Yayoi Kusama wird in der Frühjahrsausstellung des Gropius Baus als äußerst produktive Pionierin von Environment und Happening geehrt. Die von Direktorin Stephanie Rosenthal gemeinsam mit der Künstlerin zusammengestellte Schau überzeugt durch einen vertieften Einblick in die Entwicklung der Ausstellungs- und Kunstpraxis der heute weltberühmten Künstlerin (→ Yayoi Kusama: Biografie). Der begleitende Katalog führt nicht nur ausgewählte Werke mit historischen Installationsaufnahmen zusammen, sondern unterzieht das vielfältige Werk Kusamas einer polyfokalen Analyse. Über allem steht jedoch das Motto der Künstlerin:
„Werde eins mit der Ewigkeit. Verlier dein Selbst. Werde eins mit der Umgebung. Vergiss dich.“1 (Yayoi Kusama, Manhattan Suicide Addict)
Deutschland | Berlin: Gropius Bau
5.9.2020 – 17.1.2021
23.4. – 15.8.2021
Bereits im Lichthof des Gropius Baus stößt man auf die immersive Kunst Kusamas: Riesige, pinkfarbene und mit schwarzen Punkten übersäte Tentakel recken sich vom Boden dem Himmel entgegen. Ob sie pflanzlichen oder tierischen Ursprungs sind, bleibt ungewiss wie so häufig in Kusamas Kunst. Zwischen den weich schwingenden Formen spazieren zu gehen, nicht auf ihre Kunstwerke zu blicken, sondern sich in ihnen verlieren, das ist das erklärte Ziel der Künstlerin. Stephanie Rosenthal zeichnet in Berlin die künstlerische Entwicklung der Japanerin einfühlsam nach und wählte dafür eine interessante Methode: Anhand von acht Ausstellungen aus den Jahren 1952 bis 1983 kann die Direktorin des Gropius Baus belegen, wie Kusama zunehmend mit ihrem Körper und den Körpern der Ausstellungsbesucher*innen arbeitete.
Die 1929 in Masumoto, im ländlichen Japan, geborene Künstlerin erhielt eine traditionelle Ausbildung (nihonga und yōga). Sowohl ihre Ausbildung wie auch der Umstand, dass ihre wohlhabende Familie einen Großhhandel für Samen besaß, gelten als wichtige Quelle für Kusamas frühe Motivwahl. Im Gropius Bau setzt die Ausstellung mit Kusamas ersten beiden Einzelausstellungen 1952 im Ersten Gemeindezentrum Matsumoto ein. Die 23-jährige Künstlerin stellte sich zum ersten Mal der Öffentlichkeit vor und schuf für zwei Präsentationen insgesamt etwa 470 Arbeiten. Blowups der Installationsansichten bilden den ästhetischen Rahmen, in dem sich auch Rosenfeld anschloss. Dichte Hängung und dunkle Wandbespannung prägten die Auftritte Kusamas von 1952. Auffallend ist, dass sich die Künstlerin schon damals als Teil ihrer Inszenierungen verstand und sich demonstrativ inmitten ihrer Werke ablichten ließ. Die Zeichnungen sind entweder fein mit Blei- oder Farbstiften ausgeführt. Ein Skizzenbuch gewährt den Einblick in eine profunde, sichere Zeichentechnik, gepaart mit genauer Beobachtungsgabe und einem hohen Interesse an Tieren und Pflanzen. In ihrer Kunst offenbart Yayoi Kusama aber einen anderen Zugang, einen anderen, Stil. Die dunklen, erdigen oder auch feurigen Bilder zeigen organische Formen, die nicht genau zuordbar sind: zellartige Zytoblasten, verschwimmende Gebilde, geheimnisvoll aus sich selbst leuchtende Anhäufungen. Die Gratwanderung zwischen Abstraktion und Figuration begeisterte bereits die Besucher*innen des Jahres 1952.
Obschon die Künstlerin damit und einer weiteren Einzelausstellung in Tokio einen ersten Achtungserfolg verbuchen konnte, wollte sie sich mehr an der amerikanischen Nachkriegskunst orientieren und schrieb 1955 Georgia O’Keeffe einen Brief. Die ermutigende Antwort der berühmten US-amerikanischen Malerin löste eine Neuorientierung in Kusamas Leben und Kunst aus, mit der sie weit über die Grenzen ihrer Heimat berühmt und einflussreich werden sollte: 1957 zog Yayoi Kusama in die USA. Kurz davor zerstörte sie einen Großteil ihres Frühwerks. Ihre Eltern finanzierten den Umzug, nachdem sie ihrer Tochter das Versprechen abgerungen hatten, nie wieder zurückzukehren.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Seattle zog Yayoi Kusama im Juni 1958 nach New York, wo sie bis 1974 blieb und in die Avantgarde-Kunstszene eintauchte. Bereits ein Jahr später präsentierte sie ihre ersten „Infinity Net Paintings“ in der von Künstlern geführten Brata Gallery (Oktober 1959). Damit brach die Künstlerin mit ihrem Frühwerk und fügte sich Ende der 1950er in den Diskurs zur abstrakten Malerei ein. Erinnert sei an dieser Stelle kurz an Agnes Martin, deren erste Einzelausstellung 1958 in New York zu sehen war, und Ad Reinhardts „Black Paintings“ als „Meditationstafeln“. Mit den komplexen „Infinity Net Paintings“ konnte Kusama auch einen der Heroen der Minimal Art für ihre Kunst begeistern. Donald Judd rezensierte sie positiv und wurde 1961 ein Ateliernachbar (neben Eva Hesse). Dadurch wurde Udo Kultermann, damals Direktor des Städtischen Museums Schloss Morsbroich in Leverkusen, auf Kusama aufmerksam, knüpfte einen ersten Kontakt und empfahl sie für deutsche Ausstellungen.
Für die Kuratorin fand die zweite wichtige Ausstellung Kusamas Ende 1963 in der New Yorker Gallery Gertrude Stein unter dem Titel „One Thousand Boats Show“ (17.12.1963–11.1.1964) statt. Während die „Infinity Net Paintings“ im hinteren Bereich der Galerie bereits auf breite Zustimmung stießen, überraschte die Künstlerin die Besucher*innen mit einem Environment im ersten Galerieraum: ein weißes, über und über mit weichen Stoff-Phalli beklebtes Ruderboot stand in der Mitte. An die dunklen Wände heftete Kusama Plakate mit der Abbildung des Bootes. Damit schuf Yayoi Kusama ihr erstes Environment und forderte ihre Künstlerkollegen massiv heraus. Im Juni 1962 war sie mit ihren ersten „Accumulations“, wie sie ihre weichen Skulpturen nannte, in jener Gruppenausstellung vertreten gewesen, die als erste Pop Art-Ausstellung in den USA gilt. Sogar Andy Warhol besuchte Kusamas „One Thousand Boats Show“ – und dürfte davon die Idee für seine berühmte Kuhtapete von 1966 abgeleitet haben. Aber auch Claes Oldenburg schuf seine soft sculptures erst später (→ 10 Dinge, die man über Claes Oldenburg wissen sollte).2
Mit der kurz darauf stattfindenden Ausstellung „Driving Image Show“ (21.4.–9.5.1964) in der Castellane Gallery forcierte Yayoi Kusama ihre künstlerische Vision. In ihrer vierten New Yorker Schau präsentierte sie 15 bis 20 Werke in einem sehr kleinen Raum (auch heute noch liebt die Künstlerin die Sankt Petersburger Hängung). Viele „Accumulations“ ergänzten einander zu einem Environment. Kusama steigerte die surreale Theatralik, indem sie trockene Makkaroni auf dem Boden verstreute, sodass sich die Besucher*innen mit knackenden Geräuschen durch die Ausstellung bewegten. Man darf sich wohl keine größere Diskrepanz zu „Museumsregeln“ und meditativ-philosophischer Versenkung vor einem abstrakten Werk von Mark Rothko oder Reinhardt vorstellen. Zum einen geben die harten Nudeln beim Zertreten nach und führen zu einem unsicheren Gang (zumindest in Stöckelschuhen), zum anderen führt diese Umgebung zu Verunsicherung, da Kusama Alltägliches durch ihre Stoffphalloi überhöht bzw. ihre Gebrauchstauglichkeit ad absurdum führt.
Die Zusammenarbeit mit der Castellane Gallery eröffnete für die Künstlerin ein scheinbar schrankenloses Experimentierfeld, das sie rege nutzte: In der „Floor Show“ (3.11.–27.11.1965) bespielte sie einen der beiden Räume mit dem „Infinity Mirror Room – Phalli’s Field“ und machte Polka Dots für sich nutzbar. Knapp vier Monate danach stellte sie mit „Kusama’s Peep Show or Endless Love Show“ (15.3.–22.4.1966) den ersten, wenn auch noch nicht begehbaren Spiegelraum vor. Beide sind im Gropius Bau zu sehen. Das Eintauchen in die gepunktete Welt von Yayoi Kusama setzt alle räumliche Grenzen außer Kraft. Unendliche Spiegelungen führen eine poetische, kindliche, häufig mit Sexualität in Verbindung stehende und letztlich destabilisierende Umwelt vor. Ziel der Künstlerin, die seit ihrem 10. Lebensjahr an Halluzinationen leidet und alles von Punkten überzogen wahrnimmt, ist die Selbstauslöschung in Liebe. Es geht ihr nicht um die Zerstörung des/ihres Körpers, sondern um die Auflösung der eigenen Grenzen und das Eingehen des Ich im Universum.
In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre gelang es Yayoi Kusama, jene Handschrift auszuprägen, für die sie heute weltweit berühmt ist. Die „Accumulations“ können einfarbig, weiß, Silber, Gold, gepunktet oder gestreift auftreten. Die Künstlerin verließ damit aber auch den Kunstraum und machte ihr Konzept zu Mode. Spiegel sind essentielle Bestandteile ihrer „Mirror Rooms“ und treten in Form von verspiegelten Plastikkugeln wie in „Narcissus Garden“ auf (1966, angeblich finanziert von Lucio Fontana und zeitgleich mit Andy Warhols „Silver Clouds“). Aus Ausstellungseröffnungen entwickelte die Künstlerin Happenings, mit denen sie sich politisch engagierte und nackte Körper mit Punkten bemalte. Ihre steigende Bekanntheit auch in Europa ermöglichten Kusama ihre Kunst zu vermarkten, womit sie Andy Warhol um nichts nachstand. Sie gründete 1968 Kusama Enterprises für die Planung und Durchführung von Happenings und 1969 ein eigenes Modelabel. Damit förderte und beschwor Kusama jenes neue Gesellschafts- und Körperverständnis der `68er Generation, die heute mit den Schlagworten Flower Power, Anti-War und Bürgerrechtsbewegung kurz zusammengefasst werden.
Anfang der 1970er Jahre war für Yayoi Kusama allerdings diese Phase abrupt zu Ende. 1973 entschied sie sich, nach Japan zurückzukehren. Kurz zuvor war ihr wichtigster Freund, der Künstler Joseph Cornell, verstorben. Kusama war in ihrer alten Heimat allerdings nicht wohlgelitten, hatte sie doch gegen zu viele gesellschaftliche Normen verstoßen. Obwohl sie seit den frühen 1950er Jahren als bildende Künstlerin tätig war, verschrieb sie sich nun der Literatur und veröffentlichte Prosa und Lyrik. Erst in den frühen 1980er Jahren sollte Yayoi Kusama als Künstlerin wiederentdeckt und einmal mehr weltweit gefeiert werden.
Ist Yayoi Kusama als Performerin, als Gestalterin von Happenings, als Modedesignerin eher einem Fachpublikum bekannt, so gelingt es ihr doch mit der Kraft und Poesie ihrer Mirror Rooms einen langanhaltenden Eindruck bei allen Museumsbesucher*innen zu hinterlassen. Im Februar 1983 bespielte die Künstlerin die Jugendstil-Villa Jardin de Lusine in Tokio. „Begegnung der Seelen“, wie die hausfüllende Installation hieß, inszenierte Kusamas Kunst in und auf vorgefundenen Möbeln und spielten mit der Einrichtung. Mit Schwarz-Weiß-Fotografien verwies die Künstlerin in dieser Mini-Retrospektive auf ihre Schlüsselwerke in den 60er Jahren. Erstmals tritt in Kusamas Werk der mit schwarzen Punkten übersäte Kürbis in Erscheinung. Kürbisskulpturen erinnern an ihre Kindheit im ländlichen Japan, als dominante Farbe (Gelborange) ist er etwas später abstrahiert auch im „Mirror Room (Pumpkin)“ (1991) mitgemeint.
Mit den jüngsten Spiegelräumen „The Spirits of the Pumpkins decended into the Heavens” (2015) und „Infinity Mirrored Room – The eternally Infinite Light of the Universe Illuminating the Quest für Truth” (2020) beschritt Yayoi Kusama einmal mehr den Weg der poetischen Lichtemanationen, die sie in die Unendlichkeit projiziert. Wer einmal in einem solchen Kusama-Raum gestanden ist und das Wechselspiel von Farben und Licht bestaunte, dürfte von der heilenden Wirkung ihrer Kunst überzeugt sein. Ebendiese möchte die heute 92-jährige Künstlerin mit ihrer aktuellen Malerei versprühen. Ebenfalls all-over gehängt, nimmt Yayoi Kusama Räume in Besitz und weitet den Blick über räumliche Grenzen hinaus.
Auf einer Fläche von knapp 3000 m² macht der Gropius Bau Kusamas Werk in seiner Gesamtheit erstmals in Deutschland zugänglich und knüpft damit an den Beginn der breiten Rezeption der Künstlerin Mitte der 1960er Jahre im deutschen und europäischen Kontext an, wo sie aktiver war als in den USA.
Der gelungene Überblick orientiert sich an bedeutenden Ausstellungen, welche die Künstlerin selbst als Environments konzipierte und die ihre Entwicklung nachzeichnen helfen. Der vorbildlich konzipierte Begleitband zieht weite Kreise und stellt die japanische Künstlerin wie auch ihr facettenreiches Werk aus unterschiedlichsten Perspektiven dar. Das Universum Kusama wird in dieser Schau und diesem Katalog sowohl forensisch analysiert wie auch didaktisch aufbereitet. Yayoi Kusama möchte mit ihrer Kunst das Individuum auflösen und mit dem Universum versöhnen. Es ist wahrlich an der Zeit.
Die Ausstellung wird kuratiert von Stephanie Rosenthal (Direktorin, Gropius Bau), Yilmaz Dziewior (Direktor, Museum Ludwig) und Beatrix Ruf (Gastkuratorin, Fondation Beyeler) und entsteht in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin.
2021/22 wird die Ausstellung noch im Tel Aviv Museum of Art (2. November 2021 bis 23. April 2022 zu sehen sein.