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Tübingen | Kunsthalle Tübingen: SISTERS & BROTHERS 500 Jahre Geschwister in der Kunst | 2022/23

Nicholas Nixon, The Brown Sisters, Greenwich, Rhode Island, 1980, Silbergelatinen-Abzug, 19,3 x 24,4 cm (Olbricht Collection © Nicholas Nixon, courtesy Fraenkel Gallery, San Francisco)

Nicholas Nixon, The Brown Sisters, Greenwich, Rhode Island, 1980, Silbergelatinen-Abzug, 19,3 x 24,4 cm (Olbricht Collection © Nicholas Nixon, courtesy Fraenkel Gallery, San Francisco)

Wir alle sind in Familien aufgewachsen und auch wenn wir diese als Heranwachsende verlassen, bleiben wir meistens weiterhin mit unserer Ursprungsfamilie in Kontakt. Was wir in unserer „Familie“ erleben, ob wir Einzelkinder sind oder Geschwister haben, hat Auswirkungen auf unser gesamtes Leben. Ob Zwillinge, Geschwister, Stiefgeschwister oder Geschwister im Geiste, wer mit anderen aufwächst, ist konfliktfähig und übt sich meist früh in Fürsorge und Solidarität – kurz der oder die erwirbt sich wichtige Schlüsselqualifikationen für ein menschliches Miteinander.

Überraschenderweise jedoch wurde die längste und nicht selten intensivste Beziehung im Leben eines Menschen – die Geschwisterbeziehung – bislang in den Wissenschaften kaum erforscht und noch nie zum Thema einer Ausstellung gemacht. Mit „SISTERS & BROTHERS. 500 JAHRE GESCHWISTER IN DER KUNST“ dokumentiert die Kunsthalle Tübingen das facettenreiche Thema der Geschwisterbeziehung in der bildenden Kunst erstmals umfassend mit rund 100 Werken.

 

500 Jahre Geschwister in der Kunst

Aus kulturhistorischer Perspektive machen die gezeigten Gemälde, Skulpturen, Objekte und Videos die Veränderung der Geschwisterdarstellungen vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart anhand eines chronologischen Parcours anschaulich. Dieser führt vom schönen Schein der Genremalerei über das romantische und bürgerliche Geschwisterbild bis zu Darstellungen der Gegenwart. Gerade die zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstler brechen die historischen Geschwisterdarstellungen in ihren Werken heute nicht nur ironisch, sondern unternehmen darüber hinaus eigene „Tiefenbohrungen“, die auch die herausfordernden Seiten in den Beziehungen von Geschwistern ausleuchten. Nicht zuletzt zeigen sie, dass das Thema auch Zukunftspotential birgt.

 

Geschwister in der Mythologie

Die Beziehungen unter Schwestern und Brüdern sind urwüchsiger und spontaner als andere menschlichen Beziehungen. Deshalb kennt auch die antike und christliche Mythologie viele Geschichten, die unterschiedlichsten seelischen Triebkräften dieser familiären Konstellation Ausdruck verleihen.

Ihre Dynamik erhalten die Geschwisterbeziehungen dabei immer aus der konkurrierenden Bezugnahme zu den Eltern. So wurde der erste Mord, den die Menschheitsgeschichte überlieferte, von Kain aus Eifersucht auf seinen Bruder Abel begangen. Neben den konfliktbeladenen rivalisierenden Geschwistern und ungleichen Brüdern wie Esau und Jakob kommt in der Mythologie aber auch das Gegenteil vor. So gibt es die durch das Schicksal verbundenen, unzertrennlichen Geschwister wie Romulus und Remus oder Kastor und Pollux, die die bedingungslose Geschwisterliebe verkörpern. Nicht zuletzt kennt der Mythos auch Geschwisterehen von Göttern und Halbgöttern, aus denen ganz besondere Helden hervorgehen. Der in der Druckgrafik der Frühen Neuzeit vielfach reproduzierte mythologische Stoff hatte für ihre adligen und bürgerlichen Auftraggeber und Sammler nicht nur einen ästhetischen Reiz. Die Druckgrafik diente neben der Repräsentation und Unterhaltung auch der Bildung und bot Anlass, das eigene Leben in den bildgewordenen Geschichten zu reflektieren.

 

Entdeckung der 'Geschwisterliebe' in der Romantik

Bis ins 16. Jahrhundert finden sich Geschwisterdarstellungen zunächst im höfischen Kontext. Diese dienten vornehmlich der Repräsentation, der Erinnerung oder als Anschauungsmaterial zur Eheanbahnung. Mit zunehmender Verbürgerlichung kommt es sukzessive zur Aufwertung der Kleinfamilie. Im Zuge dessen wird die Familie als Hort von Wärme idealisiert und die Beziehungen innerhalb der Familie emotional aufgeladen. Auch die Aristokratie übernimmt im 18. Jahrhundert das bürgerliche Konzept der Empfindsamkeit. Infolgedessen entwickelt sich ein regelrechter Kinder- und Jugendkult, welcher in der Emotionalisierung und Intimisierung der Porträt- und Genregemälde greifbar wird.

Vor allem in England und in Deutschland verbreitet sich darüber hinaus der sogenannte „Freundschaftskult“. Im Rahmen dessen wird die Freundschaft als höchstes der Gefühle idealisiert und höher bewertet als die Liebe zwischen Mann und Frau oder die Liebe zu den Geschwistern. Unter Einfluss dieses Freundschaftskults wandelt sich die Geschwisterliebe zur Freundschaft. Ausgehend von der englischen Aristokratie entstanden Freundschaftsbildnisse, in denen die Töchter und Söhne – wie beispielsweise die Prinzessinnen Luise und Friederike von Preußen – in liebevoller Zuwendung als Seelenverwandte dargestellt werden.

 

Tugendhaft und wohlbehütet - bürgerliche Geschwisterporträts

Die Ikonografie des Freundschaftsbildes wirkt noch bis ins 20. Jahrhundert hinein vorbildhaft für die Porträtdarstellungen der Bürgertöchter und -söhne, die im „Jahrhundert der Bürgerlichkeit“ zahlreich in Auftrag gegeben werden. Unter Einfluss der bürgerlichen Familie wird die Erziehung des Nachwuchses zum zentralen Thema der Gesellschaft. So werden die allgemeine Schulpflicht, der Kindergarten oder die kindgerechte medizinische Betreuung eingeführt. Aufgrund der Individualisierung der Gesellschaft verändert sich auch die Größe der Familien. Diese Verkleinerung hat zur Folge, dass sich die Eltern jetzt noch intensiver um ihre Kinder kümmern. Die zahlreich vertretenen friedfertigen und lieblichen Geschwisterporträts wie die „Sorgsame Schwester“ (um 1867) von Karl Böheim geben eindrucksvoll Zeichen dieser neuen bürgerlichen Kinderkultur. Anders als in früheren Epochen werden jetzt auch die unterschiedlichen Nuancen innerfamiliärer Beziehungen - wie das Verhältnis von Mutter und Kind oder die Beziehung unter den Geschwistern erkundet und idealisiert ins Bild gesetzt („Der Unschuldskuss“, um 1882 von Eugène Carrière).

 

Geschwister als Schicksalsgemeinschaft

Unter Eindruck des Ersten Weltkrieges und des aufkommenden Nationalsozialismus wandten sich die Künstler:innen zu Beginn des letzten Jahrhunderts dann zunehmend von den idyllischen Geschwisterdarstellungen ab. Durch die Erfindung der Fotografie war man zudem vom Postulat befreit, eine möglichst realitätsnahe Abbildung von Kindern beziehungsweise Geschwistern zu liefern. Die Künstlerschaft konzentriert sich verstärkt nun darauf, das Wesen der Porträtierten und deren seelischen Befindlichkeiten in den Blick zu nehmen. In einer krisenhaften Zeit werden Geschwister jetzt häufiger als eine sich gegenseitig stärkende und beschützende Schicksalsgemeinschaft ins Bild gesetzt. Auch werden Trauer und Leid und das Motiv der verstorbenen Geschwister thematisiert. Exemplarisch dafür stehen die Werke von Emy Roeder, die in ihren Zeichnungen und Skulpturen Geschwisterpaare zeigt, die sich gegenseitig Halt und Schutz geben. Geschwisterbilder wie beispielsweise „Spielende Kinder“ (1929) von Otto Dix entstanden darüber hinaus auch, weil sich die Künstler:innen aufgrund der mit dem Nationalsozialismus verbundenen Repressionen teilweise verstärkt in die innere Emigration zurückzogen und die politischen und gesellschaftlichen Themen gegen private austauschten.

 

Maria I und Maria II oder der Aufstand der Schwestern

Entsprechend unserer These, dass sich der Zeitgeist in den Werken der Kunst spiegelt, entstehen in den 1970er Jahren unangepasste wilde Darstellungen von Geschwistern, die eine Gesellschaft im Umbruch abbilden. Mitreißend komisch generieren sich beispielsweise die rebellische Marie I und Marie II im Film „Tausendschönchen – einem Kultfilm“ (1966) der Tschechoslowakischen Neuen Welle. Ob die Hauptfiguren des Films bluts- oder geistesverwandt sind, lässt die Regisseurin Vĕra Chytilová (1929–2014) offen. Tatsache ist, dass sich die beiden jungen Frauen alles andere als sittsam und hingabefähig geben. Entgegen jeder gesellschaftlichen Etikette nehmen sie ihre Verehrer aus, bestehlen die Klofrau und zünden ihr Zuhause an, anstatt dieses – ihrer Bestimmung als Hausfrau und Mutter entsprechend – zu einem Hort der erlösenden Zuflucht in einer männlichen Welt zu gestalten. Weil die beiden Protagonistinnen des Films die herrschenden Rollen und Konventionen boykottierten und damit das Glücksversprechen der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) nur allzu offensichtlich unterlaufen, wurde das Filmwerk seinerzeit als anarchisches Material beschlagnahmt und die Regisseurin Vĕra Chytilová erhielt von 1969 bis 1975 Arbeitsverbot.

 

Geschwister im gesellschaftlichen und familiären Spannungsfeld

Die von der Repräsentationsfunktion befreiten zeitgenössischen Geschwisterdarstellungen spiegeln sehr persönlich sowohl gesellschaftliche Ereignisse und politische Kontexte wider (Mauerfall, Kulturrevolution Volksrepublik China). Während das bürgerliche Klischee der sich in Liebe zugeneigten Geschwister vor allem in der Medien- und Populärkultur weiter wirkt, entstehen in der Kunst der Postmoderne Werke, die die idealisierten Motive bürgerlicher Selbstinszenierung mitunter kritisch reflektieren (Cindy Sherman) oder um eine konzeptionelle Ebene erweitern (Nicholas Nixon). Im Verlauf des 20. Jahrhunderts kommt es zudem unter Einfluss der Psychologie verstärkt zu einer Therapeutisierung der Gesellschaft. Künstlerinnen und Künstler, die mit dem Ende der Avantgarde zunehmend auf sich selbst zurückgeworfen sind, unternehmen jetzt zahlreiche psychologische intime „Tiefenbohrungen“ zum Geschwisterthema. Sie reflektieren neue therapeutische Methoden wie beispielsweise die „Familienaufstellung“ (Christian Jankowski) und leuchten mitunter auch die tabuisierten konfliktbeladenen Seiten in den Beziehungen von Geschwistern aus (Miriam Cahn).

 

Sehnsucht nach dem WIR – Geschwister als utopische Denkfigur

Blicken wir zurück auf die Kunstgeschichte, dann scheint das Bedürfnis, die eigenen familiären Beziehungen und insbesondere die Geschwisterbeziehung zu reflektieren, unserem Zeitgeist zu entsprechen. Mehr noch – wie bereits in der Romantik wird die Geschwisterbeziehung auch heute wieder idealistisch aufgeladen. Als Reaktion auf die Individualisierung und damit einhergehende Vereinzelung in den westlichen Wohlstands-Gesellschaften entstand seit den 1990er Jahren ein verstärktes Interesse für Kooperationen. Insbesondere Zwillinge rückten in den Fokus des allgemeinen Interesses und wurden für die Kunst als Akteure und Thema regelrecht „entdeckt«, weil sie den Wunsch nach harmonischer Gemeinschaft („zwei Herzen, eine Seele«) aufs Anschaulichste zu verkörpern schienen (Gert & Uwe Tobias). Nicht zuletzt birgt das Thema aber auch heute wieder Zukunftspotenzial. Ob Zwillinge, Geschwister, Stiefgeschwister oder Geschwister im Geiste, wer mit anderen aufwächst erwirbt sich meist wichtige Schlüsselqualifikationen für ein menschliches Miteinander.

 

SISTERS & BROTHERS: Ausstellungskatalog

Die Publikation leistet einen wichtigen Auftakt für eine längst überfällige, fundierte Analyse von Geschwistern in unserer Gesellschaft.
mit Beiträgen von Tilman Allert, Nicole Fritz, Tilo Grabach, Zita Hartel, Bernd M. Meyer, Sabine Wienker-Piepho

 

Künstler:innen der Ausstellung

Nevin Aladağ | Joseph Beuys | Miriam Cahn | Eugène Carrière | Gustave Courbet | Otto Dix | VALIE EXPORT | Asana Fujikawa | Julie Hayward | Erich Heckel | Christine und Irene Hohenbüchler | Christian Jankowski | Alexej von Jawlensky | Hanns Ludwig Katz | Heinrich Kühn | August Macke | Nicholas Nixon | Idowu Oluwaseun | Helga Paris | Joanna Piotrowska | Emy Roeder | Anton Romako | Karl Schmidt-RottluffThomas Schütte | Moritz von Schwind | Cindy Sherman | David Sulzer | Gert & Uwe Tobias | Erwin Wurm | Georg Friedrich Zundel, u. a.

Kuratiert von Nicole Fritz; Kuratorische Assistenz: Zita Hartel und Lisa Maria Maier.
Eine Ausstellung der Kunsthalle Tübingen in Kooperation mit Lentos Kunstmuseum Linz
Quelle: Kunsthalle Tübingen