Über 60 Mal hat Paula Modersohn-Becker sich selbst zum Modell genommen. Zwischen 1893 und 1907 porträtierte sich die Künstlerin beinahe jährlich – bisweilen sogar mehrere Male im Jahr. Unter diesen Selbstbildnissen befinden sich prominente Hauptwerke genauso wie überraschende Experimente der Künstlerin. Die Museen Böttcherstraße tragen nun zum ersten Mal mehr als 50 frühe und späte Arbeiten, Gemälde und Zeichnungen, bekannte und bisher nie gezeigte Kunstwerke dieses Genres in einer eigenen Ausstellung zusammen. In drei Räumen geben sie Aufschluss über eine Malerin und Frau, die ihren Status in der Kunst, Gesellschaft und Ehe befragt. Die Ausstellung in Bremen vermittelt kompakt die Entwicklung von der Schülerin Paula Becker zu Paula Modersohn-Becker, der Künstlerin (→ Paula Modersohn-Becker: Biografie).
Deutschland / Bremen: Paula Modersohn-Becker Museum
15.9.2019 – 9.2.2020
„Und nun weiß ich gar nicht wie ich mich unterschreiben soll. Ich bin nicht Modersohn und ich bin auch nicht mehr Paula Becker, Ich bin Ich, und hoffe es immer mehr zu werden.“ (Paula Modersohn-Becker an Rainer Maria Rilke, 17.2.1906)
Im Zentrum der Schau steht das berühmte Bremer Selbstbildnis, das die Inschrift „Dies malte ich mit 30 Jahren an meinem 6. Hochzeitstag PB“ trägt. Das Selbstporträt als Akt zählt zu den Hauptwerken der Künstlerin. Es entstand in Paris, als sich die junge Malerin gerade von ihrem Mann Otto Modersohn trennen wollte und künstlerisch ihre Freiheit auskostete. Das Werk steht an einem Scheideweg – persönlich wie künstlerisch. Obwohl Paula Modersohn-Becker mit den Armen ihren leicht gewölbten Bauch zu umarmen scheint, ist sie zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht schwanger. Vielleicht sollte diese Geste ihren Kinderwunsch ausdrücken. Vielleicht steht sie aber auch für die elementare Schaffenskraft der Frau und Künstlerin: Ein Kind zu gebären und künstlerisch schöpferisch zu sein, wurde häufig miteinander in Beziehung gesetzt.1
Formal wie koloristisch überrascht das Aktselbstbildnis von Paula Modersohn-Becker, dem noch weitere, vor allem Halbfiguren folgten. Zu den bestimmenden Merkmalen ihrer Kunst zählen Einfachheit, Größe und Zeitlosigkeit, wie sie selbst betonte. Unter dem Begriff „Größe“ verstand sie einen allgemeingültigen Zugang, das Gegenteil von Genremalerei. Desgleichen suchte sich die Malerin vom „akademischen Akt“ zu lösen und idealtypischen Vorstellungen zuwider zu laufen. Aber auch die Aktstudien bei Fritz Mackensen, die dem naturalistischen Prinzip und damit Detailgenauigkeit unterlagen, sind in diesem Bild nicht mehr zu erkennen. Das großangelegte Selbstbildnis, das die Malerin im Mai 1906 ohne zeichnerische Vorarbeiten schuf, basiert auf ihren künstlerischen Recherchen des Winters 1905/06 in Worpswede: Paula Modersohn-Becker setzt sich in den Monaten vor ihrer neuerlichen Abreise nach Paris mit großen Aktkompositionen auseinander und deklinierte die Haltung durch.
Dass sich die junge Künstlerin als Akt zeigt, erstaunt noch heute. Damit sprengte sich nicht nur den Rahmen von Selbstbildnissen der Zeit, sondern zeigte sich auch als Anhängerin der Lebensreform-Bewegung. Sie – wie auch die anderen Künstlerinnen und Künstler der Worpsweder Künstlerkolonie – pflegte offensichtlich einen freien Umgang mit Nacktheit. Um 1900 setzte sich ein neues Körperideal von „Natürlichkeit“ und „Gesundheit“ durch, das etwa in der Reformmode mit der Ablehnung des Korsetts verbunden wurde. Im modernen Tanz ging diese neue Auffassung mit der Abkehr vom klassischen Bewegungskanon des Balletts einher und mit freien Bewegungsstudien in der Natur. Diese wurden auch fotografiert, was der Verbreitung der Ideen zugutekam und Nachahmung fand. Die Lebensreformer in Worpswede trafen allerdings auf traditionelle Sittlichkeitsvorstellungen, was 1901 zu einem Skandal führte: Otto Modersohn hatte Paula in einem Tannenwäldchen nackt gemalt. Die fehlende Unterstützung für ihn führte zur Erschütterung der Künstlerkolonie. Paula Modersohn-Beckers Selbstakte zählen innerhalb der Gruppe zu den eigenständigsten und ungewöhnlichsten Bildfindungen. Geprägt von den Ideen der Freikörperkultur und geschult an Aristide Maillols Plastiken sowie Paul Gauguins Gemälden, präsentierte sie sich selbst.2
Das Bremer Selbstbildnis Modersohn-Beckers entstand an ihrem 6. Hochzeitstag. Wer der Adressat dieses Bildes sein könnte, ist aber auch heute noch nicht restlos geklärt. Die Künstlerin arbeitete an ihrem Ausdruck, ohne (noch) an Ausstellungen zu denken. In der ersten Präsentation des Nachlasses 1908 in Worpswede wurde das Werk nicht gezeigt. Erstmals veröffentlicht wurde das „Selbstporträt“ erst 1919; die erste Ausstellung fand 1922 in Berlin statt. Daraus leitet Frank Schmidt, Kurator der Ausstellung, ab, dass Paula Modersohn-Becker „insbesondere die Selbstbildnisse Freiräume, in denen sie experimentieren und nach neuen formalen Lösungen suchen konnte.3
„Ich mag furchtbar gerne zwischen meinen Arbeiten schlafen und Morgens zwischen ihnen erwachen. Ich male Lebensgroße Akte und Stilleben mit Gottvertrauen und Selbstvertrauen.“4 (Paula Modersohn-Becker an Martha Vogeler, 21. Mai 1906)
Neben den gezeichneten und gemalten Selbstporträts Paula Modersohn-Beckers bilden auch Fotografien, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen wichtige Quellen für Leben und Kunstauffassung der Künstlerin. Einige Aufnahmen zeigen deutlich, wie die Malerin Fotografien dafür nutzte, die Haltungsmotive in ihren Kompositionen vorzubereiten.
Vor allem ihre Selbstporträts bereitete die Künstlerin mit Fotografien vor, wie vor allem vier Fotografien aus den Jahren 1905-/06 zeigen. Im Nachlass Modersohn-Beckers haben sich rund 70 Fotografien aus diesem Komplex erhalten. Die Porträts der Malerin entstanden entweder im privaten Rahmen, gelegentlich in Fotostudios oder stammen von Fotografen, die mit den Worpsweder Künstlern in Verbindung standen.5
„Nun habe ich es an mir, die Leute nicht gerade zu idealisieren, vielmehr das Gegenteil. So hab ich Herrn Bischoff so ein wütendes Beamtengesicht gemacht, daß dieser mit rachsüchtigen Gedanken von uns schied. Seitdem zeichne ich mein teures Spiegelbild, und das ist wenigstens tolerant.“6 (Paula Becker in einem Brief an Kurt Becker, 26.4.1893)
Paula Modersohn-Becker wandte sich dem Selbstporträt im Jahr 1893 zu, nachdem ein Porträtversuch mit einem Bekannten der Familie gescheitert war. Ihre frühesten Versuche zeigen, wie sehr sie noch nach einer naturgetreuen Wiedergabe strebte. Rasch lotete sie in Kohle, Rötel, Pastell und Ölfarben technische wie stilistische Möglichkeiten aus. Während ihres Mal- und Zeichenunterrichts beim Bremer Künstler Bernhard Wiegandt weisen Modersohn-Beckers Werke eine stilistische Nähe zur impressionistischen Malerei auf. Dem in Öl gemalten Selbstporträt wandte sie sich 1897/98 zu.
Von 1893 bis 1907 malte sich die Künstlerin jährlich, manchmal sogar mehrfach im Jahr. Mehrfach wird im Ausstellungskatalog ausgeführt, dass Paula Modersohn-Beckers Selbstbildnisse aus eigenem Antrieb entstanden. Sie verfolgte damit unterschiedliche Ziele, darunter das Geld für die teure Modelle zu sparen, aber auch sich selbst zu ergründen. Dabei sprengte sie mit den etwa 60 Selbstporträts die traditionell enggesteckten Grenzen für Künstlerinnen. Charakteristikum ihrer gemalten Selbstbeschreibungen ist, dass sie meist ohne Raumdarstellung auf die Person konzentriert sind. Zu den seltenen Selbstporträts mit erkennbarem Umfeld zählt das „Selbstbildnis vor Fensterausblick auf Pariser Häuser“ (1900). Paula Modersohn-Becker stellte sich in ihrem Zimmer am Boulevard Raspail in Paris dar. Kurz zuvor war sie angekommen, um sich in der Kunst-Metropole weiterzubilden und bis Juni 1900 zu bleiben. Ab 1902 arbeitete sie mit leuchtenden Farben und hoher Stilisierung. Diese Veränderungen waren sowohl der französischen Moderne wie auch der ägyptischen Malerei zu verdanken (→ Paula Modersohn-Becker. Pionierin der Moderne).
Ergänzt wird die Figur durch Attribute wie Früchte und Blumen, Ketten und Hüten, die Paula Modersohn-Becker vor ihre Brust hält. Hier führen die Katalogautoren überzeugend vergleichbare Werke der venezianischen Renaissance an: Tizians „Flora“ (um 1515–1520, Uffizien, Florenz) oder auch Hans Holbein, den Modersohn-Becker nachweislich verehrte. Nur ein einziges Mal – im „Selbstbildnis, Brustbild mit Pinsel in der erhobenen Hand“ (um 1902) – stellte sie sich mit Attributen ihrer Profession dar. Wichtig ist der Malerin auch, dass sie mit großen, weit geöffneten Augen direkt aus den Bildern blickt.
Was ihre Selbstporträts anlangt, so fällt auf, dass die Malerin sich nicht schönt, bis auf ein Beispiel kein Selbstbildnis als Malerin schuf. Ihre Mutter meinte sogar, dass Paula ihr Gesicht „grausam gegen ihre Lieblichkeit, wie kann man so hart mit der Schönheit verfahren“7 (März 1913) hätte. Dahinter standen unterschiedlichste Einflüsse. Zu den bekanntesten zählt Paula Modersohn-Beckers Auseinandersetzung mit ägyptischen Mumienporträts, die sie 1903 im Louvre gesehen hatte und zudem aus einem Mappenwerk mit Reproduktionen kannte. Das schlanke Hochformat ihrer Werke könnten auf diese Beschäftigung zurückgehen. Vor allem beschäftigte sich Modersohn-Becker mit der „großen Form“ (Einfachheit der Komposition, der Frontalität, dem Darbieten eines Attributs, der pastosen Maltechnik), was zu Eindruck einer „maskenhaften Entrücktheit“ in ihrem Werk führte.8 Die im Sommer 1906 entstandenen Selbstporträts sind pastos ausformulierte Begegnungen mit sich selbst. Längst haben die ostentativ präsentierten Blumen ihre symbolische Bedeutung der Renaissance-Porträts verloren und sind zu floralen Emanationen der Dargestellten geworden. Schönheit und Pracht der Natur stehen der gewichtig im Bildraum sich präsentierenden Malerin gegenüber.
„Kein Bild, kein Photo, auch kein Selbstbildnis gibt sie ganz wieder: das weiße, schmale, von innen durchleuchtete Gesicht mit den enormen rotbraunen Haaren und den unvergleichlichen Augen: groß und samten wie die dunkelen Aurikeln in ihrem Gürtel, mit den fremdartig geschnittenen breiten Lidern, der äußere Augenwinkel tiefer als der innere, und dem strengen und doch oft lächelnden Mund. Alle ihre Gesichtsorgane waren riesenhaft: Nase, Augen, Ohren. Das gab dem kleinen Kopf etwas ungeheuer Kräftiges und Gewaltsames.“9 (Zit. n. Ottilie Reylaender-Böhme, Paula Modersohn-Becker, in: Rolf Hetsch (Hg), Ein Buch der Freundschaft, Berlin 1932)