Carlo Carrà

Wer war Carlo Carrà?

Carlo Carrà (Quargnento 11.2.1881–13.4.1966 Mailand) zählt zu den bedeutendensten italienischen Künstlern und Kunstschriftstellern des 20. Jahrhunderts (→ Klassische Moderne). Der aus dem Piemont stammende Künstler erhielt zunächst eine Ausbildung als Stuckateur, bevor er 1904/05 die Kunstgewerbeschule im Castello Sforzesco besuchen konnte. Im Anschluss studierte er an der Akademie der Brera Malerei (1905-1908). Ab 1909 gehörte Carlo Carrà zu den Protagonisten des Futurismus, dem er 1915 jedoch den Rücken kehrte. Im gleichen Jahr lernte er Giorgio de Chirico kennen, mit dem er gemeinsam die Pittura metafisica entwickelte. Nach Ende des Ersten Weltkriegs hatte Carlo Carrà seine Bildsprache gänzlich beruhigt und war zu einer klassischen Einfachheit vorgedrungen. Mystisch ruhige Landschaften und voluminöse Akte prägten bis zum Lebensende des Kunstkritikers und Professors an der Brera sein Werk.

Kindheit und Ausbildung

Carlo Carrà wurde am 11. Februar 1881 in Quargnent (Alessandria) im norditalienischen Piemont geboren.

Der Künstler lernte in Valenza Stuckateur und zog 1895 im Alter von 14 Jahren nach Mailand. Dort belegte er, zunächst berufsbegleitend, die Abendschule der Akademie in Brera. In der Galerie Grubicy lernte er er die Kunst Giovanni Segantinis kennen und war tief beeindruckt. Noch lebte Carlo Carrà von seiner Arbeit als Stuckateur – im Jahr 1898 arbeitete er an einer Kirche in Monza.

Im Jahr 1900 fuhr Carlo Carrà zur Weltausstellung nach Paris, wo er an einigen Pavillons mitarbeitete. Er bewunderte die französischen Romantiker im Louvre, Gustave Courbet begeisterte ihn im Petit Palais. Im Luxemburg-Pavillon sah Carrà zum ersten Mal die französischen Avantgardekünstler des ImpressionismusPierre-Auguste Renoir, Paul Cézanne, Camille Pissarro, Alfred Sisley, Claude Monet, Paul Gauguin. Seine Bildungsreise führte ihn weiter nach London: Hier war er von den Gemälden von John Constable und William Turner begeistert, während ihn die Bilder der Präraffaeliten (→ Präraffaeliten. Eine Avantgarde-Bewegung?) kalt ließen.

Zurück in Italien wandte sich Carrà vermehrt der Malerei zu. Erst 1904/05 konnte er an die Kunstgewerbeschule im Castello Sforzesco besuchen. Seine frühen Landschaften sind vom lombardischen Naturalismus und impressionistischen Divisionismus geprägt (→ Postimpressionismus | Pointillismus | Divisionismus). In diesem Sinne trug er farbig fein abgestufte Pinselstriche voneinander getrennt auf. Carràs Bilder der divistionistischen Phase wirken erst aus der Distanz. Bereits 1905 gewann Carlo Carrà zwei Preise der Kunstgewerbeschule. Sein Onkel stattete ihn daraufhin mit einem kleinen Stipendium aus, so dass Carrà ab dem folgenden Jahr ganztags Malerei an der Accademia di Brera studieren konnte.

Carrà und der Futurismus

Von Mailand breitete sich der Futurismus aus (1909–1916), wobei die Künstler dieser italienischen Stilrichtung und Lebenshaltung, das Leben des beginnenden 20. Jahrhunderts in seiner Dynamik, Bewegung und Fortschrittlichkeit zu fassen suchten. Carlo Carrà schloss sich der progressiven Bewegung 1909/10 an und gehörte neben Umberto Boccioni, Luigi Russolo, Giacomo Balla und Gino Severini zu ihren Hauptvertretern.

Der Beginn der futuristischen Kunst wird mit dem 11. April 1910 angenommen, als Boccioni, Carrà, Russolo, Balla und Severini gemeinsam mit Filippo Tommaso Marinetti das „Technische Manifest der futuristischen Malerei“ herausgaben.1: Als Gruppe erklärten sie allen Institutionen den Krieg, welche an der „Tradition, dem Akademismus“ und der „geistigen Trägheit“ festhielten. Er studierte selbst Revolutionstheorien und lernte den Anarchisten Angelo Galli kennen (gest. 1904), dessen Tod er 1910/11 in dem futuristischen Gemälde „Funerali dell’ anarchico Galli“ (MoMA) fassen würde. Carràs Bekanntenkreis erweiterte sich um Libertäre und Sozialisten wie Aldo Palazzeschi und viele andere. Da Carlo Carrà neben den Malern Boccioni, Russolo, Balla und Severini im „Zweiten Manifest des Futurismus“ 1911 angeführt wird, ist er als ein Protagonist der futuristischen Kunst anzusprechen.

Carràs futuristische Werke zeigen kubistisch fragmentierte Objekte, er collagierte mit Zeitungsartikeln und integrierte lautmalerische Wortspiele in seine Werke. Der Austausch mit den Pariser Künstlern des Kubismus - vor allem des Synthetischen Kubismus - ist offenkundig. „Per la strada (Parco Tot)“ (1914) oder „Composizione grafica buuu” (1914) zeigen Worte, eigentlich Satzfetzen, die wie fragmentierte Werbesprüche dem Publikum entgegengehalten werden. Carlo Carrà arbeitete an schwarz-weißen Drucken wie Ölgemälden, Tuschezeichnungen und Temperamalerei auf Pappe. Die Großstadt als zersplittertes Gewimmel steht, wie für den Futurismus charakteristisch, im Zentrum seiner Beobachtung.

Im März 1915 unterstützte Carrà noch die Kriegsinterventionisten, er publizierte seine „Guerrapittura. Futurismo politico, dinamismo plastico, 12 disegni guerreschi, parole in liberta”. Das Buch beginnt mit 12 Reproduktionen von Kriegszeichnungen, gefolgt von Collagen, politischen Fragmenten, „Worte in Freiheit [parole in libertà]“, theoretischen Schriften zur Kunst und zwei politisch-futuristischen Plakaten. Hierin propagierte er besonders vehement die Gleichsetzung von Kunst und Krieg, sah im Weltkonflikt eine Möglichkeit zur Katharsis. Am 23. Mai 1915 wechselte Italien vom Dreibund und einer neutralen Haltung zu den Entente-Mächten, mit denen es in den Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn eintrat. Carlo Carrà brach im Juli 1915 so überraschend wie abrupt die futuristische Schaffensphase ab und wandte sich der klassischen Florentiner Kunst zu – besonders Giotto di Buoninsegna begeisterte ihn nun. Giovanni Papini erklärte er einfach, er kehrte zu primitiven, konkreten Formen zurück, weil er sich fühlte wie ein Giotto di Bondone seiner Zeit.2

„Der schreckliche Krieg hat mit seiner mächtigen Stimme zu mir gesprochen. Er hat mir die Aufgabe klargestellt, die mir von der Natur gesandt ist. […] Wie viele geistige Güter hat mir dieser Krieg schon gebracht. Ich weiß jetzt, dass meine Pflicht und meine Tat das Singen sind: tragisch singen, singen, bis das Herz zerbricht. Diese meine Pflicht als Künstler besitzt mich heute und für immer. Ich weiß, dass es die größte der Pflichten ist. Das Schicksal hat gesprochen: Du musst.“ (Carlo Carrà)

Metaphysik und Puppenhäuser: Carràs Manichini und Grisaille-Büsten

1917 traf Carlo Carrà in einer Klinik außerhalb von Ferrara auf Giorgio de Chirico und dessen Bruder Alberto Savinio. Gemeinsam gründen sie die Metaphysische Schule [pittura metafisica → Giorgio de Chirico: Das Geheimnis der Arkade]. Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, der die Futuristen als die Realisierung ihrer Ideen und Konzepte begrüßt hatten, bedeutet zugleich die Abkehr seiner wichtigsten Protagonisten vom ursprünglichen Bekenntnis.3 Carrà änderte daraufhin seine Vorstellung von Kunst grundlegend: Die metaphysische Malerei, so der Maler, sei eine Suche, um Realität und innere Anschauungen im Bild enger zusammenzubringen (→ Unheimlich real. Italienische Malerei der 1920er Jahre).

Carlo Carrà schuf in den folgenden Jahren geheimnisvolle Kompositionen, in denen enge Schachtelräume, gesichtslose Puppen (Manichini) und verschiedenste Objekte miteinander in Verbindung gebracht werden. Eine Auflösung der Geschichten scheint unmöglich zu sein. Zu den berühmtesten Bildern dieser Phase zählen: „Madre e figlio [Mutter und Sohn]” (1917) und „La Musa metafisica” (1917). Carlo Carrà malte sie in grellen rot-orangen Tönen und verwendete ein giftiges Grün. Daneben setzte er aber auch gedeckte Farben ein – Braun, Ocker, Grau und weitere gedämpfte Mischfarben. So gelingt es ihm, alltägliche Gegenstände in ein anderes, rätselhaftes Licht zu rücken. Höhe- und auch Endpunkt dieser metaphysischen Experimente ist Carràs kunsttheoretische Schrift „Pittura metafisica”, die 1918 erschien.

Rückkehr zur „Ordnung“

Vergleichbar den Stilentwicklungen bei Pablo Picasso, Georges Braque, Fernand Léger und den Künstlern der Neuen Sachlichkeit wandte sich auch Carlo Carrà ab 1916 in seiner metaphysischen Phase der Neubegründung der Kunst in der Auseinandersetzung mit der Tradition zu. Nachdem der Krieg geschlagen war, und er 1919 geheiratet hatte, beruhigte sich sein zuvor politisiertes Leben. Zur gleichen Zeit begegnete er erstmals Giorgio Morandi, dem Maler der ruhigen Stillleben, den er zeitlebens als Mensch und Künstler sehr schätzte. Ab 1920 zog sich Carrà aus dem gesellschaftlichen Leben zurück.

1921 entstand, während eines Sommeraufenthalts in Ligurien, sein berühmtestes Werk – „Il pino sul mare” (Privatsammlung). Dieses Gemälde war der Auftakt für Carràs längste Schaffensphase, in der sich der Maler ganz der Landschaftsmalerei zuwandte . Carrà schuf stimmungsvolle, atmosphärische Landschaften in allen Variationen: Seestücke, Wiesen, Flussmündungen, Schiffsszenerien.

Körper und Akte in klassischer Schönheit

1938 stellte Carlo Carrà Fresken im Palazzo di Giustizia in Mailand fertig: „Giudizio universale [Jüngstes Gericht]“ und „Giustiniano libera lo schiavo [Justinian befreit den Sklaven]“. Kartons für einzelne Figuren in Form von monumentalen Kohlezeichnungen demonstrieren, wie Carlo Carrà die Komposition entwickelte, wie er mit den Körpern und deren Volumina im Raum arbeitete.

Carrà thematisierte in seinem späten Werk den menschlichen Körper. Archaische, große, den Raum einnehmende Figurengruppen, nackte Badende, Gruppen nackter Männer oder Frauen wirken urwüchsig und mit Hilfe ihrer wuchtigen Volumina, die das Meer zerteilen und die Fläche strukturieren. Sie strahlen Ruhe aus und sind von monumentaler Kraft. Die Körper wirken massig und dabei doch leise, umgänglich, den sie umgebenden Raum mäßigend und von beruhigender Schönheit.

1941 wurde Carrà als Professor an die Accademia di Brera berufen. 1942 widmet ihm die Pinakothek der Brera eine erste Retrospektive, im gleichen Jahr erschien eine Autobiographie. 1950 durfte Carrà auf der Biennale in Venedig einen eigenen Raum bestücken, 1955 und 1964 war er auf der documenta I und der documenta III in Kassel vertreten. Am 13. April 1966 starb Carlo Carrà in Mailand. Was von ihm blieb? Das italienische Novecento verdankt dem bedeutenden Maler und Lehrer stilbildende Impulse.

Alle Beiträge zu Carlo Carrà

18. Oktober 2018
Carlo Carrà, La musa metafisica [Die metyphysische Muse], Detail, 1917, Öl/Lw, 90 x 66 cm (Mailand, Pinacoteca di Brera)

Carlo Carrà vom Futurismus zur Pittura metafisica Werk und Leben des italienischen Malers

Der Palazzo Reale in Mailand widmet Carlo Carrà eine beachtenswerte Überblicksausstellung, in der man die künstlerische Entwicklung Carràs in den Mittelpunkt rückt. Alle Schaffensperioden und künstlerischen Spielarten des bedeutenden italienischen Malers – von seinen Anfängen als Divisionist, seiner Beteiligung am Futurismus und der Pittura Metafisica bis zum reifen, klassischen Werk – werden vorgestellt. Das Œuvre Carràs zeigt ein Bild einander abwechselnder Stilrichtungen, bis hin zu einer Beruhigung im monumentalen Akt und Landschaftsgemälde. Im deutschsprachigen Raum wenig bekannt, hat Carlo Carrà die italienische Avantgarde des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt.
21. August 2018
Ubaldo Oppi, Die Frau des Künstlers vor venezianischer Kulisse, Detail, 1921, Öl/Lw (Privatsammlung, Rom, Foto: Carlo Baroni, Rovereto)

Unheimlich real. Italienische Malerei der 1920er Jahre Magischer Realismus auf der Appeninhalbinsel

Im Laufe der 1920er Jahre entfaltet sich in Italien der Realismo Magico [Magischer Realismus], eine Kunstströmung, die lange mit der Neuen Sachlichkeit gleichgesetzt wurde. Rund 80 Gemälde dieser Bewegung sind im Herbst 2018 in der Ausstellung „Unheimlich real. Italienische Malerei der 1920er Jahre“ im Museum Folkwang zu sehen.
  1. Siehe: Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbeck b. Hannover 2009, S. 68–69.
  2. Zit. n. Stella Seitun, Segno e Disegno in Carrà, in: Maria Cristina Bandera (Hg.), Carlo Carrà (Ausst.-Kat. Palazzo Reale, Mailand, 4.10.2018–3.2.2019), Mailand 2018, S. 82–85, hier S. 84.
  3. Manfred Hinz, Die Zukunft der Katastrophe. Mythisch und rationalistische Geschichtstheorie im italienischen Futurismus, Berlin 1985, S. 161.