaften, Blumenmotive oder titellose Kompositionen zeigen
Ist die Bauhaus-Zeit von dieser kritisch-analytischen Beziehung zur Natur und vom Wunsch der „höchstmöglichen Entmaterialisierung der Einzeldinge“ geprägt, so wandte sich Itten in Herrliberg erneut dem Naturstudium, in Berlin der Auseinandersetzung mit der fernöstlichen Naturauffassung und in seinem Schweizer Spätwerk erneut dem Erleben der Bergwelt zu. Der intellektuellen Durchdringungen der Landschaft folgt in den späten 1920ern die meditative, körpermotorische Einfühlung in die Naturform, wie Ines Rödl im Katalog darlegt. Charakteristisch für Itten ist dabei aber, dass sein Werk keine lineare Stilentwicklung erkennen lässt. Figürliches und Abstraktes finden sich nebeneinander, auch wenn der Künstler die Zweckbestimmung der Motive immer wieder neu festlegte. Signifikantes Beispiel hierfür sind die erhaltenen Entwürfe für „Velum“, eine Deckenbespannung für das Stedelijkmuseum in Amsterdam, die in der Thuner Ausstellung ostasiatisch inspirierten Tuschearbeiten und Farbfeldkompositionen gegenüberstehen. Dynamisch bewegte Motive finden sich in Ittens Werk genauso wie expressionistische Farbgebung oder ornamentale Stilisierung von Pflanzen, pointillistischer Farbauftrag oder kubische Formdurchdringung. So zeigte sich Johannes Itten als Jongleur unterschiedlichster Stilelemente, als Chamäleon zwischen Paul Klee, Henri Matisse und Reminiszenzen an den Stildiskurs des frühen 20. Jahrhunderts.
Seine lebenslange Beschäftigung mit Farben kulminierte in Ittens berühmtester Publikation: „Kunst der Farbe. Subjektives Erleben und objektives Erkennen als Wege zur Kunst“ von 1961. Darin führte der 1956 pensionierte Direktor der Kunstgewerbeschule und des Kunstgewerbemuseums in Zürich, sowie der Mitbegründer des Museums Rietberg seine Ansichten zur Allgemeingültigkeit von Farbklängen – abhängig von der betrachtenden Person – zusammen. Ein Jahr nach der Publikation organisierte das Kunstmuseum Thun Ittens erste retrospektive Überblicksausstellung in der Schweiz (1962). Gemeinsam mit dem Künstler zeigte das Museum 110 Werke, in der die Vielfalt der künstlerischen Zugänge erstmals in seinem Heimatland erlebbar und mit Erstaunen von der Kritik entdeckt wurde. Einmal mehr lässt sich dies auch über die aktuelle Ausstellung im Kunstmuseum Thun sagen: Obschon der viellesende Itten sich mit Mazdaznan-Lehre, der Ästhetik Schellings, der Analyse Alter Meister und ostasiatischer Kalligrafie beschäftigte, brauchte er offenbar das Gegenüber Natur, um seine komplexen Überlegungen als Verdichtung und Nach-Schöpfung zu konkretisieren. Damit erweist sich der thematische Schwerpunkt der Ausstellung als präzise Klammer, welche das heterogene Lebenswerk des Künstlers verbindet.
Kuratiert von Christoph Wagner von der Universität Regensburg (Johannes Itten-Spezialist) in Zusammenarbeit mit der Johannes-Itten-Stiftung.
Hg. Kunstmuseum Thun, Helen Hirsch, Christoph Wagner
mit Beiträgen von H. Hirsch, I. Rödl, C. Wagner
192 Seiten, 150 Abbildungen in Farbe, 21 x 28 cm, gebunden
ISBN 978-3-7774-3569-5 (Deutsch/Englisch)
HIRMER VERLAG