0

Leonardo da Vinci und das Geheimnis der „Flora“-Büste ARTE-Dokumentation zum Berliner Kunstskandal des frühen 20. Jahrhunderts

In der Art des Leonardo da Vinci, Flora-Büste, Detail, 16. oder 19. Jh. (© Staatliche Museen zu Berlin, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst / Jörg P. Anders)

In der Art des Leonardo da Vinci, Flora-Büste, Detail, 16. oder 19. Jh. (© Staatliche Museen zu Berlin, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst / Jörg P. Anders)

Die „Flora“-Büste ist ein Werk des Bodes Museums in Berlin. Bis heute ist nicht geklärt, ob die geheimnisvoll lächelnde Blumengöttin eine Arbeit von Leonardo da Vinci, aus seinem Umkreis oder dem britischen Bildhauer Richard Cockle Lucas ist. Von Wilhelm Bode im Juli 1909 im Londoner Kunsthandel erworben, steht die Wachs-Skulptur seither im Zentrum einer Kontroverse um Authentizität und Renaissance-Bewunderung.

Seit mehr als 100 Jahren debattieren Kunsthistoriker*innen, Restaurator*innen und Naturwissenschaftler*innen über die Entstehungszeit des Werks und damit die „Echtheitsfrage“. Handelt es sich um eine Arbeit des Renaissance-Genies Leonardo, von dem kein gesichertes skulpturales Werk erhalten ist? Könnte ein Schüler bzw. ein Nachfolger Leonardos das Werk geschaffen haben? Hat Richard Cockle Lucas die „Flora“ um 1860 restauriert und danach ein Foto von ihr mit Draperie und echter menschlicher Hand in seinem Atelier gemacht? Oder ist die „Flora“, wie Albert Dürer Lucas zu Protokoll gab, ein Werk des britischen Bildhauers? In den letzten Jahren sind noch weitere zwei Bronze-Kopien der Wachs-„Flora“ aufgetaucht.

Die Kontroverse

„Die Büste war Ende des Winter 1908/09 im Londoner Kunsthandel aufgetaucht und um eine Kleinigkeit von dem ausgezeichneten alten Antiquar Murray Marks (Durlacher Bros.) erworben worden. Im Maiheft des Burlington Magazine 1909 wurde sie von H. Cook abgebildet und im Dezemberheft von dem Redakteur C. J. Holmes als ein Werk mit Leonardeskem Typus besprochen. Kollege Friedländer, der bald darauf in London war, schrieb mir, das Original mache einen noch viel bedeutenderen Eindruck als die Reproduktion im Magazine. Auf seine Aufforderung reiste ich daher gleich nach London und kaufte im Einverständnis mit Dr. Friedländer um den Preis von 8.000 Pfund, nicht ohne Schwierigkeiten, da der Besitzer sie am liebsten im Victoria und Albert Museum zu sehen wünschte.“1 (Wilhelm von Bode, Mein Leben)

Doch die Freude über den Erwerb des leonardesken Werks sollte nicht lange anhalten. Britische Zeitungen meldeten zur Überraschung des berühmten Museumsmanns, dass „die große Wachsbüste der Flora […] die Arbeit eines kleinen englischen Wachsbossierers aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, namens Lucas, [sei]“.2 In seiner Autobiografie erinnert sich Bode, dass am 23. Oktober der Auktionator Charles Cooksey in der „Times“ einen Artikel mit der Zuschreibung an Richard Cockle Lucas veröffentlicht hat. Der Sohn des Bildhauers bezeugte, dass sein Vater „im Jahr 1846 [die „Flora“ als] Kopie eines Florabildes von Leonardo modelliert habe“3. Für den Berliner Kunsthistoriker irrten seine Kritiker jenseits des Ärmelkanals gewaltig, nachdem er Werke von Richard Cockle Lucas gesehen hatte:

„So schlagend diese elenden kleinen Dilettantenarbeiten bewiesen, dass ihr Verfertiger die Florabüste nicht gemacht haben konnte, so wurde doch unter dem allgemeinen Geschrei der Presse, ind er schließlich nur noch selten ein Wort für die Echtheit der Flora aufgenommen wurde, auf Gründe überhaupt nicht mehr gehört – hatte man doch Eideshelfer, die bei der Anfertigung dabeigewesen sein wollten!“4

Da sich das von Lucas Sohn angeführte Leonardo-Gemälde 1912/13 im Berliner Museum zur Restaurierung befand, konnte Wilhelm von Bode zum einen die frappierende Ähnlichkeit feststellen und zum anderen die Zuschreibung des Bildes an Leonardo in Zweifel ziehen. Für ihn war die gemalte Flora ein Werk von Giampietrino (1480/85–1553), der zwischen 1508 und 1549 in Mailand tätig, ein Schüler von Leonardo und ein Hauptvertreter der Renaissance in der Lombardei gewesen war. Von Giampietrino stammen treue Kopien von Leonardos Werken wie „Das Abendmahl“ (Royal Academy, London) und die „Kniende Leda mit ihren Kindern“ (Gemäldegalerie Alte Meister, Kassel).

In Haltung und antikischer Nacktheit folgt die „Flora“ der „Nackten Mona Lisa“ Leonardos. Die Gesichtszüge lassen sich ebenso mit Werken des Italieners in Beziehung bringen. Die hohe Ähnlichkeit der „Flora“ mit gesicherten Werken Leonardos veranlasste Bode, Gründungsdirektor des Kaiser-Friedrich-Museums (heute Bode-Museum), die Plastik für die Berliner Skulpturensammlung zu erwerben.

Ungelöster Fall

Bisher konnten weder stilkritische, kunsthistorische noch naturwissenschaftliche Verfahren eine befriedigende Antwort auf das Rätsel um die „Flora“-Büste geben. Die ARTE-Dokumentation lässt Forscher*innen unterschiedlichster Fachrichtungen auftreten und das Rätsel der „Flora“ aus ihrer Perspektive beleuchten.

Im Jahr 2006 veröffentlichte Ulrike Wolff-Thomsen das Buch „Die Wachsbüste einer Flora in der Berliner Skulpturensammlung und das System Wilhelm Bode: Leonardo da Vinci oder Richard Cockle Lucas?“. Darin analysierte die Kieler Kunsthistorikerin die Pressefehde und arbeitete die wichtigsten Argumente beider Seiten heraus. Für die aktuelle Beurteilung des Falls dürfte aber wichtiger sein, dass ihr der Nachweis gelang, dass wohl J. P. Morgan ebenfalls an dem Werk Interesse zeigte. Morgan war zu diesem Zeitpunkt Präsident des Metropolitan Museums in New York. Bode dachte wohl, er müsste schnell handeln, um dem amerikanischen Mäzen zuvorzukommen.

Neville Rowley, Renaissance-Experte und Kurator am Bode-Museum, unternahm neue Recherchen zur Vorbereitung der Ausstellung „Klartext: Zur Geschichte des Bode-Museums“, in der erstmals das Bode-Museum selbst im Mittelpunkt einer Präsentation steht. Er trifft Francesco Caglioti, der 2019 eine „Madonna mit Kind“ dem Leonardo zugeschrieben hat. Erstmals weist der Experte für Renaissance-Skulptur auf die Allegorien vom Grabmal von König Ludwig XII und der Anne de Bretagne in der Kathedrale St. Denis hin. Die zwischen 1516 und 1522 geschaffenen Allegorien von Jean Juste zeigen stilistische und motivische Ähnlichkeit mit der „Flora“-Büste in Berlin. Dies lässt sich als Hinweis auf eine frühe Entstehung der „Flora“ interpretieren. Ähnlich sieht es auch der Leonardo-Experte des Louvre, Vincent Delieuvin, der die Kohlezeichnung der „Nackten Mona Lisa“ und deren Vorbildwirkung auf Maler des 16. Jahrhunderts herausstreicht.

Unabhängig von kunsthistorischen Methoden wird die „Flora“-Büste in Berlin seit mehr als 110 Jahren auch naturwissenschaftlichen Untersuchungen unterzogen. Die „Flora“ war die erste Plastik, die geröntgt wurde und an der Farbanalysen durchgeführt wurden. Jüngste C14-Analysen klärten das Mysterium jedoch nicht auf: Da es sich um eine Mischung aus Bienenwachs und Walrat vom Pottwal handelt, müsste man zu einer Datierung des Materials das genaue Mischverhältnis der beiden Substanzen kennen. Dies ist mit heutigem Wissensstand allerdings nicht möglich.

Aktuell wird die „Flora“-Büste im Bode-Museum als „in der Art des Leonardo da Vinci“ mit einer Datierung ins 16. oder 19. Jahrhunderts ausgestellt. Neville Rowley, der sich anlässlich der Ausstellung über die Geschichte des Bode-Museums intensiv mit dem Werk und seiner Rezeption auseinandergesetzt hat, begeistert sich auch weiterhin für die Plastik und ihre geheimnisvolle Entstehungsgeschichte.

Weitere Beiträge zu Leonardo da Vinci

28. Mai 2023
Leonardo da Vinci, Hl Anna Selbdritt, sog. Burlington House Karton, Detail, 1500–1508, Kohle und Kreide auf Karton, 1,42 x 1,05 m (The National Gallery, London)

London | Royal Academy: Michelangelo, Leonardo, Raffael Florenz, um 1504 | 2024/25

Florenz, um 1504: Michelangelos Tondo Taddei, Leonardos Burlington House Karton - ihre Rivalität und ihre Einfluss auf den jungen Raffael.
28. Februar 2023
Antico, Büste des Marc Aurel, Detail, um 1500, Bronze, vergoldet, 72,5 x 60,0 cm (LIECHTENSTEIN. The Princely Collections, Vaduz–Vienna, Inv.-Nr. SK 1630)

Wien | Gartenpalais Liechtenstein: Bronzen der Fürsten von Liechtenstein Gegossen für die Ewigkeit | 2023

Die Fürstlichen Sammlungen beherbergen einige der kostbarsten Bronzeplastiken vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. Im März 2023 werden sie mit hochkarätigen Leihgaben aus den weltweit bedeutendsten Bronzesammlungen ergänzt.
10. Oktober 2022

Wien | KHM: Idole & Rivalen. Künstler:innen im Wettstreit Konkurrenz in Renaissance und Barock | 2022

Ausstellung zum paragone (dt. Künstlerwettstreitt) in Renaissance und Barock mit Meisterwerken von Leonardo, Michelangelo, Dürer, Tizian, Lavinia Fontana, Sofonisba Anguissola bis Peter Paul Rubens und vielen mehr.

Aktuelle Ausstellungen

15. März 2024
Broncia Koller-Pinell, Die Ernte (© Belvedere, Wien)

Wien | Unteres Belvedere: Broncia Koller-Pinell Eine Künstlerin und ihr Netzwerk | 2024

Broncia Koller-Pinells Hauptwerke und ihre Rolle als Mäzenin in der Wiener Moderne sind die Schwerpunkte der Einzelausstellung im Belvedere 2024.
11. März 2024
Alfred Sisley, Die Brücke von Hampton Court, Detail, 1874, Öl auf Leinwand (Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln, Foto: Rheinisches Bildarchiv, Köln)

Köln | Wallraf: 1863 PARIS 1874: Revolution in der Kunst Revolution in der Kunst - Vom Salon zum Impressionismus | 2024

Wie kam es dazu, dass sich Maler:innen jenseits der offiziellen Salon-Ausstellung der Pariser Akademie selbst organisierten? Warum wurde ihre Kunst anfänglich abgelehnt und später weltweit gefeiert? Antworten darauf zeigt das Wallraf im Frühjahr 2024.
8. März 2024
Roy Lichtenstein, Hopeless, Detail, 1963. Acryl auf Leinwand, 177,8 x 152,4 cm (© Estate of Roy Lichtenstein & VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Kunstmuseum Basel, Martin P. Bühler, Courtesy: Kunstmuseum Basel, Leihgabe der Peter und Irene Ludwig Stiftung)

Wien | Albertina: Roy Lichtenstein Zum 100. Geburtstag | 2024

Die Ausstellung stellt die wichtigsten Etappen von Lichtensteins abwechslungsreichem Werk von den frühen 1960er Jahren bis zum Spätwerk vor.
  1. Wilhelm von Bode, Mein Leben, S. 213.
  2. Ebenda, S. 213.
  3. Ebenda, S. 214.
  4. Ebenda, S. 215.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.