Die Kabinettausstellung „Gerd Richter 1961/62“ widmet sich der bisher weitgehend unerforschten Zeit im Leben Gerhard Richters: den zwei Jahren von seiner Flucht aus Dresden in die Bundesrepublik bis zum Beginn seines offiziellen Werkkataloges mit den ersten nummerierten Bildern. Innerhalb von 18 Monaten entwickelte Richter eine eigenständige, an der amerikanischen Pop Art angelehnte Malerei nach fotografischen Vorlagen. Die abstrakten Bilder, die Richter im Winter- und Sommersemester 1961/62 schuf, stehen nun erstmals im Zentrum einer Ausstellung.
Deutschland | Dresden: Albertinum
29.8. – 29.11.2020
„Mir ging es ja zum Schluss relativ gut in der DDR. Mit der Berufsbezeichnung ‚Wandmaler‘ war ich nicht so den Formalismus-Vorwürfen ausgesetzt wie die Tafelmaler, und ich bekam Aufträge für Wandgestaltungen, d. h. ich hätte davon leben können und wäre auch leidlich unbehelligt von dem System geblieben. Aber das war eine unbefriedigende Aussicht, vor allem deshalb, weil die Bilder, die ich wie gewohnt nebenher machte und die ja mein eigentliches Anliegen waren, immer schlechter wurden, unfreier und unechter.“1
Die Entscheidung für den Weggang aus der DDR fällte Gerhard Richter trotz einer relativen Akzeptanz und Sicherheit (→ Gerhard Richter: Biografie). Das einzige Schlupfloch in den Westen war 1961 noch Westberlin, wo der Zug von Moskau nach Dresden hielt. Daher reiste Richter im März 1961 nach Moskau und Leningrad (heute. St. Petersburg), verstaute auf der Rückreise seine Koffer in Westberlin und holte danach seine Frau Ema in Dresden ab. Die Flucht nach Westdeutschland gelang Gerhard Richter problemlos, die künstlerische Flucht aus dem „Idealismus“ des Sozialismus gestaltete sich als Tour de Force.
Im April 1961 ging Gerhard Richter in das künstlerische aufstrebende und tolerante Düsseldorf, wo er bei Reinhard Graner wohnen konnte. Sein erster künstlerischer Kontakt war der informelle Maler Peter Brüning, dem er seine Mappe zeigte. Dieser lobte allerdings wider Erwarten nicht die abstrakten Experimente Richters, sondern dessen figurative Bilder. Um einen Arbeitsplatz und Anregungen zu erhalten, bewarb sich Richter an der Düsseldorfer Akademie bei Ferdinand Macketanz. Diese Entscheidung erwies sich als goldrichtig, denn:
„Bis zum Semesterrundgang im Februar 1962 hatte ich so viel gemalt, dass ich Aufsehen erregte. Ich hatte praktisch den gesamten Klassenraum für mich und bis zur Decke mit Bildern zugepflastert.“
Die frühesten informellen Bilder Richters zeigen, dass er sich den Ausdruck innerer Befindlichkeiten rasch erarbeitet hat. Zu seinen wichtigsten Anregern zählten in dieser Zeit Jean Dubuffet, Jean Fautrier, Lucio Fontana und Francis Bacon. Letzterer lässt sich auch im Motiv der Sitzenden leicht benennen. Vorübergehend wandte sich Gerhard Richter ausschließlich der abstrakten Malerei zu, wobei er sich intensiv mit dem Material und der Oberfläche auseinandersetzte. Wie Fontana attackierte Richter die Leinwände und durchbohrte sie. Heute gelten die Werke dieser Phase als künstlerischer Befreiungsschlag, zeigen sie doch die ungebremste Energie und Emotionalität ihres Schöpfers.
Als Gerhard Richter diese Werke zum Semesterabschluss im Februar 1962 erstmals präsentierte, fiel er damit auf. Bei dieser Gelegenheit lernte er Konrad Lueg und Alfred Kuttner kennen, und Lueg überredete ihn in die Klasse von Karl Otto Götz zu wechseln.
„Ich erinnere mich an den Rundgang im Februar 1962, da hingen seine informellen Bilder auf dem dunklen unteren Flur der Akademie. Aber bald malte er Signalbilder. Als der Maler Gaul mich in der Akademie besuchte und einen Blick in meine Klasse warf, war er überrascht, dass u.a. Signalbilder an der Wand hingen. Gaul malte damals auch Signalbilder und schimpfte: ‚Kaum taucht etwas Neues im Kunstbetrieb auf, und schon wird es an der Akademie praktiziert.‘“ (Karl Otto Götz)
Vom 8. bis 30. September 1962 stellte Gerhard Richter 37 Bilder und Reliefs sowie zwei Konvolute von 26 weißen und 23 gelben Zeichnungen seiner informellen Werkphase in der Galerie Junge Kunst in Fulda – gemeinsam mit Manfred Kuttner – aus. Den affirmativen Titeln fügte Richter bereits Werknummern hinzu, aus denen hervorgeht, dass der Maler mehr als 80 Werke geschaffen haben musste. Der Katalogtext ist die erste kunstkritische Bewertung von Richters neuen Bildern:
„Richters Arbeiten sind emotionaler Natur. Er lässt ein Ereignis seines Innern sich abspielen in einem Bildraum oder nimmt es aus der Fläche heraus vor einen Hintergrund. Die Sparsamkeit der Mittel macht diesen Vorgang nur noch eindringlicher und erhöht seinen Ernst, mag es sich um eine Gestaltung in schwarz, grau, weiß oder grün handeln, wobei die Verlagerung des ‚Horizonts‘ eine erlösende oder erdrückende Wirkung ausübt.“2 (Alexander Delsenroth)
Nach der Ausstellung in Fulda löste sich Gerhard Richter vom Informel. Bisher galt, dass er alle Bilder verbrannt hätte, um einen Neuanfang zu wagen.3 In der Folge setzte er sich mit der amerikanischen Pop Art auseinander und begann im Herbst 1962 nach Medienbildern zu malen.
Die Ausstellung im Albertinum verdeutlicht Richters konsequente Befreiung von seiner in Dresden etablierten figurativen Bildsprache zur Abstraktion und zu gegenstandsfreien Experimenten, anhand von in diesen Monaten entstandenen Bildern und Zeichnungen, die jahrelang als vom Künstler zerstört galten. Zahlreiche Briefe dokumentieren zudem diese wichtige frühe Entwicklung des Künstlers, die das Gerhard Richter Archiv bereits vor mehr als zehn Jahren in zwei umfangreichen Konvoluten erwerben konnte.