Gerhard Richters Landschaften sind Bilder von fotografierten Naturausschnitten, Bilder von Medienbildern und Reproduktionen, Bilder über die englische und deutsche Romantk, Bilder voller Atmosphäre, Bilder voller Schönheit. Das Bank Austria Kunstforum Wien zeigt im Herbst/Winter 2020/21 eine beeindruckende Auswahl des heute 88-jährigen Malers, der vor kurzem erst verkündet hat, mit dem Malen aufzuhören und sich ausschließlich dem Zeichnen zu widmen. Anhand des Genre Landschaft lässt sich Richters Werk durchmessen, hat der Maler doch seit 1963 sich kontinuierlich mit dem Thema auseinandersetzt – und dabei so manch überraschende Lösung gefunden.
Österreich | Wien: Bank Austria Kunstforum
1.10.2020 – 7.3.2021
Dunstverhangene Landstriche einer Traumwelt – so könnte man einige von Gerhard Richters Landschaften beschreiben, wenn nicht Brücken und Telefonmasten die nebeligen Naturausschnitte durchbrechen würden. Sehnsuchtsmotive, gepaart mit einem zeitgenössischen Zugang, offenbaren sich auf dem zweiten und dritten Blick als medial vermittelte, weil von Fotografien inspirierte, als aus Büchern und von Fotopostkarten kopierte Landschaften, als Malexperimente und Gedankenbilder auf höchstem Niveau. So führt der Blick im Kunstforum Wien auf „Ägyptische Landschaft“ von 1964/65: vier Ansichten von der Wüste bei Edfu, einem Felskarst bei Themen, einem Tempelweg bei Gizeh und vom Ramsestempel in Theben.
Warum das so genau zu bestimmten ist? Gerhard Richter malte nach einer Seite in einem Buch und übernahm dabei nicht nur das Layout, sondern auch die Beschriftung und rückte das Sujet leicht aus dem Zentrum. Mit diesen frühen Fotobildern wollte der damals in Düsseldorf lebende Maler Fotoähnlichkeit erreichen, um von der Fotografie die Eigenschaften Authentizität und Objektivität zu übernehmen. Ab 1964 arbeitete Richter mit einem Episkop, um die Übertragung von der Fotovorlage incl. Vergrößerung auf die Leinwand möglichst genau zu bewerkstelligen und seine Handschrift auf ein Minimum zu reduzieren. Und dennoch ging es ihm dabei nicht um die Qualität eines scharf fotografierten und reproduzierten Bildes, wie es im Vergleich dazu die Fotorealisten anstrebten, sondern darum, die Malerei auf ihre eigenen Möglichkeiten abzuklopfen. Dies erzielt Richter mithilfe der Unschärfe, unterschiedlicher Pastozität des Farbauftrags. Vor allem die Unschärfe, für die Gerhard Richter in den letzten Jahrzehnten berühmt geworden ist, rückt die Arbeiten in die Nähe der englischen und deutschen Romantik. Unweigerlich assoziiert man mit „Regenbogen“ von 1970, der „Ruhrtalbrücke“ von 1969, „Eis“ von 1981 oder „Wolken“ von 1970 von Caspar David Friedrich (mit Abstrichen Richard Parkes Bonnington, William Turner).
Eingelöst wird die Nähe von Gerhard Richters Landschaften mit der oben erläuterten Nähe vor allem zur deutschen Romantik im zweiten Raum der Schau. Fragen wie Licht und Gegenlicht, Himmel und Land, Perspektive und Atmosphäre führten Gerhard Richter zu enigmatischen Bildlösungen. Richter selbst nennt diese Landschaften „Kuckuckseier“, also eingeschmuggelte Gemälde, deren malerische Finesse und romantisierende Motive das Interesse anlocken, um in ihrem Kern eine medienkritische Haltung zu vermitteln. Nämlich: Wie lässt sich seit den späten 1960er Jahren das Bild einer heilen Welt, einer naturverbundenen Lebensweise aufrechterhalten, wenn Ökologie und Umweltschutz immer vehementer auf die Zerstörung derselben hinweisen? Die Antwort mag im komplexen Wort DEPRIVATION liegen, dem Gefühl von Verlust und der Isolation von etwas Vertrautem.
Der fortgeschrittenen Industrialisierung setzt Richter Bilder von ruhigen Landschaften entgegen, die dennoch Zeichen der Zeitgenossenschaft wie die, den Horizont linear betonenden Ruhrtalbrücke in sich tragen. Formal näherte er sich dem berühmten Romantiker an, der ebenso mit tiefem Horizont und weiten Himmelsflächen arbeitete.1 Die als „gute Kompositionen“ gewertschätzten Gemälde Friedrichs bieten Richter, wie er 1973 in einem Interview mit Jean-Christophe Ammann erklärte, „betrifft es [ein Bild von Caspar David Friedrich, Anm. AM] uns, überideologisch, als Kunst“.2 Allerdings teilt Gerhard Richter nicht das Konzept der spirituellen Aufladung der Landschaft, wie es für Caspar David Friedrich wichtig ist und Hubertus Butin schon herausgearbeitet hat (vgl. Caspar David Friedrich: Das Eismeer).3 Nachdenken lässt sich in Bezug auf Richters Haltung und Ausgangspunkt über seine Nähe zu Künstlern der vorletzten Jahrhundertwende, allen voran den symbolistischen Landschaftsmalern, die auf die Industrialisierung mit meist melancholischen „Seelenlandschaften“ reagierten.
Vor allem ab 1968 entstanden regelmäßig Landschaften, denen häufig ein fehlender gesellschaftspolitischer Impetus zugesschrieben wurde. Zu stimmungsvoll und romantisierend muteten sie an. Gerhard Richter selbst begründete die Motivwahl mit einer Art von Resignation gegenüber der Minimal Art, weshalb er sich – aus Spaß – mit landschaftlichen Motiven beschäftigte. Seit vierzig Jahren zog es den Maler konsequent immer wieder zur Landschaft. Seit den späten Sechziger Jahren arbeitet Richter nach selbst geschossenen Fotografien und Urlaubsschnappschüssen, die er einem peniblen Auswahlprozess unterzieht. Erstmals 1971 im Düsseldorfer Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen in der Öffentlichkeit präsentiert, zeigte sich die Kritik angesichts der traditionsbeladenen Schönheit der Landschaften verständnislos. An diesem Punkt setzt Kuratorin Lisa Ortner-Kreil an, wenn sie angesichts von Corona- bzw. Klimakrise ein verändertes Verhältnis der Gesellschaft zur Landschaft konstatiert und damit die heutige Anziehungskraft von Richters Landschaften kultur- und zeithistorisch einordnet.
Mitte der 1960er Jahre vollzog Gerhard Richter in und mit seinem Werk eine Reihe von Volten, die auch noch in der Rückschau an Dynamik nicht zu wünschen übrig lassen: Mit dem monochromen Porträt „Onkel Rudi“ setzte er sich 1965 mit einer Fotografie und seiner Familiengeschichte auseinander. Gleichzeitig beschäftigte er sich mit Vorhängen, Fenstern und Röhren (→ Gerhard Richter: Über Malen / frühe Bilder). Ein Jahr später schuf Richter eine Reihe von Farbtafeln.
Ab 1968 setzte er mit dem Motiv der unscharfen Stadtbilder ein, ausgelöst durch den Auftrag der Firma Siemens, ein Bild für ihre italienische Hauptfiliale zu malen. Auch wenn der erste Versuch zunächst scheiterte und der Künstler die 275 x 290 cm große Leinwand in neun gleich große Stücke zernschnitt, so entdeckte er doch die Qualität des pastosen Städtebildes, das er seither zu einer umfangreichen Serie entwickelte. Drei frühe Städtebilder hängen im zentralen Raum der Ausstellung, der abstrakten Werken mit lokal ausgewiesenen Titeln gewidmet ist. Die im selben Jahr entstandenen Gemälde vom Himalaya schließen etwas weiter hinten an.
Dass Gerhard Richter seit den 1960ern zwischen Abstraktion und Figuration hin- und herspringt, hinterließ auch Spuren in seiner Beschäftigung mit dem Landschaftsmotiv. In den 1980er Jahren malte er melancholisch durchwirkte Landschaften, die nahsichtiger und dadurch auch grüner, mit Hügeln und Wasserfällen abwechslungsreicher erscheinen, die weniger Spannung aus dem Gegensatz von Land und Himmel ziehen. Mit Werken wie diesen gelangt Richter der internationale Durchbruch, erwarb doch das Museum of Modern Art „Wiesental“ (1985) auf einer New Yorker Ausstellung. Richter präsentierte dort 28 abstrakte Bilder und fünf naturalistische Landschaften. Seither zeigen sich Kritik, Institutionen und Publikum begeistert von der Experimentierfreude des inzwischen in Köln lebenden Malers. Und auch heute noch kann man bewundernd vor dem großen abstrakten Bild „St. Gallen“ von 1989 stehen und angesichts von Sigmar Polke und Gerhard Richters (ironische?) Umwandlung des Piz Buin in eine spiegelnde Kugel (1968) oder s/w-Detailaufnahmen eines Werks in Streiflicht nachvollziehen, wie Richter das Landschaftliche im Abstrakten oder das Abstrakte in der Landschaft entdeckt. Dass es schlussendlich nicht um das Dargestellte geht, sondern um die Malerei an sich, ihre Möglichen, die Auswahl und technischen Fähigkeiten des Künstlers, seinen Blick auf die Welt – und mehr noch auf die Malerei – mag die Schlussfolgerung dieser Überlegungen sein.
„Bei einem gegenständlichen Bild male ich den Anblick einer vorhandenen Sache [mithilfe eines Fotos], bei einem abstrakten formt sich allmählich das Bild einer Landschaft, die ich nicht kenne.“4 (Gerhard Richter, 2009)
FAZIT: Wien darf sich glücklich schätzen, dass die Leitung des Kunstforum diese Ausstellung in diesem Herbst ermöglicht! Wien darf sich noch glücklicher schätzen, dass Gerhard Richter das Projekt so allumfassend auch mit Leihgaben aus seinem Besitz unterstützte!! Unbedingt anschauen gehen!!!
Lisa Ortner-Kreil, Hubertus Butin und Cathérine Hug (Hg.)
mit Beiträgen von Hubertus Butin, T. J. Demos, Matias Faldbakken, Cathérine Hug, Lisa Ortner-Kreil
ISBN 978-3-7757-4712-7 (D)
ISBN 978-3-7757-4713-4 (E)
Hatje Cantz Verlag