Das Œuvre von Franz Gertsch (* 1930) ist zugegebenermaßen überschaubar – zumindest die Anzahl der monumentalen Bilder. Seit 1976 sind insgesamt 28 Gemälde und 15 monochrome Holzschnitte entstanden, denn der Schweizer Fotorealist arbeitet bis zu einem Jahr an einer Komposition. Die von Götz Adriani kuratierte Schau im Museum Frieder Burda in Baden-Baden zeigt 30 monumentale Gemälde und Holzschnitte vor allem jüngeren Datums, greift jedoch auch auf die fotorealistischen Bilder der 70er Jahre zurück. Noch nie in Deutschland ausgestellte Werke wie das Triptychon „Guadeloupe“ mit den Bildern „Bromelia“, „Maria“ und „Soufrière“, entstanden 2011–2013, bilden das Zentrum der Schau mit dem Titel „Geheimnis Natur“.
Franz Gertsch. Geheimnis Natur
Deutschland | Baden-Baden: Museum Frieder Burda
26.10.2013 – 16.2.2014
Vor knapp 20 Jahren hat die Staatliche Kunsthalle in Baden-Baden Franz Gertsch bereits eine Einzelausstellung gewidmet: 1994/95 präsentierte man gemeinsam mit dem Kunstmuseum Basel seine monumentalen Holzschnitte. Das Motto von damals ähnelte bereits dem heutigen: „Die Kunst liegt in der Natur. Wer sie herausreißen kann, der hat sie.“ Dieses Zitat aus Albrecht Dürers „Ästhetischen Exkurs zur Proportionslehre“ (1528 → Albrecht Dürer. Kunst – Künstler – Kontext) prägt das Schaffen von Franz Gertsch, seitdem er als Jugendlicher in der Bibliothek seines Vaters die Biografie des Renaissancekünstlers von Moritz Thausing entdeckte.1
Bis heute ist das Schaffen von Franz Gertsch tief mit der Natur verbunden. Er malt und schneidet dicht wachsende „Gräser“, verschiedene Pflanzen wie „Enzian“ oder „Pestwurz“, findet Gefallen am komplexen Wellenspiel des „Schwarzwassers“ und der Abfolge der vier Jahreszeiten in einem Waldeinblick oder bringt wie in den neuesten Arbeiten alles zusammen. Aber auch das Malmaterial mit Bienenwachs oder Dammarharz vermischte Mineralpigmente entstammen Gertschs Verbundenheit mit der Natur. „Dürers Credo: „Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reissen, der hat sie“, von meinem Vater, als ich noch ein Kind war gepredigt, erhielt wieder Bedeutung. Bei mir hieß das Herausreissen in erster Linie das Finden geeigneter Motive aus der unermesslichen Vielfalt der Natur. Ich fand sie rund um’s Haus und im Tal am wilden Schwarzwasser.“ (Franz Gertsch) Das jüngste Werk, das Triptychon „Guadeloupe“, wurde erst im Sommer 2013 fertiggestellt und entstand nach Dias aus dem Jahr 1985. Mit ihm verbindet er, einem dreiflügeligen Altar nicht unähnlich, das Bild seiner Ehefrau Maria mit den Landschafts- und Naturschilderungen „Bromelia“ und „Soufrière“ an den „Flügeln“.
Die Franz Gertsch gewidmete Retrospektive wird von einem Katalog begleitet, der ein Gespräch zwischen Götz Adriani und dem Künstler sowie einen Text von Anna Wesle über das malerische Spätwerk beinhaltet. Adriani und Gertsch unterhalten sich über den Zyklus der „Vier Jahreszeiten“, der zwischen 1994 und 2011 entstanden ist („Frühling“ 2009–2011; „Sommer“ 2008–2009; „Herbst“ 2007–2008; „Winter“ 2009). Über die Entstehung der vier Gemälde und die Verwendung von Materialien kommen beide auf die 70er Jahre zu sprechen. Schnell wird deutlich, dass die Wahl der richtigen Leinwände, Farben und Papiere für Gertsch eine genauso lebenslange Beschäftigung darstellt wie die Entscheidung für eine bestimmte Fotovorlage: In New York entdeckte er beispielsweise Cotton Duck No. 10 als Leinwand, in Kyoto wird er die riesigen handgeschöpften Papiere für seine Holzschnitte herstellen lassen und auch Mineralfarben einkaufen.
Zu den bestimmenden Faktoren in Gertschs Malweise zählt aber auch die eingesetzte Zeit, benötigt er doch für die Ausführung seiner Drucke und Bilder manchmal mehr als ein Jahr. Diese Form der Entschleunigung, die dem aktuellen Drang nach Geschwindigkeit diametral gegenübersteht, drückt sich auch in Gertschs bisherigem Interesse an der heimischen Natur aus. „Bilder“, so der Künstler, „sind meine Biografie“. Die zwischen 1986 und 1995 entstandenen monumentalen Holzschnitte zeigen die Umgebung seines Hauses in Rüschegg, wohin die Familie 1976 umgezogen ist. Der Holzschnitt „Rüschegg“ (1988–1989) markiert den Übergang zum aktuellen Werk, in dem einerseits noch die traditionelle Landschaftsmalerei über das Motiv des Weges, der in die Tiefe führt (und gleich dort auch wieder abgestoppt wird), und andererseits die Natur einen neuen Stellenwert in der Bildwelt Gertschs erhält. Nie interessierte sich der Künstler für Weite, sondern für die Steine, Wege, Bäche und Pflanzen seines direkten Lebensumfelds. Waren es zuvor noch Menschen aus seinem Bekanntenkreis gewesen (z.B. Luciano Castelli in „At Luciano’s House “ und „Gaby und Luciano“, beide 1973), die er abfotografierte und in ihrem zeittypischen Habitus realistisch verewigte, so hat sich das Interesse des Künstlers zugunsten der „Lichtmalerei“ verschoben und gleichsam folgerichtig eine sehr spezielle Technik des Holzschnittes hervorgebracht: Mit Hilfe von hunderttausenden kleinen Lichtpunkten werden die Objekte in ihrer Form und Dreidimensionalität, als nah oder fern beschrieben. Diese Arbeit lässt keine Korrekturen zu. Die frühen Mädchenköpfe2 wie „Johanna I“ (1983–1984) und die monochromen Holzschnitte wie „Natascha IV“ (1987–1988) führen als „ruhige Gesichtslandschaften junger Frauen“ (Franz Gertsch, S.62) zu Naturschilderungen wie „Schwarzwasser I“ (1990–1991) oder „Pestwurz“ (1993). Für den „Peintre-graveur“ (Adriani, S.54) ist daher wenig Unterschied zwischen der Erfahrung, ein Porträt zu malen, dessen Körperteile zu Landschaftsformationen werden (z.B. das Auge als See, die Haut und die Haare als Wälder), und Pflanzen zu schneiden. Diese Pflanzendrucke wiederum inspirierten Franz Gertsch zu seinen späten Naturgemälden, die sich über die detailgenaue Schilderung von Waldzwenken in „Gräser I“ (1995–1996) über „Gräser II“ (1996–1997), „Gräser III“ (1997) und „Gräser IV“ (1998–1999) zu den größeren Ausschnitten der „Vier Jahreszeiten“ und von „Guadeloupe“ bis heute weiterentwickelten.3
Anna Wesle betont, wie wichtig für den Künstler das 2002 entstandene Museum gewesen sei, für das er seither bedeutende Werkzyklen geschaffen habe. Während in den 70er und 80er Jahren Franz Gertschs Malerei dem Momenthaften und dem Zeitgeist verhaftet gewesen war, sind es nun die Zeitlosigkeit (z.B. in den Mädchenköpfen wie „Silvia“, 1998–2004) und der Vergänglichkeit der Zeit gleichermaßen. In den über den Zeitraum von zwölf Jahren aufgenommenen Dias, die als Vorlagen für den Jahreszeiten-Zyklus dienten, steckt die Veränderung des Landschaftsausschnitts wie auch der Jahresablauf. Der Wechsel zwischen Nähe und Ferne, Schärfe und Unschärfe ist hier auf eine neue Spitze getrieben, indem der Fotorealismus der Betrachtung aus der Ferne mit der malerischen Auflösung einer Detailbetrachtung korreliert. Diese Herangehensweise hat Franz Gertsch für das Triptychon „Guadeloupe“ (2011–2013) noch verstärkt. Detailaufnahmen von den Spätwerken im Katalog führen diese technische Veränderung vor. Wie Anna Wesle für den Jahreszeiten-Zyklus betont hatte, ist der Lauf der Zeit sowohl in der Abfolge der Jahreszeiten als auch der langen Zeitspanne zwischen den Fotovorlagen inhärent. Im Triptychon wächst und verdorrt die Vegetation in einem Bild (S. 100-101). Man könnte auch einfach sagen: Grün und Orangeocker stehen in der Karibik gleichberechtigt nebeneinander.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Interview zwischen Franz Gertsch und Götz Adriani viele materialtechnische Belange klärt, die Hand in Hand mit der jeweiligen künstlerischen Situation gingen. Die Wahl des Mediums steht deutlich im Vordergrund, während kunsthistorische Einordnungen wenig Berücksichtigung finden, da sie von Gertsch gleich zu Beginn zurückgewiesen werden (Adriani versuchte den Akt „Maria“ in die lange Tradition von Giorgione über Tizian, Diego Velázquez, Francisco de Goya, Ingres, Edouard Manet bis zu Lucian Freud einzugliedern). So wird deutlich, wie sehr Franz Gertsch sein Werk als ein Ergebnis eines handwerklichen Prozesses sieht, der sich schlussendlich auch in den gemalten Zyklen als Ablauf der Zeit wiederfinden lässt. Natur und Dinge werden als geheimnisvolle Wesen empfunden, deren Eigenschaften nicht zu ergründen sind, und die deshalb gleichberechtigt auf der Leinwand ihren Platz nebeneinander finden. Oder wie Gotz Adriani es am Ende des Gesprächs formulierte: „Erst Nah- und Fernsicht gemeinsam ergeben das fulminante Zusammenspiel aus Einzelheit und Gesamteindruck.“ (S. 78)
Stiftung Frieder Burda / Götz Adriani (Hg.): Franz Gertsch. Geheimnis Natur (Ausst.-Kat. Museum Frieder Burda, Baden-Baden 26.10.2013–16.2.2014) Baden-Baden 2013 (Hatje Cantz Verlag, Ostfildern).
Franz Gertsch - Die Holzschnitte (Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bern, Kunsthalle Baden-Baden 1994-1995) Basel 1994.
Moritz Thausing: Dürer. Geschichte seines Lebens und seiner Kunst, Leipzig 1876.
Am 8.3.1930 in Mörigen im Schweizer Kanton Bern geboren
1942 beginnt mit zwölf Jahren zu malen, um die Landschaft seiner Kindertage einzufangen
1947–1950 Ausbildung in der Malschule Max von Mühlenen, Bern
1950–1952 Handwerkliche Studien bei Hans Schwarzenbach, Bern
1963 Heirat mit Maria Meer (* 1936)
1969 Erste großformatige realistische Gemälde
1970 Familien- und Gruppenszenen, Situationsporträts
1971 lernt Luciano Castelli kennen, der eines seiner Liebelingsmodelle wird.
1972 Teilnahme mit dem Bild „Medici“ auf der documenta 5 in Kassel und internationaler Durchbruch
1973 „At Luciano’s House “ und „Gaby und Luciano“
1976 Umzug nach Rüschegg, Kanton Bern
1978 Teilnahme an der Biennale in Venedig
1980 Beginn der Porträtserie mit Selbstbildnis; danach Irène, Tabea, Verena, Christina, Johanna
1986 Gibt vorübergehend die Malerei auf; Beginn großformatiger Holzschnitte
1990–1991 „Schwarzwasser I“
1994 Wiederaufnahme der Malerei; bis 1999 Entstehung von „Gräser I–IV“
1999 und 2003 Biennale in Venedig
2002 Eröffnung des Museum Franz Gertsch im Schweizerischen Burgdorf
2007–2011 Vier Jahreszeiten-Zyklus mit den Gemälden „Herbst“ (2007/08), „Sommer“ (2008/09), „Winter“ (2009) und „Frühling“ (2009–2011)
2011–2013 Triptychon „Guadeloupe“ mit „Maria“ (2011/12), „Bromelia“ (2012) und „Soufrière“ (2012/13)