Mit „Van Gogh im Borinage. Die Geburt eines Künstlers“ feiert Mons (gemeinsam mit Pilsen Europäische Kulturhauptstadt 2015) den Einfluss der Region auf den berühmten Maler. Als Borinage, schwarzes, von Kohlestaub bedecktes Land, wurde der Westen Belgiens im 19. Jahrhundert bekannt. Von Dezember 1878 bis Oktober 1880 lebte Vincent van Gogh in der Umgebung von Mons und verdingte sich anfangs als Prediger in Probezeit. Hier entschied er sich nach seiner Kündigung, Künstler zu werden. Er identifizierte sich mit der harten Realität des Alltags der Kohlearbeiter sowie ihrer Familien und fand die Landschaft pittoresk. Ausstellung und Katalogbuch sind Ergebnisse eines neuen Blicks auf diese frühe Phase von van Goghs Karriere durch Sjraar van Heugten. Dass die Ausstellung nicht in erdigen Tönen seiner naturalistischen Frühphase versinkt, verdankt sie den farbenprächtigen, späten Bildern von Häusern und Kopien wichtiger Vorbilder denn sein ganzes Leben lang blieb van Gogh den Motiven und Interessen treu, die er im Schwarzen Land entdeckt hatte. Bis nach Auvers-sur-Oise begleiteten ihn die Erinnerungen am Borinage, an die Kohlearbeiter_innen und ihre einfachen Hütten aber auch an seine Anfänge als Künstler.
Belgien / Mons: Musée des Beaux-Arts de Mons
25.1. - 17.5.2015
Was Vincent van Gogh im Borinage lernte, wurde zum Grundstein seiner gesamten Kunstauffassung, so die These van Heugtens. Nicht nur die naturalistischen Schilderungen von Léon Lhermitte, Jules Breton und Jean-François Millet inspirierten ihn, sich Zeit seines Lebens mit dem ländlichen Leben und der Armut der Bauern zu beschäftigen, sondern vor allem sein Kontakt mit der Bevölkerung des Borinage. Er traf hier auf Menschen, die von den harten Lebensbedingungen gezeichnet waren, sah die einfachen Hütten und kopierte nach bewunderten Werken bekannter, französischer Maler. Seine Studien nach der Natur hätte er alle zerstört, schrieb er noch 1888 aus Südfrankreich an den Freund Eugène Boch, der zum Malen in den Borinage gefahren war. Doch bis an sein Lebensende begleiteten ihn die Erinnerungen an das Schwarze Land, seine Leute und ihre einfachen Hütten. Am Ende seines Aufenthalts, im August 1880, hatte sich van Gogh entschieden Maler zu werden und zog deshalb nach Brüssel um. Im Frühling 1890 malte er seine letzten Landhäuser, und wenn sie auch bürgerliche Besitzer hatten, fühlte sich der Maler aus den Niederlanden durch sie noch immer an Belgien erinnert.
Dass Vincent van Gogh überhaupt im Borinage gelandet war, hatte mit seinen vielen falschen Berufsentscheidungen zu tun, die ihn und seine Familie sehr aufregten. Im Juli 1869 war er der jüngste Mitarbeiter der Kunsthandlung Goupil & Cie. in Den Haag geworden. Sein Onkel Cent (Vincent) van Gogh war Partner in der Firma, die Filialen in Brüssel, London und Paris hatte, und hatte entschieden, seinem Neffen einen Job zu geben. Während sich der junge van Gogh in den folgenden sechs Jahren als zu schüchtern im Umgang mit den Kundinnen und Kunden entpuppte, entwickelte er eine Leidenschaft für Kunst. In der zweiten Hälfte des Jahres 1875 wandte er sich der Religion zu und zeigte wenig Interesse an seiner Arbeit. Am 1. April 1876 wurde daher sein Beschäftigungsverhältnis in London aufgelöst. Über eine Stellenanzeige in der Zeitung fand van Gogh einen Job als Lehrer, zuerst bei William Stokes Post in Ramsgate in Kent und dann bei Reverend Thomas Slade-Jones.
Weihnachten 1876 kehrte van Gogh zu seinen Eltern nach Etten im Brabant zurück. Er war vom Wunsch beseelt, Kleriker zu werden, was seiner Familie missfiel. Sein Vater überredete ihn, im Januar 1877 als Mitarbeiter in einer Buchhandlung in Dordrecht anzufangen. Im Mai war er wieder einmal gescheitert, durfte aber endlich nach Amsterdam übersiedeln, wo er Vorbereitungsklassen für das Theologiestudium absolvierte. Doch Latein und Altgriechisch waren Vincent van Gogh zu schwierig, so dass er im Februar 1879 ohne Ausbildung im Borinage ankam, nachdem auch eine Ausbildung zum Prediger in Brüssel 1878 gescheitert war. Am 1. Februar 1879 begann seine sechsmonatige Probezeit als Prediger, der aus der Bibel las und Religionsstunden gab. Er lebte in einer einfachen Hütte, tauschte seine Kleidung gegen billigere ein und sah nach den Kranken und Verletzten der Kohlegruben. Das zumindest berichteten Augenzeugen noch Jahrzehnte nach seinem Aufenthalt. Aus dieser Zeit sind nur sechs Briefe von Vincent an Theo erhalten. Daraus erschließen sich hauptsächlich seine Kommunikationsprobleme mit den Einheimischen, denn er verstand ihren Dialekt kaum, während sie seinen französischen Gebeten nicht folgen konnten. Im Juli 1879 entschied der Vorstand der Flämischen Schule für Prediger, seine Probezeit zu beenden und van Gogh nicht einzustellen.
Im März 1880, als Vincent van Gogh auf der Suche nach Arbeit nach Pas-de-Calais kam, besuchte er das Atelier des Realisten Jules Breton. Seine Familie war vom neuerlichen Misserfolg noch immer schwer enttäuscht. Ende Juni schrieb van Gogh an Theo über seine spirituelle und soziale Sackgasse, in der er sich gefangen sah. Seine große Liebe zu Literatur und Kunst half ihm aus der Krise, und Theo van Gogh bot Hilfe. Vincent muss sich bewusst gewesen sein, dass er nicht über herausragendes Talent verfügte. Mit Büchern wie Armand-Théophile Cassagne’s „Guide de l’alphabet du dessin“ (1880) half er sich über die ersten Anfangsschwierigkeiten wie der Perspektive hinweg. Charles Bargue’s „Exercices au fusain“ nutzte er wie Millets Zeichnungen, um nach ihnen zu zeichnen bzw. sie zu kopieren. Der Borinage bot für ihn außergewöhnliche und pittoreske (!) Szenen und Motive, die er mit naturalistischen Werken von Pieter Bruegel der Ältere, Matthijs Maris und Albrecht Dürer verband. Von diesen ersten Zeichnungen sind nur wenige Blätter erhalten, van Gogh meinte selbst, er hätte sie vernichtet. Das erhaltene Material zeigt seine mühseligen Versuche Objekte und Menschen über die Umrisslinie zu erfassen.
Das Frühwerk von Vincent van Gogh, das zwischen 1881 und 1885 in den Niederlanden entstand, ist geprägt von seiner Hinwendung zum einfachen Leben von Bauern und Arbeiterinnen (→ Vincent van Gogh. Von Paris nach Arles). Im April 1881 zog er wieder bei seinen Eltern in Etten (Nordbrabant) ein, wo er auf Millets Spuren wandelte und arbeitende Bauern zeichnete. Von Dezember 1881 bis September 1883 lebte er in Den Haag. Hier fertigte er Zeichnungen von Minenarbeiterinnen und -arbeitern sowie Minenpferden an und sammelte Zeitungsausschnitte aus französischen und englischen Magazinen, darunter 33 Seiten mit Darstellungen von Kohlearbeitern. Aber auch städtische Motive begannen ihn in Den Haag zu interessieren. In der Umgebung fand er Hütten, die ihn an ähnliche Häuser in Gemälden von Jules Dupré und den Barbizon Malern erinnerten.
Die bekanntesten Werke aus dem frühen Schaffen van Goghs entstanden in Nuenen, wo der angehende Künstler von Dezember 1883 bis 1884 bei seinen Eltern lebte. Hier malte er „Die Kartoffelesser“, begann sich aber schon bald für die Weber und ihre „monströsen“ Webstühle zu interessieren. „Webstuhl mit Weber“ (1884, Öl auf Leinwand, 68,3 x 84,2 cm, Coll. Kröller-Müller Museum, Otterlo) ist ein charakteristisches Werk aus dieser Phase. Es zeigt den beengten Innenraum und die riesige Maschine, die den Weber fast zu verschlingen scheint. Das weiße Tuch bildet den hellsten Fleck im sonst grau-braunen Bild. Die Lampe rechts weist einen „jugendstiligen“ Schwung in ihrer Umrisslinie auf, während der Webstuhl zwischen genauer Beobachtung seiner Technologie und stilistischer Überformung changiert.
Zu den berühmtesten Gemälden des Holländers zählt zweifellos „Die Kartoffelesser“ (13. April bis Anfang Mai 1885), das in zwei Verionen1 existiert. Es zeigt fünf Bauern, die bei Lampenschein ihr eintöniges Abendmahl zu sich nehmen. Für Van Gogh waren ihre Hände ein Symbol ehrliche, das heißt körperliche Arbeit.
„Gern hätte ich dir zu diesem Tag das Bild von den Kartoffelessern geschickt, doch obwohl es gut vorwärtsgeht, ist es doch noch nicht ganz fertig. Obschon ich das eigentliche Bild in verhältnismäßig kurzer Zeit gemalt haben werde, und zwar größtenteils aus dem Kopf, so hat es doch einen ganzen Winter Malen von Studienköpfen und Händen gekostet. […] Ich habe mich nämlich sehr bemüht, den Betrachter auf den Gedanken zu bringen, daß diese Leutchen, die bei ihrer Lampe Kartoffeln essen, mit denselben Händen, die in die Schüssel langen, auch selber die Erde umgegraben haben; das Bild spricht also von ihrer Hände Arbeit und davon, daß sie ihr Essen ehrlich verdient haben. Ich habe gewollt, daß es an eine ganz andere Lebensweise gemahnt als die unsere, die der Gebildeten. Ich möchte denn auch durchaus nicht, daß jeder es gleich schön oder gut fände.“2
Im November 1885 zog Vincent van Gogh nach Antwerpen und im Februar 1886 weiter nach Paris. Für zwei Jahre, bis Februar 1888, verschwanden die einfachen Bauernhäuser und Hütten von seinen Leinwänden. Erst in Arles sollten sie wieder auftauchen, vor allem die Häuser im Fischerdorf Saintes-Maries-de-la-Mer inspirierten van Gogh im Mai/Juni 1888 zu neuen Bildern mit dem „alten“ Sujet. Eine andere Reminiszenz an seine Anfänge im Borinage waren farbige Interpretationen nach Druckgrafiken von berühmten und wichtigen Vorläufern. Van Gogh kopierte und reinterpretierte in 28 Ölgemälden u. a. Eugène Delacroix’s „Der gute Samariter“ und zwei seiner „Pietà“-Darstellungen (→ Delacroix und die Malerei Moderne), zwei Bilder nach Rembrandts „Erweckung des Lazarus“ (→ Rembrandt, Die Auferweckung des Lazarus (große Platte)) und dem „Erzengel Raphael“, zwei Kopien nach dem „Sämann“ von Jean-François Millet, nach Gustave Doré, Honoré Daumier, Virginie Demont-Breton. Damit kristallieren sich neben den Leitmotiven auch Arbeitsmethoden in Van Goghs Werk heraus, die mit seinem Aufenthalt im Borinage verbunden werden können.
In den Zeichnungen der ersten Hälfte der 1880er Jahre zeigt sich deutlich die rasche und kontinuierliche Zunahme an Sicherheit im Strich, seine Beschäftigung mit Perspektive und Anatomie, sowie sein autodidaktisches Training anhand von Stichen der französischen Realisten, die Themenwahl und Aufbau der Kompositionen deutlich prägten. Umso erstaunlicher ist im Katalog dann der Sprung von seiner „Landschaft mit Hütten und einer Mühle“ aus Nuenen 1885 (22.6 x 30 cm, Van Gogh Museum, Amsterdam) zu „Häuser in der Sonne in Les-Saintes-Marie-de-la-Mer“ (1888, Zeichnung, 30,5 x 47,2 cm, Van Gogh Museum, Amsterdam), in der van Gogh bereits mit Feder sich jener charakteristischen und höchst selbständigen Linienführung bediente, die er in Südfrankreich weiterentwickelt hatte. Darauf folgen „züngelnde“ Zypressen und weich geformte, sich kaum vom Boden erhebende Häuser. Er vermisste, wie er seinem Freund Boch in den Borinage schrieb, in Südfrankreich die moosgedeckten Dächer auf den Schuppen oder Hütten und die vom Ruß geschwärzten Feuerstellen. In den letzten zehn Wochen vor seinem Tod, vom 20. Mai bis zum 29. Juli, malte van Gogh in Auvers-sur-Oise „hübsche Mittelklasse Landhäuser“, die ihm nach eigener Aussage fast genauso gefielen wie die von ihm romantisierten, alten, mit Moos gedeckten Hütten des Borinage.
Die künstlerischen Erben von Vincent van Gogh im Borinage sind zweifellos Constantin Meunier und Eugène Boch, die den Katalog mit ihren Gemälden beschließen. Sie widmen sich bereits der fortschreitenden Industrialisierung und Zerstörung von Land und Menschen durch den Kohleabbau. Dass der Borinage zum Thema für Künstler werden konnte, hat wohl auch mit van Goghs Begeisterung für Land und Leute zu tun. Sein Interesse an den Kohlearbeitern und ihren Familien führte neben literarischen Werken wie Emil Zolas „Germinal“ zu einer neuen Sicht auf die Arbeiter_innen und ihre Arbeitsbedingungen. Während van Gogh sich von den Kohlearbeitern ab und den Bauern zuwandte, monumentalisierte Constantin Meunier die arbeitende Klasse vor allem in der Skulptur.
von Sjraar van Heugten (Hg.)
mit Beiträgen von M. Vellekoop, L. Jansen, B. Moens, P. Tilly, P.-O. Laloux, B. Vouters, M. Daloze
Sjraar van Heugten, Van Gogh in the Borinage. The Birth of an Artist, S. 10–39.
Marije Vellekoop, Van Gogh in the Borinage. From Evangelist to Artist, S. 50–62.
Leo Jansen, Vincent van Gogh, Active Melancholic: A Novice Artist Takes his Stand, S. 78–92.
Bart Moens, Van Gogh in Brussels: A Little-known but Decisive Stage in his Early Development as an Artist, S. 104–117.
Pierre Tilly, Pierre-Olivier Laloux, Vincent van Gogh in the Borinage. A Region and Context that Marked both Man and Artist, S. 132.
Bruno Vouters, The Long March to Courrières or The Hope of a ‘Promised Land’, S. 156.
Marcel Daloze, From Eugène Boch to Louis Piérard. The Stages of Van Gogh’s Critical Reception in Belgium (1888–1914), S. 184.
Vincent van Gogh: the Letters
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