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dOCUMENTA (13): Raumfragen Das war die dOCUMENTA (13) in 12 Kapiteln - Teil 1

ARTinWORDS auf der dOCUMENTA 13

ARTinWORDS auf der dOCUMENTA 13

CCB., alias Carolyn Christov-Bakargiev, versteht es Ausstellungseröffnungen zu inszenieren.  Beginnend mit der absoluten Geheimhaltung der Künstler_innen-Liste bis zum Eklat über die „Gegenveranstaltung“ der Katholischen Kirche, dem Wahlrecht für Erdbeeren und dem „Kunstplatz“ für Hunde, sind Aussagen der amerikanischen Hauptkuratorin der dOCUMENTA (13) bereits vor Eröffnung der wichtigsten Weltkunstausstellung des Jahres heftig diskutiert worden. Nichtsdestotrotz hat sich die Kunstszene danach bald wieder beruhigt, und sogar Stephan Balkenhols Männerfigur auf goldener Kugel durfte am Kirchturm bleiben.

dOCUMENTA (13) - Raumfragen

Doch nun ein Blick auf die Inhalte der dOCUMENTA (13), die an vier Austragungsorten stattfindet. Sie stehen für CCB stellvertretend für vier Handlungsorte aktuellen Kunstschaffens: Kassel bedeutet für sie die „Bühne“, die auch die meiste Beachtung der westlichen Kunstgemeinschaft erhalten hat. Kabul meint einen Belagerungszustand, Alexandria ist ein Hoffnungs- und das kanadische Banff ein Rückzugsort. Mit der Wahl der Dependancen hat CCB ihr geografisches Muster bereits deutlich gemacht: Die gesamte dOCUMENTA (13) versammelt erstaunlich viele Künstler_innen aus dem arabischen und fernöstlichen Raum bis nach Australien. Einzig Afrika bleibt auf der „Weltkunstkarte“ noch immer eine Leerstelle. Daher wundert es kaum, dass große Namen des westlichen Ausstellungszirkels nahezu gänzlich fehlen. Kassel steht für das neu Entdeckte, nicht für das Abfeiern bereits vielfach gezeigter Positionen.

Der Kuratorin zufolge erzeugen Orte Räume, und Räume sind Bereiche des Möglichen. Neben den traditionellen Ausstellungsräumen - wie das Fridericianum, die documenta-Halle und die Neue Galerie – hat sich die diesjährige dOCUMENTA weitere Räume erobert: Im Naturkundemuseum Ottoneum, in der Orangerie, im früheren Hauptbahnhof und in der Stadt wie dem Hugenottenhaus erarbeiten sich KünstlerInnen geschichtsträchtige Orte, die sich den ohnedies nur scheinbar neutralen Bedingungen der White Cubes entziehen. Ihre ehemaligen Funktionen, ihr Aussehen, ihre Erhaltungszustände werden in die Konzeption von Kunstwerken integriert, was dem aktuellen Bestreben entspricht, aus den alten Kunstinstitutionen auszubrechen und Kunst und Leben (mal wieder) miteinander zu versöhnen.

In Kassel hat sich CCB neben dem traditionsreichen Fridericianum, der Neuen Galerie und der documenta-Halle weitere Schauplätze erobert: Das Ottoneum und die Orangerie mit ihren Sammlungen zu Naturkunde und Technikgeschichte sind genauso Austragungsort wie der Hauptbahnhof und besonders intensiv diesmal die Karlsaue. Im Landschaftspark sind kleine Häuschen aufgebaut, in denen Einzelwerke ausgestellt werden. Darüber hinaus gibt es faszinierende Eingriffe in die Gestaltung des Parks zu entdecken, die deutlich aufzeigen, welchen Konventionen der innerstädtische Umgang mit Natur folgt. So hat der chinesische Künstler Song Dong einen „Doing Nothing Garden“ errichtet, indem er gegenüber der Orangerie einen Berg aus Haushaltsabfällen und Bauschutt auftürmte. Innerhalb der Karlswiese mit ihrem getrimmten Rasen wirkt der vor sich hin wildernde Garten wie eine spannende, im Geheimen blühende Wiese. Die verborgenen Abfälle darunter lassen jedoch an Erinnern und Vergessen, an Wert und Unwert der Dingwelt denken.

Dass die dOCUMENTA (13) u.a. der Reflexion über Nachhaltigkeit gewidmet ist, macht die Künstlerinitiative AND AND AND deutlich: In der Karlsaue verkauft sie Bioprodukte und vor dem Ottoneum lädt sie zu gemeinsamem Teetrinken und Diskutieren. Davor muss man sich jedoch selbst die Zutaten des Tees aus dem Kräutergarten pflücken.

Eine spannende Auseinandersetzung mit dem Thema Raum liefern auch Janet Cardiff & George Bures Miller mit ihrem Video-Walk am Hauptbahnhof. Ausgestattet mit iPod und Kopfhörern bekommt man die Aufforderung „Follow me“. Wie in Trance folgte ich den Anweisungen, verfolgte die erzählte Geschichte, die von der Deportation von Juden berichtete. Dabei befand ich mich ständig gleichzeitig in der Realität und in einer Parallelwelt. Bilder, Text, Musik und Tanz verbinden sich in dieser interessanten Inszenierung zu einer Videowelt, die zur selben Zeit real und irreal ist. Wer wollte entscheiden, was der Unterschied ist?

Teil 2: dOCUMENTA (13): Themenfelder
Teil 3: dOCUMENTA (13): Kunst und ihre politische Verantwortung
Teil 4: dOCUMENTA (13): Kunst und der Umgang mit Geschichte
Teil 5: dOCUMENTA (13): Kassel und Afghanistan
Teil 6: dOCUMENTA (13): Kassel und Australien
Teil 7: dOCUMENTA (13): Historische Wurzeln aktueller Kunst
Teil 8: dOCUMENTA (13) Kunst und Naturwissenschaft
Teil 9: dOCUMENTA (13): Aktuelle Malerei – oder gegen jede Art von Medienspezifität
Teil 10: dOCUMENTA (13): Kunst und Ökologie
Teil 11: dOCUMENTA (13): Künstler und Schamanismus
Teil 12: dOCUMENTA (13): „Realität“ und ihre mediale Vermittlung

Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.