William Kentridge (* 1955) zählt zu den populärsten Künstlern der Gegenwart, der als Zeichner, Schöpfer von Animationsfilmen, Bühnenbildner, Schauspieler, Regisseur sowie Autor für Film und Bühne arbeitet. In seinem Werk arbeitet er mit den unterschiedlichsten Medien wie Zeichnung, Skulptur, Grafik, Film und Theater. Vor allem mit Zeichnungen, die er in Stop-Motion-Technik, oder steinzeitliches Filmemachen, wie er es nennt, miteinander verhmelzen lässt, wurde er international berühmt. Inhaltlich setzt sich Kentridge mit den Folgen des Kolonialismus und des Apartheidregimes auseinander. Der Zeichner thematisiert das Entstehen und Vergehen seiner Werke auf Papier bis hin zu frühen Spezialeffekten in der Filmgeschichte.
Der Südafrikaner aus Johannesburg entstammt einer jüdischen Rechtsanwaltsfamilie und studierte Politik und Afrikanistik (1973–1976), bevor er sich zuerst der Druckgrafik, dann dem Theater und dem Film zuwandte. Dem Kunststudium an der Johannesburg Art Foundation (1976–1978) folgte der Besuch der Theaterschule École Jacques LeCoq in Paris (1981–1982).
Seit den frühen 1980er Jahren stellt William Kentridge im Kunstkontext aus. Seit den 1990ern ist er auf der internationalen Bühne nicht mehr wegzudenken. Mehrfache Teilnahmen an der Biennale von Venedig und der documenta in Kassel, der Johannesburg Biennale u.v.m. belegen die Bedeutung und die globale Wertschätzung seiner Kunst.
Seit 1976 arbeitet William Kentridge an vielen unterschiedlichen Bühnen- und Opernproduktionen, was auch einen Niederschlag in seinem Werk als bildender Künstler hatte. Bis 2018 hat er bei fünf Opern Regie geführt und das Bühnenbild gestaltet.
Kentridge entwickelte seine erste Operninszenierung in Zusammenarbeit mit der Handspring Puppet Company: Claudio Monteverdis „Il ritorno d’Ulisse in patria [Die Heimkehr des Odysseus]“ aus dem Jahr 1641 am Lunatheater in Brüssel. In dieser 90-minütigen Kurzversion von Monteverdis Dreistundenepos wird war anstelle des griechischen Ithaka Südafrika zur „Patria“. Das Bühnenbild besteht aus einem anatomischen Theater des 17. Jahrhunderts, in dem das Sezieren auch vor zahlendem Publikum stattfand, das in den aufsteigenden Reihen ringsherum Platz nimmt. Der hinter die Puppenspieler_innen projizierte Film wird zum zentralen Nervensystem von allem, was physisch auf der Bühne stattfindet, wie zum Beispiel eine moderne Krankenhausstation, ein Ultraschallbild, ein pumpender Blutkreislauf oder ein Verdauungssystem, das sich in Fluten, Flüsse und offene Meere ergießt.
Mit der Bearbeitung der „Zauberflöte“ (1791) von Wolfgang Amadeus Mozart betrat William Kentridge die Welt der internationalen Opernszene. Als eine der weltweit populärsten Opern erzählt das Singspiel von Prinz Tamino, der sich aufmacht, die vom Hohepriester Sarastro entführte Pamina, Tochter der Königin der Nacht, zu retten.
Die in der Oper verwobenen Freimaurerelemente bieten Kentridge eine reichhaltige Bilderwelt für seine innovative Behandlung des Meisterstücks. Sowohl Mozart als auch der Librettist Emanuel Schikaneder waren Freimaurer und auch Logenbrüder. Über einem statischen, handgemalten Bühnenbild, wie im traditionellen Barocktheater üblich, setzen sich seine Zeichnungen dieser Elemente wirbelnd in Bewegung. Kentridge verbindet diese Animationen mit einem Filmdokument aus den 1930er Jahren, welches weiße Männer bei einer Safari zeigt. Eine Hommage an das Bühnenbild des klassizistischen Architekten Karl Friedrich Schinkel aus dem Jahr 1816 findet sich im sternenbesetzten Himmelsgewölbe hinter der Königin der Nacht ebenso wie in zahlreichen weiteren Bezügen.
2010 produzierte er an der Metropolitan Opera in New York die unvollendete Oper „Lulu“ des österreichischen Komponisten Alban Berg (1885‒1935), die auf zwei Theaterstücken des deutschen Schriftstellers Frank Wedekind (1864‒1918) basiert. Sie erzählt die Geschichte einer femme fatale in Wien, die durch ihre Ausbeutung männlicher wie weiblicher Sehnsüchte zu Ruhm und Reichtum aufsteigt. Sie und ihrer Bewunderer sind skrupellose und dennoch dem Untergang geweihte Figuren, die ein brutales Ende nehmen. Das Bühnenbild inkludierte eine Reihe von schwarzen Tuschezeichnungen der Besetzung der Oper sowie insbesondere der Lulu selbst, welche großformatig auf die Bühne projiziert wurden. Die Zeichnungen erinnern an Werke des deutschen Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, vor allem an Zeichnungen von Max Beckmann (1884‒1950), George Grosz (1893‒1959), Käthe Kollwitz (1867‒1945) oder Ernst Ludwig Kirchner (1880‒1938).
William Kentridge wandte sich der selten aufgeführten Oper „Die Nase“ von Dmitri Schostakowitsch (1928) zu, die auf der gleichnamigen grotesken Erzählung von Nikolai Gogol (1836) basiert. Die Oper wurde für ein großes Orchester, achtzig Solistinnen sowie Soliten und viele kleinere, aber schwierige Rollen komponiert. Teilweise sind bis zu einhundert Darstellerinnen und Darsteller gleichzeitig auf der Bühne. Die Erzählung handelt von den Missgeschicken eines russischen Bürokraten, der eines Morgens beim Aufwachen feststellt, dass seine Nase fehlt. Später findet er heraus, dass sie ein Eigenleben entwickelt und ihm sogar seinen gesellschaftlichen Rang abgelaufen hat. Kentridge erklärt, dass ihn das Werk durch die Art und Weise ansprach, „wie es das Absurde ernst nimmt. […], dass die Struktur der Welt nicht auf Logik und kartesianischer Rationalität beruht, sondern vielmehr auf Brüchen in dieser Klarheit und eindeutigen Logik, was mir viel näher an dem zu liegen scheint, wie die Welt tatsächlich funktioniert.” Als formale Inspiration und Referenz dienten ihm Kunstschaffende und Intellektuelle der russischen Avantgarde (→ Chagall bis Malewitsch. Russische Avantgarden).
In dem von Kentridge geschaffenen computergesteuerten Puppentheater „Right Into Her Arms“, sind Szenen des ersten Aktes der Oper mit Musikstücken der 1930er Jahre kombiniert. Zu Beginn rezitiert Kentridge „Thick Time“ aus der „Ursonate“ (1932) des deutschen Dadaisten Kurt Schwitters. Er erprobt unterschiedliche zeitgenössische Ausdrücke in Tönen und Bildern in Zusammenhang mit einer Verdichtung des Opernthemas: dem Wesen der menschlichen Begierde.
Die Salzburger Festspiele luden William Kentridge 2016 ein, für die Saison 2017 die Oper „Wozzeck“ (1925) von Alban Berg zu inszenieren. Da er bereits 1992 an „Woyzeck in the Highveld [Woyzeck auf dem Highveld]“, einer Adaption des Theaterstücks von Georg Büchner, gearbeitet hatte, war er bereits mit dem Stoff vertraut. Ebenso wie Bergs Lulu ist auch Büchners Wozzeck durch den frühzeitigen Tod des Autors im dritten Akt unvollendet geblieben. Genau diese Anziehungskraft des Unvollständigen hatte Berg dazu bewogen, das Theaterstück in eine Oper zu übertragen. Sie erzählt die Geschichte eines Soldaten, der zum Opfer seiner Vorgesetzten und als Versuchsobjekt für medizinische Experimente missbraucht wird. Diese verursachen bei ihm Halluzinationen und eine allgemeine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes. Wozzeck entscheidet sich schließlich dazu, Marie, mit der er zusammenlebt und die ihn betrogen hat, zu ermorden.
Lulu und Wozzeck bilden die Antithese zur „schönen“ Oper, die Kentridge dazu benutzt, die in seinen Werken thematisierte „Demaskierung“ einer geschönten Geschichte und die Dramatisierung von Ungerechtigkeit, die in beiden Werken präsent ist, voranzutreiben. Seine Zeichnungen machen den Schrei, die unbeachteten Stimmen und den oft stillen Protest sichtbar. Kentridges Animationen vereinen alle möglichen Ausdrucksweisen von Zeit, die auch in den Kompositionen gegenwärtig, wenngleich nur fallweise mit der Musik synchronisiert sind: Lineare Zeit, Gleichzeitigkeit und Erinnerungsmotive, um nur einige zu nennen. Der Film ist niemals Illustration des Geschehens, sondern inkludiert auch bereits vorhandene Filmsequenzen, anhand derer er eine parallele Komposition entwickelt. Von den Hunderten Tuschezeichnungen, die in seinem Film verarbeitet sind, wird jede einzelne bei ihrer Projektion auf den Bühnenbereich zu einem explosiven Epizentrum.
Verheiratet mit Anne Stanwix. Das Paar hat drei Kinder.