Unsere Vorstellung vom Leben und Leiden im Berlin der wilden Zwanziger hat ein Maler besonders geprägt: George Grosz. In seinen Werken inszeniert er den moralischen Zerfall der deutschen Gesellschaft in aller Schonungslosigkeit. So widmete er sich Straßenszenen, Innenansichten von Bars und Restaurants, Kriegsinvaliden, Prostituierten, korrupten Politikern und Kriegsgewinnlern. Wegen Vorwurf des „Angriffs auf die öffentliche Moral“ stand Grosz mehrfach vor Gericht. Seine Art die Realität darzustellen, ist von Abstraktion und Überzeichnung geprägt. Wie sich der Stil des Künstlers in den 1920er Jahren entwickelt, beleuchtet die Ausstellung.
Deutschland | Stuttgart: Staatsgalerie Stuttgart
18.11.2022 – 26.2.2023
George Grosz wurde während des Ersten Weltkriegs weder von Kriegsbegeisterung „geheilt“ noch als Frontkämpfer eingesetzt – und dennoch widmete er sich in der Weimarer Republik höchst überzeugend den Gräuel des Großen Krieges und seinen Folgen. Der hochsensible und immer elegant gekleidete Künstler hatte sich zwar als Kriegsfreiwilliger im November 1914 beim Garde-Grenadier-Regiment gemeldet und bereits im folgenden Mai aufgrund einer Entzündung der Nasennebenhöhlen (Sinusitits) als untauglich entlassen. Seine Furcht vor einer Wiedereinberufung kompensierte Grosz mit seinem Hass auf „die Deutschen“, allen voran den Machthabenden. Dieser brach sich Anfang 1917 endgültig Bahn, als Grosz sich um Januar mit einer neuerlichen Einberufung konfrontiert und nun erstmals verwesende Leichen und Stacheldraht in der Nähe der Front sah. Es folgte ein Nervenzusammenbruch und die Internierung in der Nervenheilanstalt in Görden bei Brandenburg.
„Für mich war meine ‚Kunst‘ damals eine Art Ventil – ein Ventil, das den angestauten heißen Dampf entweichen ließ. Hatte ich Zeit, so machte ich meinem Groll in Zeichnungen Luft. In Notizbüchern und auf Briefbogen skizzierte ich, was mir an meiner Umgebung missfiel: die tierischen Gesichter meiner Kameraden, böse Kriegskrüppel, arrogante Offiziere, geile Krankenschwestern, usw. Ich hatte mit diesen Zeichnungen nichts vor; sie waren zunächst ganz zwecklos gemacht, nur um das Lächerliche und Groteske der mich umgebenden Welt geschäftiger, todeswütiger kleiner Ameisen festzuhalten […]. Dass dieser Krieg verloren war, enttäuschte mich nicht. Nur dass die Menschen ihn jahrelang ertragen und erduldet hatten, dass den paar Stimmen, die sich gegen das Massenschlachten erhoben, kleiner gefolgt war – nur das enttäuschte mich.“1 (George Grosz)
Bereits früh träumte George Grosz davon Maler zu werden und von Amerika, während er im Offizierskasino der Blücher-Husaren in Stolp (Pommern), das seine Mutter bewirtschaftete, mit dem Militär erste Kontakte knüpfte. Ausgebildet an der Königlichen Kunstakademie in Dresden (1909–1911) und der Kunstgewerbeschule in Berlin (1912–1916), unternahm er ausgedehnte Streifzüge durch Berlin, wo er sich in natur- und sozialwissenschaftlicher Manier als stiller Beobachter gerierte. Damit lieget der künstlerische Anfang von Grosz in der Zeichnung und der (scheinbar) teilnahmslosen visuellen Analyse der urbanen Vorkriegsgesellschaft. Er selbst bezeichnete „folkloristische Zeichnungen“ in Pissoirs sowie Kinderzeichnungen als die beiden wichtigsten Einflüsse auf seiner Suche nach einem passenden Stil.2
Bekannt wurde George Grosz bereits 1916, als der mit ihm befreundete Dichter Theodor Däubler in der Zeitschrift „Die weißen Blätter“ einen Artikel mit sieben Reproduktionen seiner Zeichnungen unterbringen konnte. Damals bewegte sich der Kunststudent bereits in den intellektuellen Kreisen des Expressionismus, darunter im Atelier des Malers Ludwig Meidner, wo er den Verleger Wieland Herzfelde3 kennenlernte, oder dem Café des Westens. Die von Herzfelde herausgegebenen lithografischen Mappenwerke mit Zeichnungen von George Grosz, machten den Berliner berühmter als es seine Zeichnungen je gekonnt hätten. Grosz‘ Karikaturen des Großstadtlebens basieren stilistisch auf Werken von Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Giacomo Balla und Gino Severini, die der Künstler 1913 auf dem „Ersten Deutschen Herbstsalon“ gesehen hatte. Noch Jahre später zeigen seine Zeichnungen und die ab 1915 entstandenen Ölgemälde den Einfluss des Futurismus.
Der nationale Durchbruch erfolgte kurz nach Kriegsende, als George Grosz zum bekannten Vertreter des Dadaismus avancierte und sein Mappenwerk „Gott mit uns“ ihn 1921 eine Anklage wegen „Beleidigung der Reichswehr“ einbrachte.4 Die geforderte Vernichtung der Druckplatten wurde aufgrund medialen Drucks zurückgezogen, woraufhin das Mappenwerk neu verlegt und Grosz berühmt wurde. Dem zweiten Prozess musste sich der Künstler 1924 stellen, als er für die Mappe „Ecce homo“ – eine Sammlung von 100 Fotolithografien seiner Arbeiten – wegen „Angriffs auf die öffentliche Moral“ angeklagt war. Im Jahr 1928 stand George Grosz das dritte und letzte Mal vor Gericht. Nun brachte ihm ein Mappenwerk aus dem Verlag Malik mit dem Titel „Hintergrund“ den Vorwurf der Gotteslästerung ein (u.a. „Christus mit der Gasmaske“). Grosz und Herzfelde verfolgten den Prozess über fünf Berufungsverhandlungen (bis 5. November 1931) bis zu ihrem Freispruch. Das Medienecho war enorm.5
Ab Mitte der 1920er Jahre gab George Grosz die bissige Verfremdung auf, um stärker mit realistischen Mitteln zu arbeiten – gleichzeitig wandte er sich wieder der Ölmalerei zu (Porträt von Max Hermann-Neisse). Hatte Grosz zuvor in seinen Zeichnungen durch Überzeichnung und nahezu karikaturhafte Züge die Wahrhaftigkeit seiner Beobachtungen herausgestrichen, so nutzte er nun den Realismus der Neuen Sachlichkeit (Verismus). Etwa gleichzeitig war durch die Einführung der Mark (August 1924) die Hyperinflation des Jahres 1923 abgeklungen, und die Weimarer Republik hatte an Stabilität gewonnen. Dennoch vertraute Grosz dieser neuen Situation nicht, wie die Gemälde „Stützen der Gesellschaft“ und „Sonnenfinsternis“ (beide 1926) belegen. Wenige Jahre später wandte sich der Maler Grosz neuen, unpolitischen Motiven wie Landschaften und sinnlichen Frauenkörpern zu.
Schon früh, 1932, verließ der Künstler Berlin, um einen Lehrauftrag an der Art Students League in New York anzunehmen. Der Künstler traf am 3. Juni 1932 ein, kehrte nach dem ersten Sommerkurs im Herbst nochmals nach Berlin zurück, um zu erleben, wie er am 30. Januar 1933 zum „entarteten Künstler“ erklärt wurde. Die Nationalsozialisten brachen in sein Berliner Atelier ein. Erst im Juni 1959 kehrte Grosz wieder nach Berlin zurück, wo er kurz darauf verstarb.
Die Ausstellung wurde unter dem Titel „The Relentless Eye: George Grosz in Berlin“ von Dr. Sabine Rewald für das Metropolitan Museum of Art in New York geplant, aber wegen der Covid-19-Pandemie abgesagt. Von November 2022 bis Februar 2023 ist sie in leicht modifizierter Form mit erweiterter Werkauswahl in der Staatsgalerie zu erleben, wo sie von Nathalie Frensch und Lea Gerhardt betreut wurde. Die rund 100 präsentierten Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Druckgraphiken stammen aus dem Bestand der Staatsgalerie sowie aus öffentlichen und privaten Sammlungen in Europa und den USA.
Sabine Rewald
Nathalie Frensch, Christiane Lange (Hg.)
Mit einem Beitrag von Ian Buruma
180 Seiten, 100 Abbildungen in Farbe
22 x 25 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-3898-6
HIRMER Verlag