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Düsseldorf | K20: Marc Chagall Chagalls Bildwelten und Identitäten | 2025

Marc Chagall, Le violiniste [Der Geiger], Detail, 1911, Öl auf Leinwand, 94,5 × 69,5 cm (Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen © VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Marc Chagall, Le violiniste [Der Geiger], Detail, 1911, Öl auf Leinwand, 94,5 × 69,5 cm (Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen © VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Marc Chagall (1887–1985) ist und bleibt ein Mysterium. Auf der Suche nach einer „Logik des Unlogischen“ vereinte er in seinen traumgleichen Bildszenen Gegensätze, Widersprüche und die Vorliebe für das Unerwartete. Dennoch: So geheimnisvoll Chagalls Werke wirken, so dauerhaft setzte der Künstler seine Lieblingsmotive und -themen malerisch um. Waren es in seinem Frühwerk die Absurditäten in seiner Heimat Witebsk, so fand er nach zwei Weltkriegen in der Bibel, Literatur, im Zirkus und in der Liebe  die Motive seiner farbintensiven Gemälde, die bis heute das Publikum begeistern können.

Chagall in Düsseldorf 2025

Die umfassende Ausstellung in K20 präsentiert Chagalls Gemälde vom Früh- bis zum Spätwerk (→ Marc Chagall: Biografie). Sie lässt die jahrzehntelange Kontinuität von Bildwelten und Motiven erfahrbar werden und zeigt, wie sich diese im Laufe seines bewegten Lebens weiterentwickelt haben. Dabei wird deutlich, wie in Chagalls unverwechselbarer künstlerischen Sprache vielfältige Facetten seiner Identität als jüdischer, russischer und französischer Künstler aufscheinen.

Chagalls phantastisch-poetische Bildwelten faszinieren und geben – so vertraut sie uns sind – stets aufs Neue Rätsel auf. Stilistisch wie inhaltlich bewegt sich sein künstlerisches Schaffen zwischen Tradition und Avantgarde. Chagall hat die Entwicklungen der Kunst des 20. Jahrhunderts vom Primitivismus über Kubismus, Fauvismus und Surrealismus durchlebt und daraus eine ganz eigene Bildsprache für sich entwickelt. Unverkennbar ist dabei auch die essentielle Kontinuität in einem vielfältigen künstlerischen Ausdruck.

Mutterschaft und Geburt, Tod und Liebe beherrschen Chagalls Bilder als zentrale Themen, die durch Wiederholung und Variation im Laufe der Jahre reflektiert und neu beleuchtet werden. Immer wiederkehrende Motive wie Hahn und Esel, Kuh oder Fisch fungieren als in ihrer Bedeutung flexible Teile eines variablen phantastischen Kosmos. Die scheinbaren Widersprüche und Gegensätze in Chagalls Kompositionen und Bildwelten zeigen die Suche des Künstlers nach einer „Logik des Unlogischen“, mit der er den traditionellen Bildformen eine psychische Dimension hinzufügt.

 

Von St. Petersburg nach Paris

Am Beginn der Ausstellung in Düsseldorf steht das frühe Selbstporträt des Künstlers Marc Chagall aus der eigenen Sammlung; hier setzte er sich noch in dunklen, erdigen Tönen mit Palette und Pinsel in Szene. Die Anfänge seiner Ausbildung liegen in Witebsk, wo er bei dem Realisten Jehuda Pen das Malen lernte, und in St. Petersburg, wo er an der zaristischen Kunstakademie scheiterte und privaten Malunterricht nahm. Chagalls Mutter unterstützte den Wunsch ihres Sohnes, Maler zu werden, und sein Vater Sachar, der im Heringslager Zakhar (Chazkel-Mordechai) Sega arbeitete, besorgte ihm eine Aufenthaltsgenehmigung für die Hauptstadt (als Jude durfte sich Marc Chagall im Russischen Reich nicht frei bewegen). Im Winter 1906 zog der junge Künstler nach St. Petersburg, wo er verschiedene Berufe ausübte bzw. erlernte, bis ihn der wohlhabende Rechtsanwalt Grigori A. Goldberg zum Schein als Hausdiener einstellte und Chagall so eine Aufenthaltsgenehmigung erhielt.

So idyllisch wie „Das Haus in der Allee“ (1908, Centre Pompidou, Paris) sind die frühen Werke Chagalls selten. Vielmehr entwarf der junge Künstler schon früh „unlogische“ Kompositionen, indem er beispielsweise eine blutige Hausgeburt mit hereinstürmenden Nachbarn oder Verwandten kombinierte („Die Geburt“, 1910, Kunsthaus Zürich) oder einen Toten öffentlich aufbahrt, während ein Geiger auf dem Dach eine Melodie anstimmt („Der Tod“, 1908/09, Centre Pompidou). Aus einer Privatsammlung konnte Düsseldorf „Der rote Akt“ (1909) ausleihen, der Chagalls Auseinandersetzung mit dem fauvistischen Farbkonzept noch in St. Petersburg dokumentiert.

Diesen frühen Werken Chagalls stehen die Gemälde aus der ersten Pariser Zeit zwischen 1910 und 1914 gegenüber. Mit einem kleinen Stipendium und all seinen unverkauften Werken im Gepäck hatte der Maler die Reise in den Westen angetreten. Hier gab ihm der Pariser Einreisebeamte den heute so berühmten Namen Marc Chagall und hier wurde er als der poetische Maler aus Russland bekannt. Den Boden dafür hatten schon die Ballets Russes mit ihren märchenhaften Inszenierungen und farbenprächtigen Kostümen bereitet. Paris feierte die Truppe frenetisch - und erkannte in Chagall einen Künstler, der sich auch für das russische Volksleben interessierte. Auch wenn sich Chagall zeitlebens gegen das Diktat des Phantasten zu wehren suchte, überzeugte er gerade mit diesen Qualitäten.

 

Durchbruch in Paris und Berlin

War Chagalls „Das gelbe Zimmer“ (1911, Fondation Beyeler) noch auf Ablehung gestoßen, so konnte er mit „Russland, den Eseln und den Anderen“ (1911, Centre Pompidou), „Golgatha (Die Kreuzigung)“ (1912, MoMA, New York) und vor allem mit dem kubistischen Bild „Adam und Eva (Die Versuchung)“ (1912, Saint Louis Art Museum) überzeugen. Diese Bilder brachten Chagall die ersehnte Anerkennung seiner Kollegen und machten ihn in Deutschland berühmt. Vermittler waren die Dichter Blaise Cendrars und Guillaume Apollinaire, die Chagall dem Berliner Kunsthändler Herwald Walden vorstellten. Einer Einladung zum „Deutschen Herbstsalon“ (1913) folgte die erste Einzelausstellung Chagalls in Berlin (Juni-Juli 1914).

Nach nur vier Jahren in Paris hatte der junge Chagall bereits am ersten Höhepunkt seiner internationalen Anerkennung erreicht. Walden selbst kaufte „Russland, den Eseln und den Anderen“. Darin verbindet sich die Erzählung, Chagall sei als „Totgeburt“ zur Welt gekommen und habe erst nach einem Bad im kalten Wasser (Eimer!) zu schreien begonnen, mit einer Schilderung des bäuerlichen Lebens in Witebsk. Die Idylle, die unlogische Erzählweise, die durchaus romantische Note und die Kenntnis der avantgardistischen Debatten um Kubismus und Expressionismus verleihen dem Werk eine Sonderstellung im Frühwerk Chagalls.

Nun musste der Maler beweisen, dass er auch das große Format beherrschte: In „Golgatha (Die Kreuzigung)“ zeigte er erstmals eine Kreuzigung mit dem jüdischen Christus und deutete durch die Anwesenheit eines Elternpaares am Kreuzesstamm die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung an. Die gesamte Komposition ist von geometrischen Grundformen durchzogen, das Kolorit lebt von der dramatischen Gegenüberstellung von Rot und Grün als Komplementärkontrast. Wie sehr sich Chagall mit dem Kubismus auseinandersetzte, wird in der Komposition „Hommage an Apollinaire (Adam und Eva)“ (1911/12, Collection Van Abbemuseum, Eindhoven) deutlich. Es gehört zu den mysteriösen Werken des russisch-jüdischen Malers. Bis heute fordert die Darstellung eines an der Hüfte verbundenen Menschenpaares ikonografisch heraus. handel es sich, wie im Titel angedeutet, um das Urelternpaar, also um die Erschaffung der Eva? Meinte Chagall damit die symbiotische Beziehung zwischen Mann und Frau? Und welche Bedeutung könnten die Widmung und die Beschriftung haben? Die Ambivalenz der Darstellung und die deutlich von Jean Metzinger beeinflusste formale Lösung (die Gliederung des Raumes in kleine Kuben und Dreiecke) machen „Hommage an Apollinaire (Adam und Eva)“ zu einer überraschenden Entdeckung im Œuvre Chagalls.

 

Erster Weltkrieg und Revolution

Die Jahre zwischen 1914 und 1922 verbrachte Marc Chagall in Russland bzw. in der Sowjetunion. Nach seinem Erfolg in Deutschland war der Maler dorthin gereist, um an der Hochzeit seiner Schwester teilzunehmen und Bella wiederzusehen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte seine Rückkehr in den Westen. Das Jahr 1915 brachte grundlegende Veränderungen in seinem Leben: Chagalls Mutter starb und er durfte Bella gegen den Willen ihrer Eltern heiraten. Mit Hilfe seiner neuen Schwiegereltern gelang es ihm jedoch, seinen Militärdienst in St. Petersburg im Kanzleidienst abzuleisten. Kleinformatige Genreszenen zeigen das Familienleben, darunter „Die Mutter am Backofen“ (1914, Privatsammlung) oder „David im Profil (Lautenspieler)“ (1914, Finnish National Gallery, Ateneum Art Museum). In diesen „Dokumenten“, wie Chagall sie nannte, hielt er seine Lieben und ihren Alltag fest. Sein offenbar schwieriges Verhältnis zu seinem Vater zeigt sich in einem Porträt des Vaters, dessen Kopf er fast zerstört hat, aber auch in der geringen Größe des Vaters neben der Mutter am Herd.

Der Krieg ist im malerischen Werk Chagalls nicht präsent. Es gibt einige Tuschezeichnungen von patrouillierenden Soldaten, die aber in dieser Ausstellung nicht gezeigt werden. Stattdessen finden sich nun jüdische Themen und Liebesbilder im Werk des Künstlers. Vor allem seine Darstellungen des glücklichen Ehe- und Familienlebens sollten sich in den folgenden Jahrzehnten als erfolgreich erweisen. Bereits in Paris hatte er mit dem „Liebespaar“ (1913/14, The Metropolitan Museum of Art, New York) den Traum seiner Liebesbeziehung zu Bella visualisiert. Das Familienleben mit dem Baby schildert Chagall in „Erdbeeren (Bella und Ida am Tisch“ (1916, Kunstmuseum Basel); der in Hellblau getauchte Raum strahl Ruhe und Wohlstand aus. Im „Doppelbildnis mit Weinglas“ (1917/18), eine Leihgabe des Centre Pompidou in Paris, thront der Künstler auf den Schultern seiner Frau. Die gemeinsame Tochter Ida schwebt nun als violetter Engel über dem Paar. Nichts, aber auch gar nichts erinnert daran, dass kurz zuvor Krieg und Revolution das Land und seine Gesellschaft auf den Kopf gestellt hatten.

Chagall hatte die Februar- und die Oktoberrrevolution in Russland begrüßt. Die neuen Machthaber versprachen den Jüdinnen und Juden das Bürgerrecht. Der Maler kehrte mit seiner Familie nach Witebsk zurück und dokumentierte dort den Friedhof (1917, Centre Pompidou). Im Gegensatz zu diesen realistischen Darstellungen zeigt Chagall in „Kubistische Landschaft“ (1918, Centre Pompidou) seine Kenntnis der Pariser Avantgarde. Dahinter steht der Konflikt des Künstlers mit seinen Kollegen an der Witebsker Kunstschule. Chagall leitete das Institut seit April 1918. El Lissitzky und Kasimir Malewitsch, die er als Lehrer berufen hatte, hielten seine Kunst für „bürgerlich“ und zu narrativ. Als die Studenten Chagalls Klasse geschlossen verließen, ging er enttäuscht nach Moskau, wo er für das Jüdische Kammertheater arbeitete.

 

Zurück in Frankreich

1922 konnte Marc Chagall gemeinsam mit seiner Familie über das heutige Litauen nach Deutschland und weiter nach Frankreich ausreisen. Dort entstanden zahllose Bilder, mit denen Chagall seinen Ruhm weiter ausbauen konnte. Durch sein Frühwerk hatte sich Chagall als einer der bedeutendsten Künstler der Vorkriegsmoderne etabliert. Mitte der 1920er Jahre glaubten die Künstler des Surrealismus in ihm einen Vorläufer zu erkennen, was Chagall jedoch brüsk zurückwies. In den folgenden Jahren konnte er seine Position erneut unter Beweis stellen. Zum einen wurde seine Kunst in druckgrafischen Serien populär, zum anderen erweiterte er sein Motivrepertoire um Tiere aus den Fabeln La Fontaines, darunter der Hahn. Farbintensive Kompositionen - zunehmend mit betörendem Blau - prächtiger Blumenstillleben und Liebespaaren prägen nun die Motivwahl des Künstlers.

 

Die Bibel und der Zirkus

„Der Inhalt des Bildes ist der Inhalt des Lebens.“1 (Marc Chagall)

Marc Chagall verbrachte den Zweiten Weltkrieg in den USA. Erst 1947 kehrte er nach Paris zurück. Die Bilder, die nun entstehen, nutzen leuchtende, unvermischte Farben und eine schwarze Linienführung, um eine große Fernwirkung zu entfalten. Erstmals feierte der Maler auch Paris als seine neue Heimat, indem er Liebespaare über der Seine schweben ließ und berühmte Gebäude (Eiffelturm, Montmartre) zu Kompositionen zusammenfügte („Die Seinebrücken“, 1954, Hamburger Kunsthalle; „Marsfeld“, 1954/55, Museum Folkwang, Essen). Diese stilistische Entwicklung ging einher mit der Zunahme öffentlicher Aufträge, vor allem Entwürfe für Glasfenster in Kirchen und Synagogen, Ausstattungsbilder für Opernhäuser, Bühnenbilder. Der Maler erobert das monumentale Format. Seine überlebensgroßen Figuren tanzen und musizieren als Sinnbild der Lebensfreude. Immer wieder tauchen der Zirkus und alttestamentarische Szenen als Urbilder des Lebens auf. So endet die Schau in der Albertina mit der Gegenüberstellung von „Der Krieg“ (1964-1966, Kunsthaus Zürich) und „Zirkus auf schwarzem Hintergrund“ (1967, Centre Pompidou, Paris). Bis ins hohe Alter blieb der Künstler seiner Überzeugung treu: Das Leben lässt einen lachen und weinen gleichzeitig!

Die Ausstellung ist eine Kooperation zwischen der ALBERTINA, Wien (→ Wien | Albertina: Chagall) und der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf.

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