Raid the Icebox 1, with Andy Warhol (1969)

Während das künstlerische Werk der 1960er Jahre von Andy Warhol sehr bekannt ist, ja sich äußerster Beliebtheit erfreut, ist nur wenigen bewusst, dass der US-amerikanische Künstler auch Ausstellungen kuratierte. 1969 lud ihn das Museum of Art der Rhode Island School of Design (RISD) ein, eine Schau zu konzipieren. Eingeladen wurde er von Daniel Robbins, der das Museum von 1965 bis 1971 leitete und zuvor Assistenzkurator am Guggenheim Museum in New York war (→ Guggenheim Museum: Solomon R. Guggenheim & ungegenständliche Kunst). Zu seinem Ziel gehörte, die Gegenwartskunst in der Sammlung zu stärken und gleichzeitig genug Mittel von Mäzenen einzusammeln, um die Werke im Depot konservatorisch und kunsthistorische betreuen zu können.

Vermutlich wählte Robbins Andy Warhol aus mannigfaltigen Gründen: weil Warhol selbst Amerikana und Volkskunst sammelte, weil er sich in unterschiedlichsten Rolle durch die Kunstwelt bewegte, weil er eine gute Verbindung zwischen Museumsarbeit und den Studierenden am College herstellen konnte. Da der Künstler kurz zuvor das Attentat von Valerie Solanas überlebt hatte, war er auch als Person einer breiten Öffentlichkeit bekannt (1968 → Andy Warhol: Biografie). Und dass er jüngst auch Werke an das Ehepaar de Menil verkauft hatte, mag eine ebenso wichtige Rolle gespielt haben.

Jean und Dominique de Menil

So kam es, dass zu den Initiatoren der Ausstellung auch das wohlhabende Sammlerpaar Jean und Dominique de Menil zählte, die Anfang 1969 eine private Führung durch das Depot mit den dort verwahrten 45.000 Werken und Objekten erhalten hatte. Vielleicht war es aber auch der Kontakt der Sammler zum Kunsthistoriker Fred Hughes, seit 1967 Leiter von Warhols Factory und Herausgeber von „Interview“, den die de Menils am Beginn seiner Karriere stark förderten. Hughes war es auch, der den Kontakt zwischen Warhol und Dominique Menil herstellte: Sie beauftragte ihn, einen Film über Sonnenuntergänge zu drehen („*** (Four Stars)“, 1967), ließ sich von ihm 1969 porträtierten und erwarb eine Serie von frühen Werken direkt aus dem Atelier. Damit zählten sie zu den wichtigsten Sammlern Warhols in den USA.

Kuratieren als künstlerischer Akt

Doch würde Andy Warhol einer Einladung folgen, ohne die Möglichkeit zu haben, ein eigenes Werk auszustellen? Überraschenderweise tat er es und verstand das Kuratieren selbst als einen künstlerischen Akt, bei dem er sich von konventionellen, meist wissensbasierten Vorgehensweisen und Ordnungssystemen löste. Warhol folgte mit seinem Konzept dem ehemaligen, aus Deutschland stammenden Kurator Alexander Dorner, der zwischen 1938 und 1941 Kunstwerke aus verschiedenen Perioden und von unterschiedlichen Kontinenten einander gegenüberstellte, um dramatische und überraschende Installationen zu schaffen.

Während des Sommers 1969 reiste Andy Warhol sechs Mal nach Providence, um die Sammlung zu durchforsten. Sein enger Freund David Bourdon hielt diese Besuche für das Kunstmagazin „ARTnews“ fest; der Beitrag erschien kurz darauf auch im ausstellungsbegleitenden Katalog:

„Er [Warhol] näherte sich einem großen Holzschrank und öffnete alle fünf Türen, um die beeindruckende Schuhsammlung des Museums zu enthüllen – ein geordnetes Arrangement von Hunderten von Schuhen aller Art: Ballettschuhe, Stiefel, Herrenschuhe, Kinderschuhe, Holzschuhe, Damenschuhe, Die meisten von ihnen stammen aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis in die fünfziger Jahre. […] Warhol wollte die gesamte Schuhsammlung. Hieß das: Auch den Schrank? ‚Oh ja, einfach genau so.‘ Aber was ist mit den Türen? Wäre es denn dem Publikum erlaubt, sie zu öffnen und zu schließen? ‚Publikumspartizipation‘, murmelte Warhol. Robbins reagierte verstört. Kein Kurator, sagte er, wäre auf die Idee gekommen, die Schuhe ‚einfach genau so‘ auszustellen.“1

Die so salopp klingende Formulierung – ‚einfach genau so‘ – charakterisierte Andy Warhols gesamten Auswahlprozess. Das schloss nicht nur die Objektgruppen ein, sondern auch die Art ihrer Präsentation. Dazu muss man wissen, dass das Depot des Kunstmuseums aufgrund des Platzmangels heillos überfüllt war: Gemälde standen am Boden, lehnten an Wänden und wurden von Sandkissen am Umfallen gehindert. Skulpturen bildeten zusammenhanglose Gruppen. Als die de Menils ihre Führung abgeschlossen hatten, resümierten sie sogar, es würde wie in einem Lagerhaus aussehen. Aus all den mehr oder weniger kostbaren Exponaten, Werken und Artefakten wählte Andy Warhol den Schuhkasten, alte Auktionskataloge (in Stapeln), Hutschachteln, eine auf einem Wandregal stehende Reihe von Windsor Stühlen (eigentlich eine Art Ersatzteillager), daneben Gemälde von Francesco Primaticcio, Paul Cézanne, John Singer Sargent und James McNeill Whistler. Unter den Skulpturen fiel seine Wahl u.a. auf einen Edgar Degas, einen Auguste Rodin, einen Maya-Kopf.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Andy Warhol nicht an den Meisterwerken des Museums interessiert war, sondern am Außergewöhnlichen, am Unpassenden, an Kopien und Fälschungen, am Befleckten. Kommentatoren von „RAID THE ICEBOX I, with Andy Warhol“ fühlten sich an die Readymades von Marcel Duchamp erinnert, den Warhol sehr bewunderte. Im Gegensatz zu Duchamp machte Warhol allerdings nicht aus einem Alltagsgegenstand ein Kunstwerk, sondern erhob das scheinbar unwichtige und deshalb unsichtbare Werk zu einem ausstellungswürdigen Objekt. Damit unterlief er die Praxis des Kuratierens, das auf einer Bewertung des Materials nach allgemein akzeptierten Regeln beruhte. Anstelle „das Beste“ auszuwählen, wagte Warhol „das Durchschnittliche“ in der Ausstellung zu präsentieren.

Ausstellung - Katalog - drei Stationen

Schlussendlich arrangierte Andy Warhol in Providence 404 Objekte aus elf Kategorien, die aus dem Zeitraum 1.000 v.u.Z. bis 1966 stammten. Vieles, was Warhol ausstellte, war aus dem 19. Jahrhundert, ergänzt um die Hilfsmittel ihrer Lagerung:

  • Zeichnungen und Aquarelle
  • Gemälde (meist Porträts)
  • Skulpturen
  • Band- und Hutschachteln
  • Körbe
  • Keramiken (23 Krüge und Vasen)
  • Stühle
  • Accessoires: Schuhe (193 Schuhpaare)
  • Accessoires: Schirme (56 Stück)
  • Textilien, darunter Native American Quilts
  • Tapeten (12 verschiedene Muster)

In dem begleitenden Katalog erhielten alle Objekte die gleiche Aufmerksamkeit und eine höchst technische Beschreibung. Dahinter stand kein politischer Anspruch, kein Aufruf zur Gleichheit oder Institutionskritik, sondern Fragen von Massenproduktion und Qualitäts- und damit Wertzuschreibung.

Die Ausstellung wurde an drei Orten gezeigt, wo sie Warhol immer neu aufstellte:

  • „Raid the Icebox 1, with Andy Warhol“ im Rice Museum in Houston, 29.10.1969–4.1.1970: Warhol forderte, dass vor dem Museum ein Baum gepflanzt würde - was auch geschah.
  • „Raid the Icebox 1, with Andy Warhol“ im Isaac Delgado Museum (heute: New Orleans Museum of Art) in New Orleans, 17.1.–15.2.1970. Die Besucherinnen und Besucher mussten das Museum über die Depoträume im Keller betreten.
  • „Raid the Icebox 1, with Andy Warhol“ im RISD Museum in Providence, 23.4.–30.6.1970

Historische Beurteilung

2018 organisierte die Rhode Island School of Design ein Symposium, um 50 Jahre nach „Raid the Icebox 1, with Andy Warhol“ die Bedeutung der Ausstellung zu ergründen.

Das mumok – Museum für moderne Kunst in Wien organisierte 2020/21 eine Ausstellung, für die Kuratorin Marianne Dobner im Depot des Kunsthistorischen Museums, Abteilung Antike, im Geist von Andy Warhol Exponate, Artefakte und Objekte zusammenstellen durfte.

Literatur zu „Raid the Icebox 1, with Andy Warhol“

  • ANDY WARHOL EXHIBITS a glittering alternative, hg. v. Marianne Dobner (Ausst.-Kat. mumok, Wien, 25.9.2020-31.1.2021), Köln 2020.
  • Elena Filipovic (Hg.), The Artist as Curator. An Anthology, London 2017.
Andy Warhol, Raid the Icebox, 1970

Wien | mumok: Andy Warhol


Ab Ende September 2020 verschreibt sich das mumok im Rahmen zweier Ausstellungen dem Phänomen Andy Warhol (1928–1987). Statt der Präsentation altbekannter Klassiker blickt das mumok mit bisher kaum gezeigten Arbeiten hinter die Fassade der weltberühmten Pop Art-Ikone und entdeckt Warhols Fähigkeit als bahnbrechender Ausstellungskurator und Installationskünstler neu.
  1. David Bourdon, Andy’s Dish, in: RAID THE ICEBOX 1 with Andy Warhol (Ausst.-Kat. Museum of Art, Rhode Island School of Design, Providence) Providence 1969, S. 17.