Marc Chagall, Der Papierdrache, 1926 (ALBERTINA, Wien – Sammlung Batliner © Bildrecht, Wien 2023)
Marc Chagall (1887–1985) zählt zu den bekanntesten Künstlern des 20. Jahrhunderts; sein einzigartiges Schaffen mit frühen Werken ab 1905 bis in die 1980er Jahre reicht. Etwa 90 Werke aus allen Schaffensphasen thematisieren in der ALBERTINA das Leben des Künstlers und offenbaren dabei eine Vielfalt an „unmöglichen Möglichkeiten“. Aufgewachsen in der weißrussischen Kleinstadt Witebsk als Moische Chazkelewitsch Schagalow und Kind einer orthodoxen jüdisch-chassidischen Arbeiterfamilie werden die frühen Kindheitserfahrungen stets prägend für den Künstler sein (→ Marc Chagall: Biografie). Der Künstler selbst war erstaunt, dass die Welt seiner Eltern, in der Kunst keine Rolle spielte, in seiner Kunst eine umso größere Bedeutung hatte. So zeigen die Werke in der Albertina die kleinstädtische Idylle fernab des Klischees eines jüdischen Ghettos. Chagall beschwört in seinen Bildern eine heile Welt mit dem Fiddler on the Roof (angeblich sein Onkels), bäuerliches Leben und herumlaufende Tiere.
Österreich | Wien: Albertina
28.9.2024 – 9.2.2025
Chagalls phantastisch-poetische Bildwelten faszinieren und geben – so vertraut sie uns sind – stets aufs Neue Rätsel auf. Stilistisch wie inhaltlich bewegt sich sein künstlerisches Schaffen zwischen Tradition und Avantgarde. Chagall hat die Entwicklungen der Kunst des 20. Jahrhunderts vom Primitivismus über Kubismus, Fauvismus und Surrealismus durchlebt und daraus eine ganz eigene Bildsprache für sich entwickelt. Unverkennbar ist dabei auch die essentielle Kontinuität in einem vielfältigen künstlerischen Ausdruck.
Mutterschaft und Geburt, Tod und Liebe beherrschen Chagalls Bilder als zentrale Themen, die durch Wiederholung und Variation im Laufe der Jahre reflektiert und neu beleuchtet werden. Immer wiederkehrende Motive wie Hahn und Esel, Kuh oder Fisch fungieren als in ihrer Bedeutung flexible Teile eines variablen phantastischen Kosmos. Die scheinbaren Widersprüche und Gegensätze in Chagalls Kompositionen und Bildwelten zeigen die Suche des Künstlers nach einer „Logik des Unlogischen“, mit der er den traditionellen Bildformen eine psychische Dimension hinzufügt.
Die Albertina präsentiert den Künstler Marc Chagall mit einem frühen Selbstporträt, in dem er sich noch in dunklen, erdigen Tönen mit Palette und Pinsel in Szene setzt. Die Anfänge seiner Ausbildung liegen in Witebsk, wo er bei dem Realisten Jehuda Pen das Malen lernte, und in St. Petersburg, wo er an der zaristischen Kunstakademie scheiterte und privaten Malunterricht nahm. Chagalls Mutter unterstützte den Wunsch ihres Sohnes, Maler zu werden, und sein Vater Sachar, der im Heringslager Zakhar (Chazkel-Mordechai) Sega arbeitete, besorgte ihm eine Aufenthaltsgenehmigung für die Hauptstadt (als Jude durfte sich Marc Chagall im Russischen Reich nicht frei bewegen). Im Winter 1906 zog der junge Künstler nach St. Petersburg, wo er verschiedene Berufe ausübte bzw. erlernte, bis ihn der wohlhabende Rechtsanwalt Grigori A. Goldberg zum Schein als Hausdiener einstellte und Chagall so eine Aufenthaltsgenehmigung erhielt.
So idyllisch wie „Das Haus in der Allee“ (1908, Centre Pompidou, Paris) sind die frühen Werke Chagalls selten. Vielmehr entwarf der junge Künstler schon früh „unlogische“ Kompositionen, indem er beispielsweise eine blutige Hausgeburt mit hereinstürmenden Nachbarn oder Verwandten kombinierte („Die Geburt“, 1910, Kunsthaus Zürich), eine Kinderbeerdigung durch einen Jahrmarkt ziehen lässt („Kirmes (Dorffest) oder Die Prozession“, 1908, The Museum of Art, Kochi) oder einen Toten öffentlich aufbahrt, während ein Geiger auf dem Dach eine Melodie anstimmt („Der Tod“, 1908/09, Centre Pompidou). Aus einer Privatsammlung konnte die Albertina „Der rote Akt“ (1909) ausleihen, der Chagalls Auseinandersetzung mit dem fauvistischen Farbkonzept noch in St. Petersburg dokumentiert.
Im ersten Raum stehen diesen frühen Werken Chagalls bereits zwei Gemälde aus der ersten Pariser Zeit zwischen 1910 und 1914 gegenüber. Mit einem kleinen Stipendium und all seinen Werken im Gepäck hatte der Maler die Reise in den Westen angetreten. Hier gab ihm der Pariser Einreisebeamte den heute so berühmten Namen Marc Chagall und hier wurde er als der poetische Maler aus Russland bekannt. Den Boden dafür hatten schon die Ballets Russes mit ihren märchenhaften Inszenierungen und farbenprächtigen Kostümen bereitet. Paris feierte die Truppe frenetisch - und erkannte in Chagall einen Künstler, der sich auch für das russische Volksleben interessierte. Auch wenn sich Chagall zeitlebens gegen das Diktat des Phantasten zu wehren suchte, überzeugte er gerade mit diesen Qualitäten.
War Chagalls „Das gelbe Zimmer“ (1911, Fondation Beyeler) noch auf Ablehung gestoßen, so konnte er mit „Russland, den Eseln und den Anderen“ (1911, Centre Pompidou), „Golgatha (Die Kreuzigung)“ (1912, MoMA, New York) und vor allem mit dem kubistischen Bild „Adam und Eva (Die Versuchung)“ (1912, Saint Louis Art Museum) überzeugen. Diese Bilder brachten Chagall die ersehnte Anerkennung seiner Kollegen und machten ihn in Deutschland berühmt. Vermittler waren die Dichter Blaise Cendrars und Guillaume Apollinaire, die Chagall dem Berliner Kunsthändler Herwald Walden vorstellten. Einer Einladung zum „Deutschen Herbstsalon“ (1913) folgte die erste Einzelausstellung Chagalls in Berlin (Juni-Juli 1914).
Nach nur vier Jahren in Paris hatte der junge Chagall bereits am ersten Höhepunkt seiner internationalen Anerkennung erreicht. Walden selbst kaufte „Russland, den Eseln und den Anderen“. Darin verbindet sich die Erzählung, Chagall sei als „Totgeburt“ zur Welt gekommen und habe erst nach einem Bad im kalten Wasser (Eimer!) zu schreien begonnen, mit einer Schilderung des bäuerlichen Lebens in Witebsk. Die Idylle, die unlogische Erzählweise, die durchaus romantische Note und die Kenntnis der avantgardistischen Debatten um Kubismus und Expressionismus verleihen dem Werk eine Sonderstellung im Frühwerk Chagalls.
An der gegenüberliegenden Wand zeigt der Maler, dass er auch das große Format beherrscht: In „Golgatha (Die Kreuzigung)“ zeigt er erstmals eine Kreuzigung mit dem jüdischen Christus und deutet durch die Anwesenheit eines Elternpaares am Kreuzesstamm die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung an. Die gesamte Komposition ist von geometrischen Grundformen durchzogen, das Kolorit lebt von der dramatischen Gegenüberstellung von Rot und Grün als Komplementärkontrast. Wie sehr sich Chagall mit dem Kubismus auseinandersetzte, wird in der Komposition „Adam und Eva (Die Versuchung)“ deutlich. Wer ist Adam, wer Eva? Wo ist die Schlange geblieben? Das Gemälde lädt ein, über Identifikation und Repräsentation der biblischen Geschichte nachzudenken. Die Ambivalenz der Darstellung und die deutlich von Jean Metzinger beeinflusste formale Lösung (die Gliederung der Körper in kleine Kuben und Dreiecke) machen „Adam und Eva (Die Versuchung)“ zu einer überraschenden Entdeckung im Œuvre Chagalls.
Die Jahre zwischen 1914 und 1922 verbrachte Marc Chagall in Russland bzw. in der Sowjetunion. Nach seinem Erfolg in Deutschland war der Maler dorthin gereist, um an der Hochzeit seiner Schwester teilzunehmen und Bella wiederzusehen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte seine Rückkehr in den Westen. Das Jahr 1915 brachte grundlegende Veränderungen in seinem Leben: Chagalls Mutter starb und er durfte Bella gegen den Willen ihrer Eltern heiraten. Mit Hilfe seiner neuen Schwiegereltern gelang es ihm jedoch, seinen Militärdienst in St. Petersburg im Kanzleidienst abzuleisten. Kleinformatige Genreszenen zeigen das Familienleben, darunter „Die Mutter am Backofen“ (1914, Privatsammlung) oder „David im Profil (Lautenspieler)“ (1914, Finnish National Gallery, Ateneum Art Museum). In diesen „Dokumenten“, wie Chagall sie nannte, hielt er seine Lieben und ihren Alltag fest. Sein offenbar schwieriges Verhältnis zu seinem Vater zeigt sich in einem Porträt des Vaters, dessen Kopf er fast zerstört hat, aber auch in der geringen Größe des Vaters neben der Mutter am Herd.
Der Krieg ist im malerischen Werk Chagalls nicht präsent. Es gibt einige Tuschezeichnungen von patrouillierenden Soldaten, die aber in dieser Ausstellung nicht gezeigt werden. Stattdessen finden sich nun jüdische Themen und Liebesbilder im Werk des Künstlers. Vor allem seine Darstellungen des glücklichen Ehe- und Familienlebens sollten sich in den folgenden Jahrzehnten als erfolgreich erweisen. Bereits in Paris hatte er mit dem „Liebespaar“ (1913/14, The Metropolitan Museum of Art, New York) den Traum seiner Liebesbeziehung zu Bella visualisiert. Als Leihgabe des Centre Pompidou in Paris zeigt die Albertina das „Doppelbildnis mit Weinglas“ (1917/18) den Künstler auf den Schultern seiner Frau. Die gemeinsame Tochter Ida schwebt als violetter Engel über dem Paar. Nichts, aber auch gar nichts erinnert daran, dass kurz zuvor Krieg und Revolution das Land und seine Gesellschaft auf den Kopf gestellt hatten.
Chagall hatte die Februar- und die Oktoberrrevolution in Russland begrüßt. Die neuen Machthaber versprachen den Jüdinnen und Juden das Bürgerrecht. Der Maler kehrte mit seiner Familie nach Witebsk zurück und dokumentierte dort den Friedhof (1917, Centre Pompidou) und „Das graue Haus“ (1917, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid). Im Gegensatz zu diesen realistischen Darstellungen zeigt Chagall in „Kubistische Landschaft“ (1918, Centre Pompidou) seine Kenntnis der Pariser Avantgarde. Dahinter steht der Konflikt des Künstlers mit seinen Kollegen an der Witebsker Kunstschule. Chagall leitete das Institut seit April 1918. El Lissitzky und Kasimir Malewitsch, die er als Lehrer berufen hatte, hielten seine Kunst für „bürgerlich“ und zu narrativ. Als die Studenten Chagalls Klasse geschlossen verließen, ging er enttäuscht nach Moskau, wo er für das Jüdische Kammertheater arbeitete.
1922 konnte Marc Chagall gemeinsam mit seiner Familie über das heutige Litauen nach Deutschland und weiter nach Frankreich ausreisen. Dort entstand eines der Hauptwerke der Ausstellung: „Der Engelsturz“ (1923-1933-1947, Kunstmuseum Basel). Das über mehrere Jahre weiterentwickelte Bild versammelt rund um den stürzenden Engel in Rot bereits bekannte Symbole aus dem Werk Chagalls. Der Künstler thematisiert Flucht und Vertreibung, indem er sog. „Luftmenschen“, einen wandernden Juden, ein weitere mit Tora-Rolle in den bloßen Händen zeigt. Deine gelbe Kuh spielt die Geige, und die Pendeluhr zeigt die verrinnende Zeit. Rechts unten fügt Chagall eine Kreuzigung, eine Mutter-Kind-Gruppe und eine brennende Kerze ein. Im Rückblick meinte der Künstler hiermit ein visionäres Bild geschaffen zu haben.
Sein Frühwerk etablierte Chagall als einen der bedeutendsten Künstler der Vorkriegsmoderne. Mitte der 1920er Jahre glaubten die Künstler des Surrealismus in ihm einen Vorläufer zu erkennen, was Chagall jedoch zurückwies. In den folgenden Jahren konnte er seine Position erneut unter Beweis stellen. Zum einen wurde seine Kunst in druckgrafischen Serien populär, zum anderen erweiterte er sein Motivrepertoire um Tiere aus den Fabeln La Fontaines. Farbintensive Kompositionen - zunehmend mit betörendem Blau - prächtiger Blumenstillleben und Liebespaaren prägen nun die künstlerische Praxis des Künstlers.
„Der Inhalt des Bildes ist der Inhalt des Lebens.“1 (Marc Chagall)
Marc Chagall verbrachte den Zweiten Weltkrieg in den USA. Erst 1947 kehrte er nach Paris zurück. Die Bilder, die nun entstehen, nutzen leuchtende, unvermischte Farben und eine schwarze Linienführung, um eine große Fernwirkung zu entfalten. Erstmals feierte der Maler auch Paris als seine neue Heimat, indem er Liebespaare über der Seine schweben ließ und berühmte Gebäude (Eiffelturm, Montmartre) zu Kompositionen zusammenfügte. Diese stilistische Entwicklung ging einher mit der Zunahme öffentlicher Aufträge, vor allem Entwürfe für Glasfenster in Kirchen und Synagogen, Ausstattungsbilder für Opernhäuser, Bühnenbilder. Der Maler erobert das monumentale Format. Seine überlebensgroßen Figuren tanzen und musizieren als Sinnbild der Lebensfreude. Immer wieder tauchen der Zirkus und alttestamentarische Szenen als Urbilder des Lebens auf. So endet die Schau in der Albertina mit der Gegenüberstellung von „Der Krieg“ (1964-1966, Kunsthaus Zürich) und „Commedia dell’arte“ (1959, Adolf und Luisa Haeuser-Stiftung für Kunst und Kulturpflege, Hattersheim am Main).