Die ersten Pariser Jahre und die russische Zeit nehmen im Gesamtwerk von Marc Chagall (1887–1985) einen überschaubaren Teil ein, sind aber für dessen künstlerische Entwicklung von essentieller Bedeutung. In Paris, das der jüdische Maler aus dem russischen Witebsk als Stadt der Freiheit empfand, im Paris des Eifelturms entwickelte er sein künstlerisches Idiom, seine höchst genuine Ausdrucksweise. Diese ist so einzigartig, dass es bis heute schwerfällt, das Werk Chagalls in die großen Strömungen der Zeit einzuordnen. Ist Marc Chagall ein Kubist, ein Orphist, ein Expressionist, ein Phantast, gar eine Proto-Surrealist? Die nachhaltige Prägung durch die künstlerischen Experimente seiner neuen Heimat verschmolzen in Chagalls Werk mit den Erinnerungen an das Schtetl, an das jüdische Ghetto von Witebsk, sein altes Zuhause im Kaiserreich Russland.
Schweiz / Basel: Kunstmuseum Basel
16.9.2017 – 21.1.2018
Spanien / Bilbao: Guggenheim-Museum Bilbao
1.6. – 2.9.2018
Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebte der aufstrebende Künstler zufälligerweise in Witebsk, wo er seine Familie und Verlobte Bella Rosenfeld besuchen war. Eine Rückkehr nach Westeuropa war für Jahre versperrt. Wenn auch Marc Chagall kurz nach der Russischen Revolution Karriere machte und zum Kunstfunktionär der Region Witebsk ernannt wurde, so gerieten er und die radikal-avantgardistischen Kräfte an seiner Kunstschule bald in unauflöslichem Konflikt: El Lissitzky und Kasimir Malewitsch setzten sich durch, Chagall zog nach Moskau, wo er Wandgemälde für das Staatliche Jüdische Kammertheater malte. Die Ausreise nach Berlin 1923 markiert das Ende des Frühwerks von Marc Chagall.
Der in St. Petersburg und an der Académie de la Grand Chaumière nur kurz ausgebildete Maler und Grafiker konnte in Paris schon bald nach seiner Ankunft im September 1910 erste Erfolge verbuchen: Er verkehrte am Montparnasse mit Literaten und Künstlern der Avantgarde und freundete sich mit Apollinaire, Cendrars, Robert Delaunay und Fernand Léger an. Chagall nahm ab 1912 im Salon des Indépendants, Salon d’Automne und Ersten Deutschen Herbstsalon in Berlin teil.
„Ein Bild [ist] eine Fläche, bedeckt mit Darstellungen von Dingen (Gegenständen, Tieren, menschlichen Wesen) in einer bestimmten Anordnung, in der Logik und illustratives Erzählen keine Bedeutung haben. Der visuelle Eindruck der Komposition ist das, worum es geht.“1 (Marc Chagall, 1946)
Auffallend an den ab 1910 in Paris entstehenden Werken ist, dass sich Marc Chagall stilistisch der Avantgarde zuwandte, inhaltlich aber der Idylle, dem Traum und der Liebe verpflichtete. Die Moderne mit ihren technologie- und schnelligkeitsaffinen Themen, vor allem repräsentiert durch die Futuristen, bietet für Chagall keine Anreize. Stattdessen erträumt er sich im Schtetl das harmonische Zusammenleben von Mensch und Tier, lässt Figuren schweben und stellt deren Köpfe gleichsam auf den Kopf. Die Datierungen der Werke entstammen häufig der Erinnerung des Künstlers. Sie sind mit Vorsicht zu genießen.
Die Farbigkeit in Chagalls Werk lässt sich sowohl auf die russische Volkskunst beziehen wie auf jüngste Avantgardebestrebungen in Paris: Matisse und die Künstler des Fauvismus lehrten Chagall den nicht naturalistischen Einsatz des Kolorits. Zeitlebens fühlte sich der Maler aus Russland zu Matisse hingezogen, während er über Pablo Picasso nur verächtlich konstatierte, dieser würde so häufig den Stil wechseln wie andere Leute ihre Socken. Dennoch spielt auch der von Picasso und Braque initiierte Kubismus eine wichtige Rolle in der Stilentwicklung Chagalls – wenn auch stärker der Kubismus der zweiten Generation, entwickelt von der sogenannten Puteaux-Gruppe, der u. a. Francis Picabia (→ Francis Picabia: Unser Kopf ist rund), Henri Le Falconnier angehörten.
Paris bedeutete für Marc Chagall Freiheit – Freiheit im Denken, Freiheit in der Stilwahl. Sich einem so strengen Konzept unterzuordnen, wie es der Analytische Kubismus darstellt, war dem 23-jährigen Maler aus Russland kein Anliegen. Wenn ihn auch der sogenannte „Kubistensaal Nr. 41“ am Herbstsalon von 1911 tief beeindruckte, so schloss er sich der Bewegung nie voll an. Die monumentalen Kompositionen von Fernand Léger, Jean Metzinger, Albert Gleizes und Henri Le Fauconnier, aber auch von Robert Delaunay wurden dennoch zu wichtigen Impulsgebern. Zudem bedeutete die Konfrontation mit den farbintensiven fauvistischen Gemälden für Chagall eine Offenbarung. Der junge Maler aus Russland war weniger an Analyse und Konstruktion von Raumwerten gelegen als an einer freien Interpretation seiner Erinnerungen. „Ich stieß bis ins Herz der modernen französischen Malerei vor“, erinnerte sich Chagall später.
„Ich und das Dorf“ ist ein Hauptwerk der ersten Pariser Phase, das im Kunstmuseum Basel in der vorbereitenden Gouache mit dem Titel „Ich und mein Dorf“ aus der eigenen Sammlung und dem Ölgemälde aus dem Museum of Modern Art, New York, zu sehen ist. Das aus den Grundfarben Blau, Rot, Gelb sowie der Mischfarbe Grün und Deckweiß komponierte Bild zeigt einander durchdringende und einander überlagernde Bildelemente: Mann und Kuh sind in der vordersten Ebene einander gegenüber positioniert. Ein Blumenstrauß, der im ausgeführten Gemälde zu einem Lebensbaum wird, schafft die Verbindung zwischen den einander anblickenden Freunden. Im Pferdekopf und dem Mann gegenüber in stark verkleinertem Format findet sich eine melkende Frau. Zwischen den beiden Köpfen am oberen Bildrand taucht eine Häuserzeile und ein Paar auf. Einige der Gebäude wie auch die Bäuerin stehen „am Kopf“. 1911 hatte Chagall diese Darstellungsform entwickelt, als er einen Betrunkenen zeichnete. In den folgenden Jahren nutzte er die Bildformel als Zeichen von Freiheit.
Wenn auch Marc Chagall mit Größensprüngen arbeitet, um Nähe und Ferne auszudrücken, so überlagern die Schichten einander doch und bilden kein einheitliches Raumgefüge ab. In Collage- und Überblendungstechnik lassen sich lassen sich Träume, Erinnerungen und Wirklichkeitsschilderung miteinander in Einklang bringen. Die Verbindung von Mensch und Tier (Natur) ist ein Leitthema in Chagalls Werk. Während der Kubismus seiner Freunde und Kollegen sich an urbanen Themen entzündete, spürte Chagall in seinen Werken einer Nostalgie nach, die auch als Überwindung der Trennung von Natur und Mensch gedeutet werden kann.
Kubistische Zersplitterung findet sich in einem späteren Werk, in denen Chagall den Synthetischen Kubismus verarbeitete: „Kubistische Landschaft (Paysage Cubiste)“ (1919/20, Centre Georges Pompidou) ist ein interessantes Beispiel für Chagalls Versuch in der Kunstschule in Witebsk mit den Avantgardisten El Lissitzky und Kasimir Malewitsch Schritt zu halten. Waren seine Lehrerkollegen als Vertreter der konkreten Abstraktion schlichtweg der Meinung, dass die phantasievolle Figuration Chagalls ein Zeichen der bereits überwundenen „Bourgeoisie“ (→ Chagall bis Malewitsch. Russische Avantgarden).
Wie „Der Viehhändler [Le marchand de bestiaux]“ (1912, Kunstmuseum Basel) zeigt, wirkt die kubistische Zersplitterung in den Gemälden Chagalls mehr wie eine Konstruktion der Figuren aus Einzelformen. Chagall „hält am linear konturierten menschlichen Körper fest, der nie wirklich durch die Maschine des Kubismus geht“, konstatiert Simon Baier treffsicher.2
Wichtiger noch als die Kenntnis des Kubismus stellt sich für Chagall die Malerei und theoretische Arbeit von Robert Delaunay dar. Nicht nur in der Ausstellung im Kunstmuseum Basel zweifellos zentral ist „Hommage an Apollinaire“ (um 1913, Van Abbemuseum, Eindhoven), wenn auch dessen Datierung nicht gesichert ist, so erinnert es doch frappant an Delaunays „Formes circulaires“. Delaunauy hatte gemeinsam mit seiner ebenfalls aus Russland stammenden Frau Sonia um 1912 der Abstraktion angenähert. Zuvor hatte er dem Eiffelturm ein Denkmal in seinen Fenster-Bildern gesetzt und in Auseinandersetzung mit Michel-Eugène Chevreuls Traktat „Über den Simultankontrast der Farben“ (1839) die Theorie des Simultanismus (Orphismus) entwickelt. Den Begriff Orphismus prägte Guillaume Apollinaire 1912 angesichts von Delaunays „Fenêtres“, den sogenannten Fensterbildern. Robert Delaunay sah seine Malerei vielmehr als „Cubisme écartelé (zerteilter Kubismus)“. Die im Frühjahr 1913 in Louveciennes entstandenen Gemälde waren Chagall wohlbekannt, da er Stammgast im Sonntagssalon der Delaunays geworden war. Vielleicht fühlte er sich von Delaunay zu eigenen Fenster-Bildern angeregt: „Paris durch das Fenster“ (1913, Solomon R. Guggenheim Museum) thematisiert ebenfalls den Eiffelturm mit einer janusköpfigen Gestalt und einer Katze.
Wie Josef Helfenstein, Direktor des Kunstmuseum Basel und Kurator der Chagall-Ausstellung, festhält, ist die Beziehung des Hauses zum Künstler eine lang gepflegte. Es war nicht nur Chagalls Tochter Ida mit einem Direktor des Kunstmuseum Basel in zweiter Ehe verheiratet, die Sammlung wurde bereits 1939 durch einen Ankauf der als „entartete“ gebrandmarkten Kunst Chagalls aus Deutschland mit einem Werk bereichert: „Die Prise (Rabbiner)“ (1923–1926) ist die zweite Fassung des Gemäldes „Man sagt. Der Rabbiner“ (1912, Privatbesitz), das Chagall selbst sehr wichtig war. 1948 kamen „Der Viehhändler“ (1912) und 1950 das Frühwerk „Meine Braut mit schwarzen Handschuhen“ (1909) nach Basel.
Der Basler Kunstsammler und Speditionsunternehmer Karl Im Obersteg (1883–1969) gehörte zu den wichtigsten frühen Anhängern der Kunst Chagalls in Basel. Im Obersteg erwarb ein Selbstporträt des Künstlers sowie drei berühmte Juden-Bildnisse: „Der Jude in Schwarz-Weiß“, „Der Jude in Rot“, und „Der Jude in Grün“ aus dem Jahr 1914. Das Kunstmuseum Basel konnte das vierte Werk der Serie aus dem Staatlichen Russischen Museum, Sankt Petersburg, für die Ausstellung in die Schweiz holen: „Der Jude in Hellrot“ (1915) vervollständigt kurzfristig die Gruppe. Der Basler Sammler hatte 1935 „Der Jude in Grün“ beim Künstler gegen „Die Hochzeit“, die er seit 1927 besaß, eingetauscht. Vom russischstämmigen Sammler Alexandre Kagan-Chabchay konnte er im Spätsommer 1936 noch die beiden anderen Judenbildnisse erwerben. Damit waren drei der vier Werke in einer Hand vereint – und Im Obersteg zum bedeutendsten Sammler Marc Chagalls nicht nur in der Schweiz avanciert.
Fotografien des Künstlers Solomon Judowin, eines Zeitgenossen und Bekannten Chagalls ergänzen die malerischen Interpretationen des Lebens im Schtetl durch Dokumentationen. Zwischen 1912 und 1914 begleitete Judowin Expeditionen des Schriftstellers und Ethnografen Semjon Akimowitsch An-Ski in zahlreiche Schtetlech im Westen des Russischen Reichs. Die dort entstandenen Aufnahmen zeigen eine Lebensart, die nur wenig später dem Ersten Weltkrieg und en andauernden Pogromen zum Opfer fiel. Basel als Treffpunkt der Zionisten wird im Ausstellungskatalog bewusst ausgeklammert, die Visualisierung der sogenannten Ostjuden nimmt im Textteil einen bedeutenden Stellenwert ein und bereichert die idealisierende Bildwelt Chagalls um kritische Beiträge von Alfred Bodenheimer, Heiko Haumann, Naomi Lubrich. Thomas Grob und Frithjof Benjamin Schenk widmen sich dem Verhältnis von Marc Chagall zur Russischen Revolution. Äußerst lesenswert!
Kuratiert von Josef Helfenstein.
Josef Helfenstein (Hg.)
Mit Beiträgen von Simon Baier, Alfred Bodenheimer, Sophie Eichner, Thomas Grob, Heiko Haumann, Josef Helfenstein, Bettina Keller-Back, Shifra Kuperman, Angela Lampe, Naomi Lubrich, Henriette Mentha, Werner Müller, Olga Osadtschy, Barbara Schellewald und Frithjof Benjamin Schenk
294 Seiten
ISBN 978-3-96098-129-9
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln