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Henri Matisse. Der Plastiker Kunsthaus Zürich zeigt „Matisse – Metamorphosen“

Henri Matisse, Nu de dos (I–II), 1908–1909, Bronze, 190 x 118 x 19 cm / 190 x 118 x 19 cm (Kunsthaus Zürich © Succession Henri Matisse / 2018 ProLitteris, Zürich)

Henri Matisse, Nu de dos (I–II), 1908–1909, Bronze, 190 x 118 x 19 cm / 190 x 118 x 19 cm (Kunsthaus Zürich © Succession Henri Matisse / 2018 ProLitteris, Zürich)

Henri Matisse (1869–1954)

war bereits zu Lebzeiten als revolutionärer Maler und Erfinder der „Papiers découpés“ berühmt. Dass er aber auch in Ton und Gips modellierte und Wert darauflegte, als Bildhauer öffentlich wahrgenommen zu werden, ist weit weniger bekannt. Ein Grund mag sein, dass Matisses in seiner Plastik eine völlig eigenständige Ausdrucksweise entwickelte, die er im Laufe seines künstlerischen Lebens in Form von insgesamt 84 meist kleinformatige Arbeiten realisierte. Das Musée Matisse in Nizza konnte sich zur Ausleihe von 43 Werken von 58 Skulpturen aus seiner Sammlung entschließen und wird die Ausstellung im Frühjahr 2020 in einer abgewandelten Form selbst präsentieren. Dazu stellen die vier Bronzereliefs „Rückenakt (I-IV)“ aus dem Kunsthaus Zürich und „Jeannette I–V“ seine plastischen Hauptwerke und Meilensteine in der Skulptur der Moderne dar. Die Ausstellung im mehr als 1.000 Quadratmeter großen Bührlesaal setzt bei Matisses Methodik an, seine Plastiken in Form der dokumentierten Metamorphose zu entwickeln.

Matisse – Metamorphosen

Schweiz | Zürich: Kunsthaus Zürich
30.8. – 8.12.2019

Frankriech | Nizza: Musée Matisse
7.2. – 6.5.2020

Mitnichten stellten die Plastiken nur eine „Ergänzung (s)einer Studien“ dar, wie Sandra Gianfreda in ihrem Katalogbeitrag nachvollziehbar herausarbeitet, sondern waren für ihn von großer Bedeutung. Den häufig zitierten Satz sprach der Maler gegen Ende seines Lebens, als er sich schon seit Längerem nicht mehr mit dem Modellieren in Ton beschäftigte. Die Ausstellungsgeschichte, so die Kuratorin, spräche eine andere Sprache und belegt, dass Matisse ab 1904 seine aus eigenem Antrieb gefertigten Skulpturen1 – in Form von Gipsen, Terrakotten und Bronzen – regelmäßig dem Publikum vorführte. Der Erfolg zu seinen Lebzeiten war jedoch, gelinde gesagt, äußerst begrenzt. Erst Mitte der 1980er Jahre wurde die Grenzüberschreitung zwischen Malerei und Plastik erstmals eingehend gewürdigt.

 

Matisses erste plastische Gehversuche

Henri Matisse begann 1890 zu malen – zehn Jahre später wandte er sich auch der Plastik zu. Hatte er als Maler Versuche unternommen, eine akademische Ausbildung zu erhalten, so nahm er als Plastiker Unterricht bei Antoine Bourdelle, der zur gleichen Zeit für Auguste Rodin arbeitete. Obschon die erste dokumentierte Skulptur Matisses eine Interpretation nach Bayre ist, stellt die Bildstrecke im Katalog zuerst Auguste Rodin, Antoine Bourdelle, Aristide Maillol und Pierre-Auguste Renoir vor. Auf ihren Grundlagen baute Matisse mit seinem ab 1899/1900 entstandenen plastischen Frühwerk auf: buckelige Oberflächen (Rodin), sensualistische Frauenakte (Maillol, Renoir), Fragmentierung und die Betonung des „Gemachten“ (Rodin, Bourdelle).

Im Werkverzeichnis von Matisse ist „Jaguar, einen Hasen verschlingend (nach Barye)“ (1899–1901, Centre Pompidou, Paris) die früheste dokumentierte Plastik. Matisse soll das Original von Antoine-Louis Barye zuerst mit geschlossenen Augen abgetastet haben, um nicht in Versuchung zu kommen, eine banale Kopie des Werks anzufertigen. Stattdessen ging es ihm um die Interpretation der Empfindungen (franz. sensations), die das Objekt in ihm ausgelöst hatte. Der Gegenstand taucht als Motiv im pointillistisch gemalten „Stillleben (Buffet und Tisch)“ (1899, Kunsthaus Zürich) wieder auf, was die Verschränkung von Malerei und Plastik, die wechselseitige Einflussnahme im Werk von Matisse verdeutlicht.

Zu den frühesten bekannten Werken von Henri Matisse als Plastiker gehört „Der Leibeigene“ (1900–1903, Musée Matisse, Nizza). Dieser geht eindeutig auf breitbeinig stehende Männerakte von Rodin zurück, wie die überlebensgroße Figur des „Jean d’Aire (Große Aktstudie zu den Bürgern von Calais)“ (1887) eindrucksvoll belegt. Im Vergleich zu seinem verehrten Vorbild sind Matisses Plastiken allerdings handlich; 205 Zentimeter treffen auf 92,3 Zentimeter. Auf nur die Hälfte der Größe des „Leibeigenen“ bringen es „Madeleine I“ (1901, San Francisco Museum of Modern Art) und „Madeleine II“ (1903, Musée Matisse, Nizza). Matisse bricht deutlich mit jeglichem Schönheitsideal, die Klassizität eines Maillol war ihm offenbar gänzlich fremd. Die Suche nach einem geeigneten Ausdruck führte so weit, dass Matisse die Figur nicht im Detail ausformulierte, Arbeitsspuren des Gießprozesse sichtbar stehenließ und die Proportionen verformte. Anhand dieser beiden Figuren wird die Arbeitsweise von Henri Matisse erstmals deutlich, nämlich mehrere Versionen einer Plastik anzufertigen – und dann alle gleichberechtigt und „didaktisch“, wie er es selbst nannte, nebeneinander auszustellen. Diese Arbeitsmethode und Ausstellungspraxis gab es vor Matisse nicht!

„Was mich am meisten interessiert, ist weder das Stillleben noch die Landschaft – es ist die Figur.“ (Henri Matisse, Notizen eines Malers, 1908)

 

Wie schuf Henri Matisse seine Plastiken? In Form von Metamorphosen!

Zu den wichtigsten Leistungen von Henri Matisse im Bereich der Plastik zählt, dass er seine Werke als Ergebnisse eines Prozesses verstand. Darum ließ er die Zustände der Arbeiten mithilfe von Gipsformen dokumentieren. Dabei schreckte der Maler-Plastiker nicht davor zurück, diese Zustände auch öffentlich neben den finalen Werken auszustellen und zu publizieren. Inspirationsquellen für Matisses plastisches Werk waren neben Rodin, auch Michelangelo Buonarroti und die Kunst der Antike, Fotografien weiblicher Modelle und afrikanische Kunst hauptsächlich aus West- und Zentralafrika (→ Afrikanische Kunst).

Ziel der Weiterentwicklung seiner Tonskulpturen war von einem naturalistischen Abbild zu einer stärker abstrahierten Interpretation zu kommen. Diese erreichte Henri Matisse offensichtlich nicht auf einfachem Weg – und der Künstler war willens, diese Arbeit auch anhand von „Zuständen“ vorzuführen. Er fixierte Zustände seiner Plastiken und ließ diese auch in Bronze gießen, wobei Arbeiten wie „Jeannette I–V“ (1910/11, 1916) die zunehmende Abstrahierung sprunghaft vorführt. Wer „Jeannette V“ vor Augen hat, wird ohne den Titel kaum selbst darauf stoßen, es mit einer Abwandlung von „Jeannette I“ zu tun zu haben. Dass der Abstraktionsvorgang aber immer ein organischer bleibt, macht ein Vergleich mit Raymond Duchamp-Villons aus geometrischen Formen zusammengesetzten „Pferdekopf“ von 1914 aus dem Kunsthaus Zürich deutlich. Vielmehr speist sich Matisses Formenvokabular aus Werken der afrikanischen Kunst, darunter Köpfen und Helme der Kuba und Yoruba.

Dass das Arbeiten mit den Prinzip Metamorphose auch im Bereich der Malerei für Matisse eine große Rolle spielte, zeigen Ausstellung und Katalog anhand von drei späten Gemälden: „Die blaue Bluse“ (17. März 1936, Kunstmuseum Bern), „Der Arm“ (1. Juni 1938, Privatbesitz), „Stillleben mit Austern“ (3. Dezember 1940, Kunstmuseum Basel) und „Stillleben mit Muschel auf schwarzem Marmor“ (4. Dezember 1940, The Pushkin State Museum of Fine Arts, Moskau). Begleitet werden sie von einer Reihe von Zeichnungen, die als „Thema mit Variationen“ verstanden werden können. Ein Foto von Hubert de Segonzac zeigt Matisse 1942 in Nizza-vor Cimiez Zeichnungen der Folge „Themen und Variationen“.

 

 

Matisse. Der Plastiker – Metamorphosen im Kunsthaus Zürich: Bilder

  • Edward Steichen, Henri Matisse arbeitet an „La Serpentine”, 1909 (Musée d‘Orsay, Paris. Foto © Musée d‘Orsay, Dist. RMN-Grand Palais / Patrice Schmidt, © The Estate of Edward Steichen / 2018 ProLitteris, Zürich; © Succession Henri Matisse / 2018 ProLitteris, Zürich)
  • Henri Matisse, Nu de dos (I–IV), 1908–1930, Bronze, 190 x 118 x 19 cm / 190 x 118 x 19 cm / 190 x 114 x 16 cm / 190 x 114 x 16 cm (Kunsthaus Zürich © Succession Henri Matisse / 2018 ProLitteris, Zürich)
  • Henri Matisse, Nu de dos (I–II), 1908–1909, Bronze, 190 x 118 x 19 cm / 190 x 118 x 19 cm (Kunsthaus Zürich © Succession Henri Matisse / 2018 ProLitteris, Zürich)

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  1. Einzig die Skulptur des „Christus“ für die Rosenkranzkapelle in Vence war eine Auftragsarbeit.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.