Futurismus

Definition: Was ist Futurismus?

Futurismus war eine Kunstrichtung des beginnenden 20. Jahrhunderts, deren Name vom italienischen Dichter Filippo Tommaso Marinetti geprägt wurde. Ausgehend von italienischen Künstlern und Künstlerinnen, wandten sich diese Avantgardebewegung der Moderne zu und von tradierten Werten ab (→ Klassische Moderne). Ihr Ziel war, die Moderne mit ihren technologischen Revolutionen, ihrer sozialen Ordnung, der Veränderung des Städtebaus mithilfe einer neuen, Bewegung und Raum feiernden (Bild)-Sprache zu verherrlichen.

Operativer Sitz der futuristischen Bewegung war das Haus von Filippo Tommasi Marinetti – dem Verfasser des „Futuristischen Manifests“ (1909) – in Mailand. Seine Ehefrau Benedetta Cappa sowie die Schwestern Marietta Angelini und Nina dienten als Sekretärinnen neben Lisa Spada und Decio Cinti. Heute werden sie als eigenständige Künstlerinnen des Futurismus anerkannt. Mit ihrer Hilfe propagierte Marinetti den Futurismus auf langen Reisen in Europa und Russland und verdiente sich den Spitznamen „Koffein Europas“.

Die Futurist:innen hatte Einfluss auf ähnliche Bewegungen, die sich in anderen Ländern Europas, in Russland, Frankreich, in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Asien entwickelten. Sie experimentierten mit allen künstlerischen Ausdrucksformen: Malerei, Skulptur, Literatur (Poesie) bis hin zum Theater, Musik, Architektur, Tanz, Fotografie, Kino und sogar Gastronomie.

Voraussetzungen und Vorgeschichte

Der Futurismus entstand in Italien, als Kriege, die soziale Frage, große politische Veränderungen und neue technologische Entwicklungen wie der drahtlose Telegraph, Radio, Flugzeuge und die ersten Kameras das Leben revolutionierten. Fließbänder verkürzten die Produktionszeiten, die Zahl der Autos nahm jeden Tag zu, die Straßen begannen sich mit künstlichem Licht zu füllen. Die neue Geschwindigkeit veränderte die Wahrnehmung von Entfernungen und Zeit völlig, ließ Kontinente „zusammenbrechen“ und neue Verbindungen entstehen. Dieser „Moderne“ stand ein – von den Künstler:innen – als rückständig empfundenes Italien gegenüber. Der Wandel vom Agrar- zur Industriezeitalter gelang nur im Norden des 1870 gegründeten Staates, allen voran in den Städten Mailand und Turin.

Tommaso Marinetti bildete sich als Schriftsteller anhand von Symbolismus und Décadence in direkter Auseinandersetzung in Paris weiter. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern jedoch vertrat er stärker antiklerikale und republikanische Ideen, die einhergingen mit einem Streben nach Modernität und Fortschritt. Als Marinetti das „Futuristische Manifest“ schrieb, bezog er sich nicht explizit auf eine Kunstform, sondern verband seinen allgemeinen Angriff auf die kulturellen Traditionen vehement mit Herausforderungen an die Dichtung und Literatur.

Vier junge Künstler – Umberto Boccioni, Gino Severini, Luigi Russolo, Carlo Carrà und der etwas ältere Giacomo Balla – erkannten, dass Marinetti nicht nur eine Revolution der Gegenwartsliteratur anstrebte, sondern auch das Versprechen eines radikalen Wandels im Bereich von Malerei und Bildhauerei. Als Gino Severini mit Marinetti in Kontakt kam und sich entscheiden musste, ob er sich dem Futurismus anschließen sollte oder nicht, besprach er sich auch mit Amedeo Modigliani. Letzterer lehnte das Angebot, der Gruppe beizutreten, jedoch ab:

„Diese Manifeste passten nicht zu ihm, der angeborene Komplementarismus brachte ihn zum Lachen, und mit Recht riet er mir, anstatt mich daran zu halten, mich nicht in diese Geschichten zu versetzen; aber ich hatte zu viel brüderliche Zuneigung zu Boccioni, außerdem war ich immer bereit, das Abenteuer anzunehmen.“ (Gino Severini, Leben eines Malers)

Geschichte des Futurismus

Futuristisches Manifest (1909)

„Wir hatten die ganze Nacht gewacht – meine Gefährten und ich – unter Moscheelampen mit durchbohrten Messingkuppeln, bestirnt wie unsere Seelen, da sie wie diese vom matten Glanz eines elektrischen Herzens durchschienen waren. […] Gefährten! Wir erklären Ihnen, dass der triumphale Fortschritt der Wissenschaften so tiefgreifende Veränderungen in der Menschheit bewirkt hat, dass wir einen Abgrund zwischen den fügsamen Sklaven der Vergangenheit und uns Freien graben, wir sind uns der strahlenden Pracht der Zukunft sicher.“ (aus: Manifest der futuristischen Maler, Februar 1910)

Das „Futuristische Manifest“ (1909) erschien zunächst in verschiedenen italienischen Zeitungen (dem Runden Tisch von Neapel, der „Gazzetta dell'Emilia“ in Bologna, der „Gazzetta di Mantova“ und der „L'Arena di Verona“). Zwei Wochen später, 20. Februar 1909, veröffentlichte es Filippo Tommaso Marinetti auch in der französischen Zeitung „Le Figaro“. Marinetti erläuterte darin die Grundprinzipien der Bewegung in elf programmatischen Punkten. Ziel war, zu einer „gewalttätigen, umstürzlerischen und brandstifterischen Revolution des künstlerischen Handelns und Fühlens [aufzurufen]: gegen die Museen, die Bibliotheken, die Akademien, gegen den Vergangenheitskult, den Moralismus“. Als Themen bestimmte Marinetti große Menschenmengen, Arbeit, Vergnügen, Aufruhr, Revolutionen in den modernen Hauptstädten, nächtliche, elektrisch beleuchtete Ansichten von Arsenalen und Werften, Bahnhöfe Fabriken, Brücken, Lokomotiven, Flugzeige (Propeller).

Manifeste der futuristischen Malerei (1910)

Anfangs teilten Dichter und Schriftsteller die Überzeugungen Marinettis, der ab Januar 1910 „Futuristische Abende“ abhielt. Der „Futuristische Abend“ am 15. Februar im Teatro Lirico in Mailand endete mit der Verhaftung Marinettis, da dieser aus seiner antiösterreichischen Haltung keinen Hehl machte. Kurz darauf, am 21. Februar 1910, trat Umberto Boccioni mit Marinetti am Mailänder Bahn hof in Kontakt, da sich Boccioni „etwas Ähnliche auch für die Malerei“ wünschte.1 Bereits davor, vermutlich am 11. Februar 19102, hatte die Maler Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Giacomo Balla, Gino Severini und Luigi Russolo in Mailand das „Manifesto die Pittori futuristi [Manifest der futuristischen Maler]“ unterzeichnet. In dem Text übernahmen sie passagenweise aus Marinettis-Manifest, um ihre künstlerischen Experimente zu rechtfertigen. Weiters gehörten noch der Illustrator der Zeitschrift „Poesia“ Romolo Romani sowie der Maler Aroldo Bonzagni zur ersten Phase des Futurismus.

Am 11. April 1910 veröffentlichten die Futuristen das „Technische Manifest der futuristischen Malerei“. Dieses dritte Manifest gilt als erster systematischer Versuch einer theoretischen Untermauerung der Malerei. Gemeinsam mit Boccionis „Manifest der futuristischen Skulptur“ vom 11. April 1912 gilt es als Kern der futuristischen bildenden Kunst – ergänzt durch das ausführlichere Buch „Pittura e scultura futuriste (Dinamismo Plastico)“ von 1914. Die Kunst des Futurismus bedient sich der althergebrachten Themen der Malerei – Porträt, Figur und Landschaft –, zielte jedoch auf eine neue Darstellung der Wirklichkeit. Bewegung und Dynamik stehen um Zentrum der Überzeugung:

Auf Plakaten wurde die Technik verherrlicht und ein grenzenloser Fortschrittsglaube bekundet, das Ende der alten Ideologien verordnet (gebrandmarkt mit dem Etikett des „Pastismus“), darunter Wagners „Parsifal“. Die Künstler:innen feierten Dynamik, Schnelligkeit, Fleiß, Militarismus, Nationalismus und Krieg, den sie als „einzige Hygiene der Welt“ apostrophierten.

Futurismus und Kubismus

Zwischen Oktober und November 1911 hielten sich Boccioni und Carrà in Paris auf, wo sie die Pariser Avantgarde, allen voran die Protagonisten des Kubismus, kennenlernen und ihre neuesten Werke studieren konnten. Sie lernten Duchamp Villon, Constantin Brancusi und Alexander Archipenko kennen. Ein Kurzbesuch im Salon d’Automne ermöglichte ihnen, Werke von Fernand Léger, Albert Gleizes, Henri Le Fauconnier, Jean Metzinger zu bewundern; bei Kahnweiler sahen sie Gemälde von Picasso und Georges Braque. Vor allem Boccionis daraufhin entstandene Gemälde „La strada entra nella casa“, „Forze die una strada“ oder die drei „Stati d’animo“ zeigen ein vertieftes Verständnis des Kubismus, vor allem der gleichzeitigen Durchdringung der Ebenen. In „Che cosa cidivide dal cubismo [Was uns vom Kubismus trennt]“, das er kurz darauf verfasste, zeigte er den Unterschied zwischen den beiden Bewegungen auf.

„Ein Picasso-Bild kennt kein Gesetz, kennt keine lyrische Grundstimmung, kennt keinen Willen. Er stellt hin, stellt um, stürzt um, liefert Facetten, vervielfacht die Einzelheiten des Gegenstandes bis zur Unendlichkeit. Der Aufriss des Objekts und die fantastische Vielfalt der Teilansichten, die eine Geige, eine Gitarre, ein Glas usw. annehmen können, erzeugen ein Staunen, das dem ähnlich ist, welches sich bei der wissenschaftlichen Auflistung eines Dings einstellt, das wir aus Unwissen oder Gutgläubigkeit bisher als Einheit betrachtet hatten. Das war eine schicksalhafte Entdeckung, die für die Kunst notwendig war. Es ist Ergebnis einer Anstrengung, aber noch nicht das Gefühl, oder mindestens ist es doch nur eine Seite des Gefühls. Es ist die wissenschaftliche Analyse, die das Leben in der Leiche studiert, die die Muskeln, Arterien und Venen seziert, um deren Funktionen und Schöpfungsmechanismen aufzuklären. Aber die Kunst ist an sich schon Schöpfung und will keien Erkenntnisse ansammeln. Das Gefühl in der Kunst will das Drama. Das Gefühl besingt in der modernen Malerei und Skulptur die Schwerkraft, die Verschiebung, die wechselseitige Anziehung der Formen, Massen und Farben, d.h. die Bewegung, in anderen Worten die Interpretation der Kräfte. Wenn man sich als einzigen Zweck nur die umfassende Analyse der Körper vornimmt, bleibt man stecken. Wenn man dabei beharrt, bedeutet das, dass man gegen die Natur schöpfen möchte. Es heißt, dass man den Gegenstand erneut als unwandelbares Absolutes setzt, wo er doch in unserer Auffassung des Lebens mittlerweile zerstört und verschwunden ist.“3

Durchbruch des Futurismus

Vom 5. bis 24. Februar 1912 fand in Paris in der Galerie Bernheim-Jeune die erste bedeutende Futuristenausstellung statt.4 Marinetti, Boccioni, Carrà, Severini und Russolo waren bei der Eröffnung der Ausstellung anwesend. Pablo Picasso, Gertrude Stein und Guillaume Apollinaire lehnten den Futurismus als „langweilig“ ab. Die anfängliche Rezeption war kühl, aber in den folgenden Wochen weckte die Bewegung ein gewisses Interesse und wurde bald zum Gegenstand internationaler Aufmerksamkeit, war die Übernahme der Ausstellung in anderen europäischen Städten wie London, Berlin (12.4.), Brüssel, Hamburg, Den Haag, Amsterdam und Monaco begünstigte. Die präsentierten Werke waren in allen Stationen nahezu identisch und waren für die Pariser Ausstellung in kurzem Zeitraum geschaffen worden. Dazu gehörten einige der wichtigsten Werke des Futurismus: Bocconis Triptychon der „Stati d’animo [Gemütszustände]“, Carràs „Was mir die Straßenbahn erzählt“ und „Bewegung des Mondscheins“, Severeinis „Souvenir de voyage“; Ballas „Lumière électrique“ war nicht ausgestellt aber im Katalog aufgeführt. Zu den wichtigsten Künstlern, welche die Schau besuchten, gehörte Franz Marc, der einen begeisterten Brief an seinen Freund August Macke schrieb.

Futuristische Literatur

Das „Manifesto tecnico della letteratur futurista“ von Marinetti erschient am 11. Mai 1912. Es handelt sich um eine Revolutionierung des syntaktisch-grammatikalischen Regeln der italienischen Sprache:

„Im Flugzeug, ich saß auf dem Zylinder voll Benzin, den Bauch gewärmt vom Kopf des Fliegers, ich fühlte die lächerliche Nichtigkeit der alten von Homer ererbten Syntax. […] Und da sagte mir der kreisende Propeller, während ich in 200 Metern Höhe über den machtvollen Schornsteinen Mailands dahinflitzte […] man muss den Satzbau abschaffen, indem man die Substantive zufällig bei ihrer Geburt anordnet […] Man muss das Verb im Infinitiv benutzen […] das Adjektiv muss man abschaffen […] das Adverb muss man abschaffen […] jedes Substantiv muss ein Double haben […] die Zeichensetzung abschaffen […] man muss in die Literatur drei bisher vernachlässigte Elemente einbauen: den Lärm, das Gewicht und den Geruch.“

Wenig später übernahmen die Künstler:innen des Dadaismus Elemente daraus. Marinetti radikalisierte seine Ansichten im Manifest „Zerstörung der Syntax. Drahtlose Fantasie. Worte in Freiheit“ vom 11. Mai 1913. Der Dichter führte die Onomatopoesie, die Verwendung von lautmalerischen Wörtern, ein. Das moderne Leben kann in Form von Tönen und Geräuschen wiedergegeben werden. Kurz zuvor hatte Luigi Russolo im Manifest „L’arte die rumori [Die Kunst der Geräusche]“ (11. März 1913) empfohlen, Töne und Geräusche aufzunehmen. Diese sollten harmonisch aufeinander abgestimmt und rhythmisch ausgesteuert werden.

Architektur des Futurismus

Vom 11. Juli 1914 datiert das von Antonio Sant’Elia verfasste Manifest „Die futuristische Architektur“. Er sagt die Entwicklung der modernen Großstadt voraus, einer Struktur aus Stahlbeton. Die Gebäude würden bestehen aus „Eisen, Glas, Karton, Textilfaser und alle Ersatzstoffe für Holz, für Stein und für Ziegel, wodurch ein Höchstmaß an Elastizität und Leichtigkeit möglich wird […] Architektur aus dem Rechner, voller kühner Ausgriffe und geprägt von Einfachheit“. In seinem Werk unterstricht Sant’Elia ab 1914 städtebauliche Aspekte, für die er Verbindungsachsen, Verkehrsströme analysierte.
Als das „Ricostruzione Futurista dell’Universo [Futuristischer Wiederaufbau des Universums]“ (11. März 1915) erschien, lagen die innovativsten Vorschläge für die futuristische Praxis für die folgenden Jahre vor. Unterzeichnet von Giacomo Balla und Fortunato Depero, dürfte auch Enrico Prampolini an der Etablierung des „plastisch-dynamischen Komplexes (complessi plastici-dinamici)“ bzw. „des abstrakten Gegenstücks aller Formen und aller Elemente des Universums“ beteiligt gewesen sein. Darunter verstanden sie ein Objekt, das abstrakt, dynamisch, transparent, getränkt in Farben und Licht, autonom, knallend ohne Bezug zur Realität geschaffen wird:

„Mit dem plastischen Komplex hat der Futurismus seinen Stil definiert, der unvermeidlich viele Jahrhunderte des Fühlens und Wahrnehmens bestimmen wird.“ (Giacomo Balla)

Kurz darauf gingen die Künstler:innen des Futurismus dazu über, sich weniger theoretisch als handlungsorientiert, experimentierend weiterzuentwickeln (ab 1915). Ihre künstlerische Praxis schloss auch Bereich des Alltags ein, wie Küche, Einrichtung, Kleidung und Spielzeug, Bühnenbild, Buchgestaltung, Architektur und Werbegrafik. Nach dem Tod von Umberto Boccioni im Jahr 1916 befanden sich Carrà und Severini in einer Phase der Entwicklung hin zur kubistischen Malerei, woraufhin sich die Mailänder Gruppe auflöste, indem sie den Hauptsitz der Bewegung von Mailand nach Rom verlegten, was zur Geburt des „zweiten Futurismus“ oder „Nach-Futurismus“ führte.

Nach-Futurismus

Der zweite Futurismus gliederte sich im Wesentlichen in zwei Phasen. Die erste ging von 1918 bis 1928 und war durch eine starke Verbindung zur postkubistischen und konstruktivistischen Kultur gekennzeichnet; die zweite hingegen, von 1929 bis 1939, war viel mehr mit den Ideen des Surrealismus verbunden. Viele Maler, darunter Fillia (Luigi Colombo), Enrico Prampolini, Filiberto Sbardella, Nicolay Diulgheroff, Wladimiro Tulli waren Teil dieser Strömung – die mit dem sogenannten „dritten Futurismus“ endete und auch zum Epilog des Futurismus selbst führte – aber auch Mario Sironi, Ardengo Soffici, Ottone Rosai, Carlo Vittorio Testi und seine Frau Fides Stagni.

Während die erste Phase des Futurismus von einer kriegstreibenden und fanatischen Ideologie geprägt war (im vollen Gegensatz zu anderen Avantgarden), aber oft auch anarchisch, hatte die zweite Phase eine Verbindung zum faschistischen Regime. Sie nahmen die stilistischen Merkmale der staatlichen Kommunikation der Epoche auf und bedienten sich besonderer Vergünstigungen.

Die in der damaligen italienischen Kulturlandschaft allgemein weniger bekannten linken Futuristen bildeten jedoch jenen Teil des Futurismus, der politisch auf Positionen in der Nähe von Anarchismus und Bolschewismus gestellt wurde, obschon die Bewegung mit ihren Gründern und Hauptfiguren vom Faschismus geschluckt wurde.

Auch wenn die faschistische Hierarchie den zeitgenössischen Futuristen eine bisweilen verächtliche Unterschätzung vorbehielt, war die Beobachtung der autoritären Prinzipien und der interventionistischen Poetik des Futurismus bei den Künstlern der Gruppe fast immer präsent, bis sich einige von ihnen anderen Strömungen nicht anschlossen und sich distanzierten von der faschistischen Ideologie (Carlo Carrà beispielsweise vertrat die Metaphysik). Wieder andere, wie der junge Macerata-Maler Wladimiro Tulli, pflegten auch in späteren informellen Malerfahrungen stets einen spielerischen und libertären Ansatz, der wenig mit faschistischer Ästhetik zu tun hatte.

Russischer Futurismus

Marinettis futuristisches Manifest wurde nur einen Monat nach seiner Veröffentlichung in „Le Figaro“ in St. Petersburg wiederabgedruckt. Bereits in den Jahren 1911 und 1912 haben Natalja Gontscharowa und Michail Fedorowitsch Larionov, der in seiner Heimat als „Vater des russischen Futurismus“ bezeichnet wird, waren die konkreten Initiatoren der Bewegung in Russland.

Im Jahr 1913 verfassten der Maler Kasimir Malewitsch, der Komponist Mikhail Matjušin und der Schriftsteller Aleksej Eliseevič Kručënych das „Manifest des Ersten Russischen Futuristenkongresses“. Der auch als Kubo-Futurismus oder Rayonismus bekannten Bewegung schlossen sich Persönlichkeiten wie der Dichter und Dramatiker Wladimir Wladimirovič Mayakovskij an.

Marinetti selbst reiste im Januar 1914 nach Moskau. Aus der futuristischen Avantgarde-Bewegung gingen in den Jahren unmittelbar vor der Revolution von 1917 zwei bedeutende künstlerische Avantgarden hervor, der Konstruktivismus und der Suprematismus. Die Aufmerksamkeit, welche die Zeitungen und die Öffentlichkeit Marinetti widmeten, war enorm, aber nicht die gleiche Aufmerksamkeit seitens der russischen Futuristen, von denen einige sogar versuchten, Marinettis Besuch zu verhindern. Andere hingegen, wie Sersenevič, waren gastfreundlicher und herzlicher. Marinettis Temperament und Deklamationen fanden überall breites Echo; aber Marinetti versuchte vergeblich, die russischen Futuristen dazu zu bringen, sich mit den italienischen Futuristen zusammenzuschließen, weil die größten russischen Dichter, Chlebnikov, Livsič, Mayakovsky und sogar der Regisseur Larionov Marinetti kritisierten. Die letzte „Futuristenausstellung“ fand 1915 in Petrograd statt.

In Russland war die Bewegung nicht wie die von Mayakovsky kritisierte kriegerische Haltung der italienischen Futuristen gekennzeichnet, sondern wurde von einer utopischen Idee von Frieden und Freiheit begleitet, sowohl individuell (des Künstlers) als auch kollektiv (der Welt). Mit dem Beitritt eines Teils der Gruppe zum Bolschewismus war die Auseinandersetzung mit dem Futurismus abgeschlossen. Nach der Oktoberrevolution näherten sich viele Futurist:innen dem Kubismus und der Abstraktion an.

Futurismus in Frankreich

In Frankreich hat sich der Futurismus nie als Bewegung organisiert, aber er hatte mindestens zwei bemerkenswerte Protagonist:innen: Guillaume Apollinaire und Valentine de Saint-Point.

Apollinaire schrieb das Manifest „L'antitradition futuriste“ (29. Juni 1913), das erst am 25. September nach Marinettis Ergänzungen und Korrekturen in „Lacerba“ veröffentlicht wurde. Nachfolgende „Calligramme“ (1918) zeigen den deutlichen Einfluss des futuristischen Paroliberalismus auf den französischen Dichter.

Die Malerin, Schriftstellerin und Feministin Valentine de Saint Point, Nichte von Lamartine, schrieb das „Manifest der futuristischen Frau“ (Frühjahr 1912) mit dem Untertitel „Response to F. T. Marinetti“ in einem gleichzeitig in Paris und Mailand veröffentlichten Flugblatt. Das „Futuristische Manifest der Lust“ stammt aus dem Jahr 1913.

Künstlerinnen des Futurismus

Berühmte Künstlerinnen des Futurismus (Liste und Kurzbiografien der wichtigsten Künstlerinnen)

Der Futurismus war eine frauenfeindliche Bewegung. Seine Protagonisten – allen voran Marinetti – proklamierten frauenverachtende Thesen und skizzierten eine Vision von Kunst, die auf männlichen Werten wie Stärke, Schnelligkeit, Krieg basierte. Dennoch gab es darin viele Künstlerinnen, die viele Jahrzehnte wenig bis nicht beachtet wurden. Diese Künstlerinnen wurden in den letzten Jahren als unabhängige Intellektuelle wiederentdeckt, die innovativ und transmedial arbeiteten. Die Futuristinnen arbeiteten in Bereichen wie der dekorativen Kunst, Bühnenbild, Fotografie, Kino, Tanz, Literatur, Theater. Gegenüber der Bewegung vertraten sie oft kritische Positionen.

Die Französin Valentine De Saint-Point veröffentlichte 1912 das „Manifeste de la Femme futuriste [Manifest der futuristischen Frau]“ als Antwort auf Marinettis „Futuristisches Manifest“ von 1909. Darin heißt es:

„Jede Frau muss nicht nur weibliche Tugenden besitzen, sondern auch männliche Qualitäten; und der Mann, der nur männliche Kraft hat, ohne Intuition, ist nur ein Tier. Keine weiblichen Oktopusse der Herde mehr, Frauen sind die Erinnyen, die Amazonen, […] Die Krieger, die heftiger kämpfen als die Männer.“ (Valentine De Saint-Point)

Werke

Der Futurismus gab sein Bestes in Malerei, Mosaik und Skulptur, während literarische und theatralische Werke, aber auch architektonische, nicht die gleiche Aufmerksamkeit hatten.

„Alles bewegt sich, alles läuft, alles dreht sich schnell. Eine Gestalt vor uns ist niemals fest, sondern sie erscheint und verschwindet unablässig. Um eine Beständigkeit auf der Netzhaut zu erzeugen, vervielfachen sich die Dinge in Bewegung, entstellen sich, wobei sie wie Bebungen in dem Raum, den sie durchlaufen, aufeinanderfolgen. So hat etwa ein laufendes Pferd nicht vier Beine. Es hat zwanzig Beine, und ihre Bewegungen sind dreieckig.“5

Charakteristisch für futuristische Werke ist die Darstellung von bewegten Motiven (Dynamismus). Dafür nutzten Künstler:innen die Kombination von unterschiedlichen Momenten eines Bewegungsablaufs (Simultanität), Gemütszustände und Kraftlinien, „Durchdringung von Ebenen“. Ersteres vermittelt die Gleichzeitigkeit des Sehens und betont die Entwicklung der Handlung. Da Kraftlinie psychologisch mit richtungsweisender Bedeutung auf die Betrachter:innen einwirkt, überwindet sie, indem sie sich in verschiedene Positionen setzt, ihr Wesen als einfaches Segment und wird zu zentrifugaler und zentripetaler ‚Kraft‘, während Objekte, Farben und Flächen in eine Kette von ‚gleichzeitigen Kontrasten‘ gedrängt werden.

„Malerei ohne Divisionismus kann nicht bestehen. Jedoch stellt der Divisionismus in unserer Auffassung kein technisches Mittel dar, das man methodisch erlernen und anwenden könnte. Der Divisionismus beim modernen Maler muss ein angeborener Komplementarismus sein, den wir für wesentlich und für schicksalshaft halten.“6

Malerei

Als die fünf Maler im Februar 1910 das „Futuristische Manifest der Malerei“ unterschrieben, war die futuristische Malerei erst im Entstehen. Aus stilistischer Sicht basiert der Futurismus in Italien – insbesondere der von Boccioni – auf dem Konzept des Divisionismus (→ Postimpressionismus | Pointillismus | Divisionismus), der es jedoch schafft, die beliebten Konzepte von Geschwindigkeit und Gleichzeitigkeit am besten zum Ausdruck zu bringen: Künstlern wie Giovanni Segantini, Vittore Grubicy, Angelo Morbelli, Gaetano Previati, Carlo Fornara und Pellizza da Volpedo ist zu verdanken, dass der Futurist Umberto Boccioni einige Jahre später Gemälde wie „La citá sale [Die Stadt erhebt sich]“ schaffen konnte.

Im Jahr 1912 veröffentlichten die Futurist:innen in Mailand Plakate zur futuristischen Malerei. Darin fassten die Beteiligten die futuristischen Maltechniken zusammen. Boccioni befasste sich hauptsächlich mit plastischer und synthetischer Dynamik und der Überwindung des Kubismus, während Balla von der Untersuchung der Lichtschwingungen (Divisionismus) zur synthetischen Bewegungsdarstellung überging. 1912 stellten Boccioni, Carrà und Russolo die ersten futuristischen Werke in Mailand auf der „Freie Kunstausstellung“ in der Ricordi-Fabrik aus.

Die Wurzeln der Gärung, die zum Niedergang des Futurismus in der Kunst führte, lassen sich künstlerisch bereits in der Scapigliatura erkennen – einer typisch mailändischen und bürgerlichen Strömung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts –, wo der Futurismus verächtlich von der feinen Bourgeoisie ablenkt sich auf die industrielle Revolution, auf Fabriken zu konzentrieren.

Konzeptuell geht der Futurismus vom kubistischen Prinzip der Formzerlegung aus. Am Kubismus angelehnt, ist zweifellos die Technik, bei der die Bildfläche in viele Ebenen unterteilt wird, die jeweils eine andere räumliche Perspektive aufnehmen. Während jedoch für den Kubismus die Analyse des stillstehenden Subjekts entlang einer ausschließlich räumlichen vierten Dimension ermöglicht, verwendet der Futurismus die Zerteilung, um die zeitliche Dimension, die Bewegung, wiederzugeben. Der Futurismus – allen voran die Werke von Boccioni – beeinflussten wiederum die Pariser Kubisten, darunter Robert Delaunays Orphischer Kubismus bzw. regte Fernand Léger an, sich mit der Mechanisierung der Welt auseinanderzusetzen. Zu den interessantesten Anhängern des Futurismus gehört die russische Avantgarde des Rayonismus und Konstruktivismus.

Die futuristische Suche nach der Bewegung darf jedoch nicht mit dem Momenthaften des Impressionismus gleichgesetzt werden. Wenn es stimmt, dass die Impressionist:innen die „Gegenwart“ zum Kern ihrer künstlerischen Forschung machten, bewegten sich die Futurist:innen in fast die entgegengesetzte Richtung: Sie wollten auf der Leinwand keinen Moment der Bewegung einfangen, sondern die Bewegung selbst, in ihrer räumlichen Entfaltung und in ihrer emotionalen Reaktion.

Als Folge der „Ästhetik der Geschwindigkeit“ überwiegt in futuristischen Gemälden das dynamische Element: Bewegung betrifft das Objekt und den Raum, in dem es sich bewegt. Die Dynamik der Züge, der Flugzeuge (Aeropittura), der bunten und vielstimmigen Massen und der täglichen Aktionen – wie es schwanzwedelnden Hundes beim Spaziergang mit der Herrin, des auf der Terrasse laufenden Kindes, der Tänzer – wird durch Farben und Pinselstriche unterstrichen. Dadurch bringen die Künstler:innen den treibenden Schub der Formen zum Ausdruck. Die Konstruktion kann aus gebrochenen, eckigen und schnellen Linien bestehen, aber auch aus linearen, intensiven und fließenden Strichen, wenn die Bewegung harmonischer ist.

Zwei der Hauptvertreter des Futurismus, Umberto Boccioni und Giacomo Balla, waren auch als Bildhauer tätig. Boccionis Malerei wurde als „symbolisch“ definiert: Das Gemälde „La città che sale [Die Stadt erhebt sich]“ (1910) beispielsweise ist eine Metapher für den Fortschritt, der durch den Titel und die Baustellenszenen im Hintergrund diktiert wird, die sich in ihrem wirbelnden Wachstum aus der Macht verdeutlichen des entlaufenen Pferdes, ein Materiestrudel, der in Ebenen zerfällt. Wenn Boccioni symbolisch ist, ist Balla fotografisch und analytisch. Immer noch an kubistische Prinzipien gebunden, ist es nicht ungewöhnlich, dass er photogrammetrische Sequenzen einer Szene erstellt, um die Bewegung wiederzugeben, anstatt sich auf ungestüme Strudel der Malerei zu verlassen: Dies ist der Fall des gestellten Mädchens, das zum Balkon rennt (1912).

Skulptur

„Die neue Plastik wird also darin bestehen, dass die atmosphärischen Ebenen, die die Dinge verbinden und durchschneiden, in Gips, Bronze, Glas, Holz und jeden anderen Werkstoff übersetzt werden […] Öffnen wir die Figur weit und schließen in ihr die Umgebung ein.“7 (Umberto Boccioni)

Umberto Boccioni war der aktivste Künstler im Bereich der futuristischen Skulptur – und anerkannter Theoretiker des Futurismus. 1912 veröffentlichte er das „Technische Manifest der futuristischen Skulptur“. Genau in die Jahre 1912/13 lassen sich alle seine Skulpturen datieren, darunter „Testa + casa + luce [Kopf + Kaus + Licht]“ und „Fusione di una testa e di una finestra [Verschmelzung eines Kopfes und eines Fensters]“ (beide 1913) waren 1913/14 in Paris und Rom ausgestellt. Die 1914 in „Pittura e scultura futuriste (Dinamismo Plastico)“ dokumentierten Werke sind heute verschollen, wurden aber von Pariser Avantgardisten wie Raymond Duchamp.Villon, Jacques Lipchitz in den Jahren 1915 bis 1920 mit großem Interesse studiert.
Als Höhepunkt von Boccionis Skulptur kann die Bronze „Forme uniche nella continuità dello spazio [Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum]“ von 1913 betrachtet werden: Die Darstellung, indem sie die poetischen Erklärungen von Boccioni selbst anwendet, ist eins mit dem sie umgebenden Raum. Die Plastik dehnt sich aus, zieht sich zusammen, fragmentiert und nimmt ihn in sich auf.
Auch „L'Antigrazioso“ oder „La Madre“, die unmittelbar davor entstanden waren, zeigen skulpturale Haltungen, die „Einzigartige Formen“ ähneln. In ihnen begann sich Bocconi mit Problemen der Plastizität auseinanderzusetzen, deren Lösung ihn aus dem Einfluss des Naturalismus herauslöste.

Beiträge zum Futurismus, futuristische Künstler und Künstlerinnen

  1. Zit. n. Gabriella Belli, Der italienische Futurismus. Protagonisten und Ereignisse, in: Sprachen des Futurismus. Literatur, Malerei, Skulptur, Musik, Theater, Fotografie (Ausst.-Kat. Martin-Gropius-Bau, Berlin, 2.10.2009-11.1.2010), Berlin 2009, S. 10-29, hier S. 13. Das Datum bestätigte erstmals Christa Baumgarth, Die Anfänge der futuristischen Malerei, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz (November 1964).
  2. Die erste öffentliche Lesung des Manifests fand am 8. März 1918 im Politeama Chiarella in Turin statt. Es ist denkbar, dass das Manifest zurückdatiert worden ist. Ebenda, S. 13.
  3. Zit. n. Umberto Boccioni, Che cosa ci divide dal cubismo, in: Pittura, Scultura Futuriste, Mailand 1914, S. 119–120.
  4. Die allererste Ausstellung fand im April 1911 im Ricordi-Pavillon in Mailand statt. Es gibt jedoch keinen Katalog davon. Teilnehmer waren Boccioni, Russolo und Carrà.
  5. Zit. n. S. 16.
  6. Zit. n. Boccioni, Carrà, Russolo, Balla, Severini, Manifesto tecnico della pittura futurista, 11. April 1910.
  7. Zit. n. Umberto Boccioni, Manifesto tecnico della scultura futurista (11.4.1912).