Am 5. Februar eröffnete „Ausstellung Ungarischer Maler“ in der Berliner Secession, in der die jüngere Generation ungarischer Maler erstmals geschlossen auf sich aufmerksam machen konnte. Am 3. März 1910 erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift „Der Sturm“, herausgegeben von Herwarth Walden. Mithilfe der Wochenschrift, der gleichnamigen „Sturm-Galerie“ und den dort vertretenen Künstler:innen sollte der erstarrte Kulturbetrieb und die Bürgerlichkeit des wilhelminischen Deutschland aufgebrochen werden. In über 30 Ausgaben und 18 Titelblättern konnten sich Abonnent:innen mit Werken ungarischer Künstler:innen vertraut machen.
Deutschland | Berlin: Berlinische Galerie
3.11.2022 – 6.2.2023
Mehr als nur László Moholy-Nagy: Der Berlinischen Galerie gelingt eine Ausstellung, die Austausch und internationale Vernetzung zwischen Berlin und Budapest von 1910 bis 1933 mustergültig analysiert. Die beiden behandelten Dekaden waren mannigfaltigen politischen Krisen und Umbrüchen ausgesetzt, doch ging vom Beitrag ungarischer Kunstschaffender vor allem in der Weimarer Republik ein nicht zu unterschätzender Impuls aus (→ Klassische Moderne).
Einmal mehr war es die Berliner Secession, die mit ihrem internationalen Netzwerk ungarische Künstler:innen nach Berlin holte: 1910 debütierten in der „Ausstellung Ungarische Maler“ (5.2.‒3.3.1910) u.a. Róbert Berény, Béla Czóbel, Jenő Feiks, Károly Ferenczy, Károly Kernstok, Bertalan Pór, József Rippl-Rónai und Lajos Tihanyi. Das Plakat gestaltete der aus Prag stammende und der Wiener Secession verbundene Emil Orlik; der Katalog listet 197 Werke vom Stimmungsimpressionismus bis zum Fauvismus auf.
Die in Berlin ausgestellte Auswahl an atmosphärischen spätimpressionistischen und farbfreudig fauvistischen Gemälden der Ungarn zeigt deutlich, wie sehr sich die ungarische Kunst um 1910 an Paris orientierte. Das irritierte wiederum die konservative Kritik in Berlin. Dennoch konnten die ungarischen Maler in der Hauptstadt reüssieren, die Premiere, wenn man im musikalischen Bild bleiben darf, war geglückt. Aber: Noch nichts in diesen Bildern weist auf die revolutionäre Kraft der ungarischen Kunstschaffenden im Berlin der 1920er Jahre hin.
Róbert Berény und Bertalan Pór, vor dem Ersten Weltkrieg noch Vertreter des Spätimpressionismus, stellten nach dem Zerfall der Doppelmonarchie ihre Kunst in den Dienst des revolutionären Plakats. Nichts erinnert mehr an die idyllischen Szenen, wenn Berény 1919 „Zu den Waffen! Zu den Waffen!,“ ruft, oder Bertalan Pór den bekannten Aufruft aus dem „Kommunistischen Manifest“ – „Proletarier der Welt, vereinigt euch!“ – in einem Plakat gleichsam als Pas-de-deux aufführen lässt.
Neben Sándor Bortnyik, Ernő Jeges, Miltiadész Manno, Jolán Szilágyi, Béla Uitz und Gusztáv Végh prägte vor allem Mihály Biró (1886–1948) das Plakat dieser Zeit. Während der Räterepublik war der in England und Frankreich ausgebildete Biró „Regierungskommissar für illustrierte politische Plakate“. Sein im Plakat übermächtiger Kommunist, der den Kaiser vom Tron stürzt und das Parlament in Budapest Rot anstreicht aus dem Jahr 1918, wird kurz darauf zum „Roten Mann“ – Birós Markenzeichen.
Diese Aufbruchstimmung währte jedoch nicht lange: 1919 herrschte 133 Tage in Ungarn jene sozialistische Räteregierung, in der sich zahlreiche Künstler:innen einbrachten. Diese Phase mündete im August in der Machtübernahme durch das nationalkonservative, autoritäre Horthy-Regime und der politischen Verfolgung linksgerichteter und jüdischer Intellektueller und Kunstschaffender.
September 1916: Lajos Kassák1 (1887–1967), seines Zeichens Lyriker, Künstler, Herausgeber und Organisator, gründete die progressive Zeitschrift „Ma [Heute]“. Damit folgte der Schriftsteller dem Vorbild von Herwarth Waldens „Der Sturm“ in Berlin. Doch nicht nur die Publikation inspirierte die Agenda des sozialistischen Herausgebers, organisierte er doch avantgardistische Vortragsabende und Ausstellungen und ließ eine eigene Kunstpostkartenserie drucken.2 Die Beziehung von Kassák und Walden wurde ab 1917 noch enger, als erster kommissarisch den „Sturm“ in Budapest zu vertreten begann. Im Zuge der politischen Umwälzungen in der Nachfolge der Russischen Revolution und des Zerfalls der Doppelmonarchie radikalisierten sich die an „Ma“-beteiligten Künstler:innen und forderten offen eine proletarische Revolution.
In der Folge änderten die Kunstschaffenden ihren Stil und wechselten vom Expressionismus zum Konstruktivismus. Vor allem Sándor Bortnyiks aus dynamischen Kraftlinien bestehenden und zur Abstraktion neigenden Kompositionen wurden stilprägend. Im Gegensatz zur Entwicklung in Russland, wollte Kassák jedoch eine vom Staat und von der Partei unabhängige Kunst etablieren:
„Wir wollen eine sozialistische Kunst, jedoch [...] ohne die Anpassung an Befehle von außen. [...] Unsere Aufgabe ist mit der des Parteiagitators ebenso wenig identisch wie auch die Aufgabe des forschenden Wissenschaftlers nicht identisch ist mit der des Lehrers, der Lektionen einbüffeln lässt.“3 (Lajos Kassák, 1918)
Damit scheiterte der Autor und Herausgeber, waren doch die Vertreter der Räterepublik, darunter der Philosophen György (Georg) Lukács, keine Verfechter der Moderne. Nachdem „Ma“ im Juli 1919 eingestellt wurde und kurz darauf das Horty-Regime an die Macht kam, floh Lajos Kassák zuerst nach Wien, wo er im Mai 1920 „Ma“ wiederbegründete, und weiter nach Berlin. An die Stelle der Revolution trat nach Auseinandersetzung mit dem Dadaismus die „Bildarchitektur“. Kassák, Sándor Bortnyik, Ernst Kállai und László Moholy-Nagy setzten geometrische Abstraktion und Collage ein, um verändernd auf Denken und Weltbild der Arbeiterklasse einzuwirken. Die visuelle Sprache des „Internationalen Konstruktivismus“ sollte verbindend und schlussendlich „heilend“ wirken. Wenn sich auch die sozial-politischen Ziele als Utopie herausstellen sollten, so entwickelten Künstler:innen während ihrer Arbeit für „Ma“ jene Überzeugungen, die kurz darauf im Bauhaus richtungsweisen werden sollten.
In der Ausstellung der Berlinischen Galerie analysiert Bortnyiks expressionistische Darstellung „Der Meister und seine Schüler“ (1921, Ungarische Nationalgalerie) die Beziehung Waldens zu seinen „Anhängern“. Die zentrale Figur mit dem markanten Kopf Waldens steht gestikulierend am Tisch, während seine „Schüler“ andächtig dem Vortrag lauschen. Obschon Kleidung und geometrisierte Darstellung die Figuren zu einer Gruppe formen, die durchaus an ein Mönchskolleg erinnert, wird die Hierarchie über die Bedeutungsperspektive bzw. Vorder- und Rückansichten deutlich festzementiert. Dem Berliner Galeristen dürfte diese Art der Hommage wohl gefallen haben – zumindest widmete er den Ungar:innen 24 Einzelausstellungen. Die stilistische Bandbreite war dabei enorm und reichte von ungegenständlichen Kompositionen von László Moholy-Nagy, Peter László Péri und Lajos D’Ébneth zur expressiv-abstrahierenden „Seelenblume“ (1923) von János Mattis Teutsch, von Béni Ferenczys kubisch abstrahierenden Figuren zu Béla Kádárs märchenhaften Bildern, die sowohl an Franz Marc als auch an Marc Chagall erinnern, von Hugó Scheibers „Feuerwerk im Lunapark“ (1925) oder „Auf der Straßenbahn“ (1926) zu Vjera Billers und Aurél Bernáths Bildern aus dem Dorf.
Lajos Tihanyis „Großes Interieur mit Selbstbildnis – Mann am Fenster“ (Ungarische Nationalgalerie) von 1922 wirbt stellvertretend für die Werke seiner Zeitgenoss:innen für die Ausstellung. Tihanyi (1885–1938), durch eine Meningitis-Erkrankung ertaubt und als Künstler Autodidakt, ist eine zentrale Persönlichkeit der ungarischen Moderne. 1910 war er in der Berliner Secession noch als Anhänger der französischen Postimpressionismus vorgestellt worden, während des Kriegs schloss er sich Kassák und „Ma“ an, verteidigte die Räterepublik und floh über Wien nach Berlin. Dort traf er wieder mit Sándor Bortnyik zusammen, der sich in der Zwischenzeit mit dem Bauhaus und Oskar Schlemmers Theater produktiv auseinandergesetzt hatte. Bortnyiks „Die neue Eva“ als auch „Der neue Adam“, beide von 1924, gelten als Hauptwerke des Künstlers. Im Gegensatz dazu zeigt sich Tihanyi mit einigen kubischen Verzerrungen in einem „expressiveren“ Licht.
Umso markanter ist der Bruch mit Noémi Ferenczys naivem Zugang, Brassaïs monochromes „Stillleben mit Weinflasche“ (um 1921), Béla Czóbels, József Batós, József Nemes Lampérths und Andor Weiningers atmosphärisch-expressiven Stadtansichten und Porträts. Dass der Expressionismus –im Jahr 1920 – zumindest im religiösen Bild seine Berechtigung hatte, zeigt Dezső Bokros Birmans Interpretation der Leidensgeschichte von Hiob.
Die ungegenständliche Abstraktion des Konstruktivismus wird in der Berlinischen Galerie vorbildhaft durch Bilder von Sándor Bortnyik und Lajos Kassák vermittelt. Die als „Geometrische Formen im Raum“ (Bortnyik) beschriebenen bzw. als „Bildarchitektur“ (Kassák) benannten Kompositionen aus Flächen, Linien und geometrischen Körpern sollten zur aktiven Wahrnehmung und zum gestalterischen Denken anregen. Peter László Péri übertrug das Konzept auf die Skulptur, während Fred Forbát mit der Siemensstadt und der Reichsforschungssiedlung Haselhorst (1930–1932) das Konzept formal und ideologisch auf die Architektur übertrug (auch zu sehen ist ein Wettbewerbsentwurf von Marcel Breuer). Damit wollten die Ungarn der von Martin Munkácsi eindrucksvoll dokumentierten Wohnungsnot entgegentreten.
Bereits 1927 schlug Lajos D’Ébneth für den Alexanderplatz eine Neugestaltung mit konstruktivistischem Bügelarchitektur und weithin sichtbaren Plakaten vor. Theaterbauten von Oskar Kaufmann (1873–1956) sowie ein Plakat für Erwin Piscator und weitere Bühnenentwürfe von László Moholy-Nagy (fotografiert von seiner Frau Lucia Moholy) prägen bis heute das Stadtbild bzw. revolutionierten die Arbeit auf der Experimental-Bühne der 1920er und 1930er Jahre.
Mit den Aufnahmen von Martin Munkácsi, Éva Besnyő, Miklós Bandy & Stella Simon, Emmerich Göndör, Judit Kárász, György Kepes, Etel Mittag-Fodor und Gyula Pap ist das Berliner Leben der Weimarer Republik festgehalten. Steile Perspektiven, diagonale Kompositionen und scharfe Hell-Dunkel-Kontraste betonen die Dynamik der sich rasant verändernden Metropole – und prägen die Fotografie des Neuen Sehens. László Moholy-Nagy fügt seine Bilder – samt Aufnahmen seines Licht-Raum-Modulators – zu bewegten, abstrakten Filmwerken zusammen. Damit trug er noch Anfang der 1930er Jahre maßgeblich zur Entwicklung des jungen Mediums bei.
Einmal mehr ist es Martin Munkácsi, der ein Foto vom „21. März 1933, Tag von Potsdam, Reichskanzler Adolf Hitler begibt sich in die Garnisonkirche“ macht, abgedruckt in der „Berliner Illustrirten Zeitung“, und kurz darauf die Massen am „Tag der nationalen Arbeit“, Aufmarschplatz auf dem Tempelhofer Feld“ festhält. Den linksgerichteten, meist jüdisch-stämmigen Künstler:innen war bereits seit Jahren das Leben und Arbeiten in Berlin immer schwerer gemacht worden. Gyla Pap, Sándor Ék oder Jolán Szilágyi verdichteten ihre Erfahrungen und Befürchtungen in beißender Satire, bösen Karikaturen und hellsichtigen Analysen. Im Mai 1934 emigrierte Munkácsi in die USA, wo er seine Karriere als Modefotograf bei der Zeitschrift „Harper’s Bazaar“ begann. Viele seiner Kolleg:innen konnten folgen, darunter László Moholy-Nagy, der gemeinsam mit Béla Kádár 1937 auf dem Cover der nationalsozialistischen Hetzschrift „Säuberung des Kunsttempels“ diffamiert werden sollte. Kádár überlebte den Holocaust im Budapester Ghetto – seine Frau und seine Söhne fielen dem Terror hingegen zum Opfer.
Die Ausstellung ist eine Kooperation der Berlinischen Galerie mit dem Museum der Bildenden Künste Budapest.
Mikós Bándy & Stella Simon, Jószef Bató, Róbert Berény, Aurél Bernáth, Eva Besnyö, Vijra Biller, Mihály Biró, Deszö Bokros Birman, Sándor Bortnyik, Brassaï, Marcel Breuer, Fritz Brill, Béla Czóbel, Lajos d’Ébneth, Sándor Ék, Jenö Feiks, Béni Ferenczy, Karoly Ferenczy, Noémi Ferenczy, Alfréd Forbát, Emmerich Göndör, Ernö Jeges, Béla Kádár, György Kákay Szabó, Judit Kárász, Lajos Kassák, Oskar Kaufmann, György Kepes, Károly Kernstok, Miltiadész Manno, János Mattis Teutsch, Etel Mittag-Fodor, László Moholy-Nagy, Lucia Moholy, Martin Munkácsi, Jószef Nemes Lampérth, Gyula Pap, Peter László Péri, Bertalan Pór, Jószef Rippl-Rónai, Willy Römer, Naftalie Rubinstein, Hugó Scheiber, Jolán Szilágyi, Lajos Tihanyi, Béla Uitz, Gusztáv Végh, Andor Weininger