Seit geraumer Zeit ist die populärkulturelle Spielart des „Selfies“ zu einer beliebten und hochmediatisierten Form der Selbstdarstellung geworden. Lange vor Einzug digitaler Möglichkeiten der Selbstinszenierung bediente das Porträt dieses offensichtlich grundmenschliche Bedürfnis, das eigene Ich in verschiedenen Posen für ein unbestimmtes Später einzufangen. Noch bis Ende Oktober 2019 zeigt die Neue Galerie Graz deshalb einen Porträt-Schwerpunkt.
Österreich | Graz: Neue Galerie Graz
26.2.2018 – 27.10.2019
#museumselfie | @museumjoanneum
Mit „Wer bist du? Porträts aus 200 Jahren“ widmete sich die Neue Galerie Graz bereits von Mai 2017 bis Februar 2018 diesem wohl ältesten Thema der bildenden Kunst. Diese Sonderausstellung ging vornehmlich von Objekten der eigenen Sammlung aus. In ursprünglich 14 thematischen Räumen präsentierte die umfangreiche Schau Gemälde, Grafiken, Zeichnungen, Büsten, Skulpturen, Fotografien und Installationen, mittels derer ein Bogen vom 19. Jahrhundert bis hin zu aktuellen Positionen gespannt wurde. Die Dauerausstellung wird nun in kondensierter Form mit den Themenräumen 1 bis 5 fortgeführt, wobei die Ausstellung weiterhin in Gänze im digitalen Raum einsehbar ist.
Die Aufnahme einer Häuserlandschaft in eine Porträtausstellung überrascht hierbei nicht, glänzt die Schau doch in Raum 05 zu „Egon Schiele und Oskar Kokoschka“ mit einem unlängst gelungenen Restaurierungsfund: Unter Egon Schieles „Stadtende [Häuserbogen III]“ (1913/18) konnten bei Durchlichtaufnahmen am Joanneum Graz und Leopoldmuseum Wien 2011 zwei Porträtskizzen entdeckt werden. Dabei handelt es sich um ein 1913 verworfenes Doppelporträt von Heinrich Benesch und dessen Sohn Otto – Kunstsammler und väterlicher Freund Schieles. Die Figur Heinrich Beneschs deutete Egon Schiele zum Häuserbogen um.
Seit jeher fungierten Porträts als Platzhalter für Abwesende, seien es noch Lebende oder bereits Verstorbene, und geben bestimmte Charakteristika des oder der Porträtierten mit Wiedererkennungswert wieder. Darüber hinaus verliehen Porträts, als Medium der Spiegelung sowie Tradierung kultur- und gesellschaftsgeschichtlicher Diskurse, dem sozioökonomischen Status und der gesellschaftlichen Machtposition des oder der Porträtierten Ausdruck. Im 20. Jahrhundert kam die Erfassung von Seelenleben und psychologischer Charakteristik des Individuums hinzu. Für die Grazer Ausstellung setzten die beiden Kuratoren – Günther Holler-Schuster und Gudrun Danzer – ihren Fokus darauf, das Genre Porträt auf seine vielfältigen Bezüge sowie seine kulturhistorischen und gesellschaftlichen Aussagen hin zu befragen. Allerdings ohne die kunsthistorische Aufarbeitung von Porträttypen leisten zu wollen.
Die ambitionierte Zielsetzung eines multimedialen Gangs durch 20 Jahrzehnte konnte nur unter bestimmten Weichenstellungen eingelöst werden, weshalb „[m]an keine strenge chronologische Einteilung, keine Formanalysen und Kategorisierungen nach Medien und Material finden [wird].“1. Anstatt auf eine Präsentation im zeitlichen Längsschnitt setzt die Ausstellung folglich auf einen Austausch zwischen gegenwärtigen und historischen Phänomenen, und zwar mittels der Konfrontation von Porträts aus mehreren Jahrzehnten. Die hierdurch beabsichtigten Brüche sollten Neukontextualisierungen ermöglichen und Althergebrachtes in Frage stellen. So gesellen sich etwa bei „Identität durch regionale Tracht“ (Raum 02) die provokante „Frau ohne Dirndl“ (2001) von Helga Glattfelder-Knöbl, Evelyn Loschys Videoinstallation „Me and My Selves“ (2016) sowie die „historischen Lederhosen (Peter Rosegger, Herbert von Karajan)“ (1999) des belgischen Künstlers Guillaume Bijl zu Porträts „Erzherzog Johanns“ (1782–1859), nostalgisch-dokumentarischen Darstellungen steirischer Trachten und zahlreiche Büsten, die den steirischen Dichter und Journalisten Peter Rosegger (1843–1918) darstellen. Der Text der Schautafel verrät den aufklärerischen Impetus der Kuratoren: „Der neuerliche Trachtenboom von heute kann auch als Resultat von Ängsten vor gesellschaftlichen Umwälzungen verstanden werden. Beliebt sind nicht nur „Erzherzog-Johann-Röcke“, sondern auch „Peter-Rosegger-Janker“ […]. Die Installation des belgischen Künstlers Guillaume Bijl mit historischen Lederhosen aus den 1990er Jahren legt symbolische, ideologische und gesellschaftliche Bedeutungsebenen dieses typisch alpinen Kleidungsstückes offen.“ 2.
Auch die weiteren Räume von „Wer bist du? Porträts aus 200 Jahren“ sind um unerwartete Zusammenstellungen von Objekten sowie mediale Vielfalt bemüht. Obgleich ihr die Intention eines aufbrechenden Dialogs anzumerken ist, bleibt die Ausstellung jedoch insgesamt hinter ihrem Potential zurück, einen neuen Blick auf das Porträt zu ermöglichen. Zwar ist die Heranziehung weiterer Hintergrundinformationen über Kunstwerke und Künstler*innen mittels QR-Codes möglich, doch weder Dialog noch Kontrastierung mögen sich bei der Betrachtung der Werke recht einstellen. Zu sehr lassen oftmals die Hängung der Gemälde sowie die Gruppierung der Objekte ihre Präsentation im jeweiligen Raum für sich isoliert und im Gesamteindruck eklektisch wirken. Hierzu tragen die generischen Schautafeln zur Bezeichnung eines jeden Themenraumes bei, da sie vielfach die beabsichtigte Kontrastwirkung anreißen, in Titel und Text diesen Anspruch allerdings nur zaghaft und nicht bis in die notwendige Konsequenz ausformulieren.
Beispielsweise hätte der angesprochene Raum 02, „Identität durch regionale Tracht“, die genannten Bedeutungsebenen der Arbeit Bijls nennen und stärker kontextualisieren können. Zudem wäre eine dezidiertere Herausstellung insbesondere der im selben Raum ausgestellten Werke der beiden zeitgenössischen Künstlerinnen und ihrer Arbeiten, allen voran Glattfelder-Knöbels „Frau ohne Dirndl“, denkbar gewesen. Beide formulieren selbstbewusste Handlungsspielräume aus weiblicher Sicht für den Kontext Tradition und Tracht, indem sie zu einer kritischen Reflexion über tradierte Weiblichkeitsbilder anregen.
Raum 01 ist den „aristokratischen Porträts im politischen Kontext“ gewidmet. Längs der linken und rechten Wand sind opulente, in Goldrahmen gefasste, imperiale Porträts vornehmlich aus dem 19. Jahrhundert auf rotem Grund angeordnet. Sie ziehen sich in einer Längshängung bis zur anderen Seite des Raumes. Vis-à-vis zu ihnen stehend, führen um 1900 entstandene Büsten, die Honoratioren der k.u.k.-Monarchie darstellen, mit ihnen einen Dialog. Auf der vom Eingang gesehen rechten Eckseite ebendieses Raumes ist Andy Warhols „Red Lenin“ (1987) zu finden, der sich wiederum der zehnteiligen, völkisch-nationalistischen Holzschnittreihe „Bedeutende Männer der Geschichte“ (um 1940) des Grazer Künstlers Ernst von Dombrowski gegenübergestellt sieht. Die „aristokratischen Porträts im politischen Kontext“, wie die generische Bezeichnung auf der Schautafel lautet, dominieren folglich diesen ersten Raum in einem exklusiv wirkenden, geschlossenen Kader, das die von ihnen abseits hängenden Werke Warhols und von Dombrowskis beinahe ablehnend übertrumpft. Der letzte Satz auf der Schautafel zu zu diesem Raum besagt zwar, dass „[d]ie Prunkentfaltung der Kaiserbilder und ihr Machtanspruch dadurch [d.h. durch die Arbeiten Warhols und von Dombrowskis; Anm. d. Verfass.] eine Relativierung [erfährt]“. Auch wird genannt, dass von Dombrowkis „Bedeutende Männer der Geschichte“ politischen Machtanspruch inszeniert, und zwar mittels der missbrauchenden Vereinnahmung historischer Persönlichkeiten. Allerdings finden sich hier bereits jeder für sich genommen polemisierende Objekte kombiniert, die zudem noch selbst auf politisch wie (kunst)historisch höchst komplexe Sachverhalte sowie Persönlichkeiten verweisen. Dies angemessen zu besprechen, ist eine zweifellos schwierige Herausforderung, der man sich hier, weniger an der Oberfläche bleibend, hätte stellen müssen. Insgesamt wäre eine weitere thematische Untergliederung begrüßenswert gewesen, beispielsweise eine kritische Reflexion über die Darstellung porträtierter und sich selbstporträtierender Frauen betreffend.
Der Schau ist und bleibt die Präsentation einer medial und kunsthistorisch reichhaltigen Bandbreite an Porträts zu verdanken. Und letztendlich fehlt das „Selfie“ auch hier nicht: Besucher*innen sind dazu aufgerufen, unter #museumselfie ihre nunmehr mit dem Smartphone in Sekundenschnelle produzierten Selbstporträts auf den sozialen Kanälen auszustellen, um selbst zu Porträtierten zu avancieren. Somit sind museal angeregte digitale Werkzeuge, wie sie hier die Neue Galerie Graz durch Veröffentlichung von Selfies auf dem hauseigenen Museumsblog bereitstellt, mehr als nur digitales Spiel. Es zeugt von einer breit angenommenen Popularisierung des Porträts, die das elitäre Privileg der Herrschenden und Wohlhabenden zur Selbstdarstellung weiter hinter sich lässt.
Kuratiert von Günther Holler-Schuster und Gudrun Danzer.