Medardo Rosso
Wer war Medardo Rosso?
Medardo Rosso (Turin 21.6.1858–31.3.1928 Mailand) war ein italienischer Bildhauer und Plastiker des Symbolismus und Impressionismus. Damit gilt er als ein Pionier der modernen Skulptur. Nach dem Tod von Auguste Rodin 1917 erklärte Apollinaire Medardo Rosso zum wichtigsten lebenden Bildhauer der Zeit. Seine Werke begeisterten Künstler wie Edgar Degas und Umberto Boccioni, aber auch Tony Cragg. Mit Hilfe von Rossos außergewöhnlicher Methodik – Wachs über Gipsabgüssen zu modellieren – gelang es ihm, subtile Lichteffekte und Bewegungsmomente in seinen Skulpturen einzufangen. Das macht seine Werke allerdings sehr fragil, weshalb Ausstellungen zu Medardo Rosso außerhalb Italiens sehr selten sind.
„Die Skulptur ist nicht nur der Malerei vollkommen gleichwertig […], sondern sie ist vielleicht berufen, die letztere zu übertreffen.“1 (Medardo Rosso, 1902)
Kindheit
Medardo Rosso wurde am 21. Juni 1858 in Turin geboren. Er war der jüngste der beiden Söhne von Domenico Rosso und Luigia Bono geboren. Der Vater war Bahnbeamter.
Rosso begann am Collegio Convitto di San Carlo Canavese in Cine (Provinz Turin) zu studieren. Dort tat er sich im technischen Zeichnen und Kalligrafieren hervor. Ab 1877 ist seine Familie in Mailand registriert.
Als er 1879 zum Militärdienst einberufen wurde und in das 1. Pionierregiment in Pavia eintrat, wies ihn sein Personalausweis bereits als Bildhauer aus.
Rosso kehrte 1881 nach Mailand zurück und zog in die Via Montebello 3. Im Juni nahm er an der von der antiakademischen Mailänder Avantgardebewegung „La Familia Artistica“ organisierten satirischen Schau „Indisposizione di Belle Arti“ mit zwei vom Verismo inspirierten Plastiken teil.
Ausbildung
Im Jahr 1882 wurde Medardo Rosso in die Scuola di Nudo e di Plastica der Accademia di Belle Arti di Brera in Mailand aufgenommen (1882–1883). Er nahm noch im selben Jahr an einem Wettbewerb für ein Denkmal von Giuseppe Garibaldi in Pavia mit einem Entwurf zu „Il genio dell’ umanità [Der Genius der Humanität]“ teil, der von der Jury abgelehnt wurde. Medardo Rosso eröffnete sein erstes Atelier in der Via Solferino 12 unweit der Brera. Seine erste Ausstellungsbeteiligung in Rom fand 1883 statt: Er stellte vier Werke in der „Esposizione Internazionale di Belle Arti“ aus.
Bereits ein Jahr nach seiner Aufnahme, am 29. März 1883, wurde Medardo Rosso von der Akademie verwiesen, da er eine provokative Petition, in der Studenten gegen das Zeichnen nach dem Modell und fehlender Möglichkeit, Aktzeichnen zu üben (echte Modelle statt Gipsabgüssen und Schaufensterpuppen), angeführt hatte. Rosso hatte die Petition in Umlauf gebracht und war mit einem Studenten aneinander geraten, der seine Unterschrift verweigert hatte.
Ehe und Sohn
Am 16. April 1885 heirateten Rosso und Giuditta Pozzi. Am 7. November wurde ihr Sohn geboren, der als Francesco. Evviva Ribelle [Francesco. Hurra Rebell] getauft wurde. Vier Jahre später, im April 1889, trennte sich Rosso von seiner Frau, die sein Mailänder Atelier schloss und die Werke in seinem Atelier veräußerte. Im Folgejahr reiste der Künstler kurz nach Mailand, um seinen Sohn zu besuchen. 1900 ließ sich das Paar offiziell scheiden.
Werke
Frühe Werke in Mailand
Medardo Rosso schloss sich in Oberitalien Schriftstellern, Künstlern und Komponisten des Mailänder Bohéme-Milieu an: Der Bildhauer verkehrte in den Kreisen der Mailänder „Scapigliatura [Die Zerzausten]“, einer von sozialistischen, anarchistischen und positivistischen Ideen geprägten Künstlergruppe. Zu den führenden Malern dieser Generation zählten Tranquillo Cremona und Daniele Ranzoni sowie Giuseppe Grandi in der Bildhauerei. Die Werker der Scapigliatura-Künstler experimentierten bereits mit einem tupfenartigen Farbauftrag und dunstiger Atmosphäre. Schriftsteller des Impressionismus, wie der Mailänder Felice Cameroni, vermittelten Medardo Rosso einen positivistischen Zugang zur Welt und Wahrnehmung.
Felice Cameroni wurde ein enger Freund und Förderer Rossos. Es entstanden am Verismo orientierte Werke wie „Ruffiana“ oder „Sagrestano“ sowie das einzige bisher bekannte Gemälde, ein Porträt des Malers Baldassarre Surdi. An der Weihnachtsausstellung im Wiener Künstlerhaus im Dezember beteiligt sich Rosso mit zwei Bronzebüsten - wahrscheinlich „Gavroche“ und „Sagrestano“. Zwischen 1883 und 1884 schuf Rosso noch „Carne altrui“ und die „Portinaia“, die als seine ersten modernen Skulpturen gelten.
Rosso reagierte in frühen Werken (1883–1886) – wie „Der Concierge“ (1883), „Impression eines Autobusses“ (um 1884, zerstört), „Der Sakristan“ (1883), „Das Fleisch der anderen“ (1883) und „Das Goldene Zeitalter“ (1886) – auf die Neuerungen von Cremona, Ranzoni und vor allem Grandi: unscharfe Umrisslinien, gemilderte Flächen und das Arbeiten mit vibrierendem Licht und Atmosphäre. Auf diese Weise gelang des den Malern, eine neuartige Einheit ihrer Kompositionen zu erzielen.
Als einer von nur wenigen italienischen Bildhauern nahm Rosso 1885 und im Folgejahr am „Salon annuel de la Societé des Artistes français“ und am „Salon de Peinture, Sculpture et Gravure du Groupe des Artistes Indépendants [Salon des Indépendants]“ teil und erhielt erste positive Medienresonanz. Seine erste Reise nach Paris unternahm Medardo Rosso im Jahr 1886, um die letzte Impressionisten-Ausstellung zu besuchen.2 Dort stellten vor allem die Pointillisten rund um Georges Seurat (→ Georges Seurat, Erfinder des Pointillismus) und Paul Signac aus; sie lösten den Impressionismus mit ihrem wissenschaftlichen Zugang zur Farbe ab (→ Achte Impressionisten-Ausstellung 1886).
„Ich war noch jung, als ich verstand, dass nichts im Raum stofflich ist, denn alles ist Raum und somit ist alles relativ. Die Philosophie von Professor Einstein brauchte ich dazu nicht. Ich sagte das schon vor [18]83.“3
Er realisierte das von dem Industriellen und Mäzen Pietro Curletti 1885 für den Cimitero del Gentilino in Mailand in Auftrag gegebene Grabdenkmal: die Skulptur mit dem Titel „La Riconoscenza [Die Anerkennung]“. Das Werk löste einen Skandal aus und wurde entfernt. Möglicherweise erste Reise nach Wien. Er begann an „Aetas aurea“ zu arbeiten.
Sieben Bronzen Rossos waren 1887 in der „Esposizione Nazionale Artistica“, die später Biennale von Venedig genannt wird, zu sehen. Seine Mehrfigurengruppe „Impressione d’omnibus“ wurde allerdings auf dem Transport nach Venedig schwer beschädigt. Er nahm deshalb eine Fotografie des Werks mit nach Paris und begann mit Experimenten während des fotografischen Reproduktionsprozesses, von denen einige in „L’Esposizione Artistica Nazionale Illustrata“ veröffentlicht wurden.
1888 stellte er in der Londoner Royal Albert Hall in der „Italian Exhibition“ neben Tranquillo Cremona, Daniele Ranzoni und Giovanni Segantini aus.
Paris
Im Mai 1889 zog Medardo Rosso nach Paris, wo er noch im gleichen Jahr am Salon des Indèpendants ausstellte. Begleitet wurde er von Felice Cameroni, der Rosso in die Intellektuellen und Künstlerzirkel einführte. Rosso ließ sich vorerst im Hotel d’Enghien nieder und lernte Émile Zola, Henri Rouart, Edmond de Goncourt und Paul Alexis kennen. Im Oktober erkrankte er und wurde in das Krankenhaus Lariboisière eingeliefert, in dem er einen Monat verbringen musste. Es entstanden der „Malato all’ospedale [Kranke im Krankenhaus]“ und „Bambina ridente [Lachendes Mädchen]“.
In Mailand enthüllte er drei Grabdenkmäler: für Elisa Rognoni Faini, den Aktivisten Vincenzo Brusco Onnis und den Musikkritiker Filippo Filippi. Von Mai bis Oktober nahm Rosso mit fünf Bronzen an der Pariser Weltausstellung teil und erhielt eine Ehrenmedaille. Émile Zola erlaubte Rosso, ihn als „Eigentümer“ von „Gavroche“ anzugeben, was Rosso große Aufmerksamkeit einbrachte.
Medardo Rosso begann 1890 eine enge Beziehung zu dem Industriellen und Kunstsammler Henri Rouart, der einige seiner Werke erwarb und von dem er später ein Porträt in Bronze realisierte; 1891 zog der Bildhauer sogar in die Werkstatt von Rouart am Boulevard Voltaire 137. Durch ihn lernte er Edgar Degas, die Kunsthändler Albert Goupil und Georges Petit sowie den Sammler Armand Doria kennen. Auch Auguste Renoir, Stéphane Mallarmé und Paul Valéry verkehrten in Rossos Umfeld. Er zog von einem kleinen Hotel in der Rue Fontaine auf dem Montmartre im November 1890 auf den Boulevard de Clichy. Die (Cabaret-)Sängerin Bianca da Toledo stand für die Werkgruppe der späteren „Rieuse“ beziehungsweise „Grande Rieuse“ Modell. „Enfant au sein“ zeigt Alexis’ Frau, die ihre Tochter stillt; damit fand Rosso eines jener Motive, das er bis fast zur gänzlichen Auflösung in die Abstraktion führen wird.
Der Impressionismus war bereits von Pointillismus, Neo-Impressionismus als Avantgarde abgelöst worden; 1888 schlossen sich Pierre Bonnard, Maurice Denis und Edouard Vuillard zur Gruppe „Nabis“ zusammen. Schon zuvor hatte Medardo Rosso seine Werke als „Schöpfung von Licht, Emotion und wechselnden Perspektiven“ bezeichnet. Die Synthese von empfangenen Eindrücken wäre die Grundlage für bildhauerisches Arbeiten, so Rosso weiter. In der Folge ging es Medardo Rosso darum, die Grenzen von Stilwahl und Ästhetik zu überwinden, um die „Gesamtheit der Gefühle“ zu entdecken, die der Künstler durchlebte, während er die Natur beobachtete. Aus diesem Grund sollte auch das verwendete Material vergessen gemacht werden.
Zwischen 1893 und 1895 entstanden „Enfant juif“, „Enfant malade“, „Bookmaker“ und „L’uomo che legge“. Rosso zog 1894 in die Rue Cauchois 19 am Montmartre, wo zahlreiche ausländische Künstler:innen wohnten, und 1895 erwarb er ein Haus in der Rue Caulaincourt 50. Rosso begann, neben fotografischen und zeichnerischen Arbeiten, auch in Wachs zu arbeiten. „Femme à la voilette“ und das Porträt der Cabaretsängerin „Yvette Guilbert“ entstanden. In seinem Haus richtete sich Rosso eine Gusswerkstatt ein und goss seine Plastiken eigenhändig. Medardo Rosso stellte 1895 im Salon des Champs-Elysées aus. Der symbolistische Dichter Charles Morice veröffentlichte einen lobenden Artikel in „Le Soir“.
Rosso reiste 1896 mehrmals nach London und stellte bei Boussod, Valadon & Cie, London mit Werken der Präraffaeliten aus. Das South Kensington Museum (heute Victoria & Albert Museum) erwarb eine Bronzefassung des „Vitellius“ sowie „Senatore romano“, der laut Aufzeichnungen aus Zement gefertigt ist. Zurück in Paris, zog der Bildhauer auf den Boulevard des Batignolles 98–100, wo er größere und geeignetere Räumlichkeiten für seine Gusswerkstatt hatte. Ab 1900 veranstaltete er dort semiöffentliche Gussperformances, in denen er sich in der Doppelrolle als Künstler und Handwerker inszenierte. Beginn der Freundschaft mit dem sozialkritischen Schriftsteller Jehan Rictus (eigentlich Gabriel Randon de Saint-Amand), die um 1913 nach der Publikation seiner Fotos in „Comoedia“ enden wird. 1896 entstanden „Madame X“ und die lebensgroße Mehrfigurengruppe „Paris la nuit“.
Im folgenden Jahr entstanden Rossos „Enfant à la Bouchée de pain“ sowie das Porträt „Madame Noblet“. Madame Noblet besaß gemeinsam mit ihrem Mann, dem Meningitis-Experten Louis-Sylvain Noblet, die größte Sammlung an Werken Rossos.
Konflikt mit Auguste Rodin
Im November 1893 stellte Medardo Rosso im Foyer des Théâtre de la Bodinière aus, wo er Auguste Rodin kennenlernte, der die Pariser Kunstszene dominierte. Rosso erhielt ein positives Presseecho und konnte einzelne Werke verkaufen. Die beiden Künstler tauschten im folgenden Jahr Werke aus: Rosso schenkte Rodin eine Fassung der „Rieuse“ und in der Folge auch sein Porträt des „Vitellius“. Rodin bedankte sich mit „Torso“.
Als Rodin 1898 das Gipsmodell seines Denkmals für Balzac in der Société Nationale des Beaux-Arts in Paris ausstellte, wurde er dafür heftig angegriffen. Rodin zog deshalb die Skulptur zurück. Kritiker diskutierten erstmals ein möglicher Einfluss von Skulpturen Rossos – zum Beispiel „L’uomo che legge“ – auf Rodin. Einzelne linksorientierte Kunstkenner warfen Rodin vor, sich Rossos Ideen angeeignet zu haben. Das Verhältnis zwischen den beiden Künstlern verschlechterte sich daraufhin. Rosso, der sich als „Außenseiter“ in der Pariser Kunstszene sah, versuchte, seinen künstlerischen Einfluss auf Rodin zu bekräftigen, was einen Streit um die Vorreiterrolle in der (impressionistischen) Bildhauerei auslöste. Im Juni 1901 erschien in der Pariser „Nouvelle Revue“ ein Artikel von Edmond Claris, der die Rivalität zwischen Rodin und Rosso befeuerte.
Rossos Vorhaben, „Paris la nuit“ zusammen mit den Werken Rodins im Pavillon de L’Alma während der Pariser Weltausstellung 1900 zu zeigen, scheiterte. An der Weltausstellung nahm Rosso deshalb mit den Bronzen „Madame Noble“ und „Rieuse“ sowie drei Wachsfassungen von „Enfant malade“, „Enfant au soleil“ und „Femme à la voilette“ teil. Als italienischer Staatsbürger wurde er jedoch auf den italienischen Pavillon verwiesen. Medardo Rosso traf Giacomo Balla, der sich von Rossos Werk beeindruckt zeigte. Beginn einer langjährigen Beziehung mit der niederländischen Schriftstellerin und Kritikerin Etha Fles, die zu einer wichtigen Förderin des Künstlers wurde. Rosso reiste mit ihr nach Utrecht.
Medardo Rosso und der Impressionismus
Der Ursprung von Medardo Rossos Qualität als Bildhauer liegt in seinem Wunsch, die statuarische Form der Skulptur (vgl. Klassische Antike, Renaissance) zu überwinden. Gleichzeitig verband er Fragen zur Ansicht einer Skulptur mit dem Gefühl und der Bewegung. Rossos Verbindung zur Kunst des Impressionismus reichen vom Einfluss Paul Cézannes (Raum-Fläche) bis zu seinem Verhaftetsein mit der Abbildung der Figur. Medardo Rosso konzentrierte sich in seinen Arbeiten auf reliefhafte Gestaltung und der menschlichen Figur, die er experimentell durcharbeitete, ohne diese selbstgesteckte Grenze in Richtung Kubismus, Futurismus oder Abstrakter Kunst zu verlassen. Grund dafür ist, dass Medardo Rossos Werke mehr auf malerischen Fragestellungen als konstruktiven Überlegungen beruhen. In der Literatur wird daher das Streichen über den Ton- oder Wachskörper mit der Berührung der Leinwand mit dem Pinsel verglichen. Die Oberfläche soll vibrieren im Licht und gleichzeitig spontan und direkt wirken.
Rossos Vater starb am 11. Februar 1901 in Turin. Die von Etha Fles organisierte Ausstellung „Tentoonstelling van schilderijen uit de moderne Fransche school en beeldhouwwerken van M. Rosso“, die fünf Plastiken Rossos mit impressionistischer Malerei, unter anderem von Claude Monet und Pierre-Auguste Renoir, kontextualisierte, reiste von Amsterdam nach Rotterdam, Utrecht und Den Haag. Sie war Auftakt einer steigenden internationalen Sichtbarkeit des Künstlers: Rosso stellte acht Werke im Albertinum in Dresden aus, sein Direktor Georg Treu erwarb die Wachsfigur „Enfant malade“ für 1.600 Mark und im Folgejahr auch eine Version des „Vitellius“.
Im April 1902 veröffentlichte Edmond Claris eine Serie von Interviews über die französische impressionistische Bildhauerei, in der Rosso eine zentrale Position zugeschrieben wird. Etha Fles produzierte und verbreitete eine deutsche Ausgabe davon; später erschien auch noch eine spanische Edition. Als Gründungsmitglied des Pariser „Salon d’Automne“ war Rosso an der Ausarbeitung von dessen Statuten beteiligt. Im September wurde die Einzelausstellung „Kleinplastik in Bronze, Wachs und Papiermasse des Impressionisten Medardo Rosso, Paris“ im Museum der bildenden Künste in Leipzig eröffnet, in der Rosso neben Skulpturen auch sieben Fotografien zeigte. Der deutsche Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe, Wegbereiter der Modernen Kunst, besuchte Rosso in Begleitung des Malers und Präsidenten der Wiener Secession Wilhelm Bernatzik im Oktober und wird sein Werk in seiner „Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst“ (1904) behandeln. Rosso stellte auch in kommerziellen Galerien wie Keller und Reiner in Berlin, gemeinsam mit Paolo Troubetzkoy, aus und verkaufte Werke an deutsche Sammler, darunter den Juristen Harald Gutherz, den Industriellen Walther Rathenau und Karl Ernst Osthaus, Gründer des Museum Folkwang, der „Enfant juif“ erwarb.
Rosso nahm 1904 an der „72. Esposizione Internazionale di Belle Arti della Società degli Amatori e dei Cultori di Belle Arti“ im Palazzo delle Esposizioni in Rom teil, wo unter anderem auch Werke von Giacomo Balla und Gino Severini gezeigt wurden. Medardo Rosso stellte 1904 im „Salon d’Automne“ im Kontext französischer Künstler wie Paul Cézanne, Auguste Rodin und Pierre-Auguste Renoir aus. Dort entdeckte der junge Bildhauer Constantin Brâncuși Rossos Werk. Dessen Beitrag löste große Medienresonanz aus, unter anderen berichteten Louis Vauxcelles in „Gil Blas“ und Ardengo Soffici in „L’Europe Artiste“ (unter dem Pseudonym Stéphane Cloud). Neben einer Reihe von Skulpturen spielten nun auch Fotografien und Druckgrafiken eine wesentliche Rolle in der Präsentation und Verbreitung von Rossos Werk. Rosso wurde 1904 französischer Staatsbürger (beantragt 1902).
Im Februar 1906 hielt sich Rosso auf Einladung des Sammlers und Industriellen Ludwig Mond in London auf und nahm an einer Ausstellung der „International Society of Sculptors, Painters and Gravers“ in der New Gallery teil. Rosso porträtierte Monds Enkel, ein Werk, das er später „Ecce Puer“ betitelte, Rossos letztes skulpturales Motiv. Zwischen Oktober und November 1906 stellte er, zusammen mit jüngeren Künstlern wie Constantin Brâncuși und Raymond Duchamp-Villon, erneut im „Salon d’Automne“ in Paris aus. Im Dezember fand in der Londoner Galerie Eugene Cremetti eine Einzelausstellung mit 22 Werken statt, darunter Wachsskulpturen, Bronzen und Zeichnungen. Begleitet wurde die Ausstellung abermals von einem Katalog.
Rosso stellte 17 Werke in einem ihm allein gewidmeten Raum im „Salon Annuel des Indépendants“ (1909) in Brüssel aus. Seine Fotografien wurden in Louis Piérards „Un sculpteur impressionniste“ wie in „Il caso Medardo Rosso“ von Ardengo Soffici veröffentlicht.
Medardo Rosso in Wien
Rossos Karriere war zeitlebens mit Wien verbunden. Der Österreichische Kunstverein in Wien zeigte im Oktober 1884 seine Bronzeplastik „Der Kuss“, im darauffolgenden Jänner eine weitere mit dem Titel „Der Heldentenor ohne Engagement“.
Von Januar bis März 1903 war Medardo Rosso mit vier Skulpturen – vermutlich „Enfant malade“, „Enfant au soleil“, „Madame Noblet“ und „Bookmaker“ – in der von Julius Meier-Graefe und Wilhelm Bernatzik kuratierten bahnbrechenden „XVI. Ausstellung“ der Wiener Secession mit dem Titel „Entwicklung des Impressionismus in Malerei und Plastik“ vertreten. Rosso war beim Aufbau der Präsentation nicht persönlich anwesend, gab aber brieflich Anweisungen für die Aufstellung, unter anderem für die jeweiligen Sockelhöhen. Die Ausstellung war die erste große Impressionismus-Ausstellung in Mitteleuropa und versuchte, eine lineare Entwicklung der modernen Kunst mit dem Höhepunkt des französischen Impressionismus nachzuzeichnen.
Zwischen 9. Februar und 10. März 1905 wurde die Einzelausstellung „Medardo Rosso, Paris: Bronzen, Impressionen in Wachs“ im Wiener Kunstsalon Artaria am Kohlmarkt 9 gezeigt mit 14 Bronze- und Wachsplastiken sowie acht „pezzi di paragone“. Daneben präsentierte Rosso Rodins „Torso“. Der Kunstsalon Artaria wurde von dem Brüderpaar Carl August Artaria (1855–1919) und Dominik Artaria (1859–1936) neben ihrer eigentlichen Tätigkeit, der Leitung eines Musikverlages, betrieben. Um den Ausstellungsaufbau kümmerte sich Rosso nun persönlich, insbesondere die Beleuchtung der in Vitrinen, sog. „gabbie“, arrangierten Skulpturen mittels Glühlampen, die er seit 1904 verwendete. Rosso veröffentlichte seinen ersten, 33-seitigen Ausstellungskatalog mit Werkabbildungen und Auszügen aus Kunstkritiken und kunsthistorischen Texten über seine Arbeit sowie einer Werkliste und dem Hinweis auf die optionale serielle Reproduzierbarkeit der Exponate. Die große Medienresonanz behielt Rosso durch eine in Paris in Auftrag gegebene Medienbeobachtung im Auge. Rosso pflegte Kontakte zu Sammlern und nahm auch an Veranstaltungen der Wiener Gesellschaft, etwa dem Concordia-Ball, teil.
„Es gibt keine Malerei, es gibt keine Plastik, es gibt nur ein Ding, das lebt!“4
Medardo Rosso und der Futurismus
Marinetti publiziert das erste „Futuristische Manifest“ (1909), das auf der Titelseite der Pariser Zeitung „Le Figaro“ erschien. Giacomo Balla, Gino Severini und Umberto Boccioni stellten im Salon d’Automne aus. Damit gehören sie zu den Pionieren des Futurismus.
Rosso verbrachte 1911 mehrere Monate in Italien und pendelte zwischen Mailand, Florenz und Rom. Er lernte Amedeo Modigliani kennen, der ihn mit Constantin Brâncuși bekannt machte. Zusammen mit Giacomo Balla nahm Rosso an der „Esposizione Internazionale di Belle Arti, Palazzo delle Belle Arti“ in Rom, teil. Anton Giulio Bragaglia veröffentlichte „Fotodynamismo futurista“, eine Dissertation, in der er die Prinzipien des Futurismus auf die Fotografie übertrug.
Im März 1912 stattete Ardengo Soffici Rosso in Begleitung von Gino Severini einen Besuch ab. Im Juni verunfallte Medardo Rosso mit dem Auto im französischen Hendaye und wurde in San Sebastián ins Krankenhaus eingeliefert. Rosso erholte sich im Haus von Armand Marquis d’Abreu, wo nahezu abstrakte Zeichnungen entstanden.
Im August 1912 kehrte Medardo Rosso nach Paris zurück und machte die Bekanntschaft von Arturo Martini. Boccioni schickte ihm ein Exemplar des „Manifesto tecnico della scultura futurista“ (1912 → Futurismus), in dem er ihn als Wegbereiter des Futurismus apostrophierte – mit persönlicher Widmung. Rosso wehrte sich jedoch gegen diese Vereinnahmung.
Das skulpturale Werk von Medardo Rosso gilt heute als innovativ, ja revolutionär, da er mit Hilfe des Modellierens der Skulptur neue Wege eröffnete. Einer der ersten, der dies erkannte war der italienische Futurist Umberto Boccioni in seiner Schrift „Technisches Manifest der futuristischen Skulptur“. Boccioni nutzte Medardo Rosso – neben Pablo Picassos „Kopf einer Frau“ von 1909 – als Ausgangspunkt für eigene Werke wie „Kopf + Haus + Licht“ (1912). Was Boccioni an Rossos Werken so faszinierte, war die Verbindung von Materie-Energie und Bewegung, Raum und Zeit, das dreidimensionale Objekt und sein umgebender Raum.
Anerkennung in Italien
Ardengo Soffici organisierte „La Prima Mostra Italiana dell’Impressionismo francese e delle scolture di Medardo Rosso“ (1910) und veröffentlichte außerdem eine Serie an Artikeln in „La Voce“, um Rosso in Italien zu fördern. Neben 17 Werken von Rosso umfasste die Ausstellung auch Arbeiten von Cézanne, Degas, Forain, Gauguin, Matisse, Monet, Pissarro, Renoir, Toulouse-Lautrec und van Gogh.
Als Etha Fles 1913 beschloss, Italien zu verlassen, schenkte und verkaufte sie die in ihrem Besitz befindlichen Werke Rossos an öffentliche Museen, darunter die Galleria Nazionale d’Arte Moderna in Rom, später die Galleria d’Arte Moderna in Turin (1914) und die Galleria d’Arte Moderna del Palazzo Pitti in Florenz (1920), um seine Reputation in Italien zu erhöhen. Erste Erwähnung von Rossos freundschaftlicher Verbindung mit der einflussreichen Schriftstellerin und Geliebten Benito Mussolinis Margherita Sarfatti.
Die Stadt Mailand erwarb 1914 eine Bronzeversion von „Enfant malade“ für die Galleria d’Arte Moderna, die Stadt Venedig mehrere Werke für das Museo d’Arte Moderna Ca’ Pesaro, das zugleich Schenkungen erhielt. Medardo Rosso stellte zusammen mit dem Maler Antonio Mancini auf der „XI Esposizione Internazionale d’Arte della Città di Venezia“, der Biennale von Venedig, aus, obwohl Rosso einen eigenen Raum für seine Werke beantragt hatte.
Erster Weltkrieg
1915 trat Italien in den Ersten Weltkrieg ein. Medardo Rosso hielt sich in Venedig auf. Er war erneut zur Biennale eingeladen, die im April 1916 eröffnet werden sollte, jedoch aufgrund der Kriegswirren absagt wurde. Rosso verbrachte die Kriegsjahre in Venedig, Mailand und im schweizerischen Leysin, wo sich Etha Fles niedergelassen hatte.
Nach dreijähriger Abwesenheit kehrte Rosso im April 1917 nach Paris zurück und fand sein Atelier in sehr schlechtem Zustand vor. Rodin starb am 17. November. Rosso schenkte dem Florentiner Sammler, Mäzen und Maler Gustavo Sforni Rodins „Torso“, nachdem dieser bereits drei Wachsarbeiten von Rosso erworben hatte (1918). Nach dem Tod Rodins bezeichnete der französische Dichter Guillaume Apollinaire Rosso in „L’Europe Nouvelle“ (Juli 1918) als „größten lebenden Bildhauer“. Rosso verbrachte seine Zeit zunehmend in Mailand.
Zurück in Italien
Im Jahr 1920 kehrte Medardo Rosso nach Italien zurück, wo er sich mit seinem Sohn Francesco wieder versöhnte. Rosso ließ sich im Grand Hotel in Mailand nieder und nahm an der „Mostra Internazionale d’Arte Sacra“ in Venedig teil, für die er einige seiner Werke mit religiösen Titeln versah.
„Alles bewegt sich. Alles lebt. Sie werden nie ein Pferd mit vier Beinen, noch zwei oder mehr Effekte zur gleichen Zeit sehen.“5
Rosso pendelte 1921 zwischen Venedig und Mailand, wo er seine Beziehungen zu Carlo Carrà, dem Rechtsanwalt Mario Vianello-Chiodo und Margherita Sarfatti vertiefte. Sarfatti förderte sein Werk auch während des Faschismus. In Venedig erhielt Medardo Rosso auf der „Mostra straordinaria nel Palazzo dell’Esposizione ai Giardini Publici“ einen eigenen Raum für Werke, die vom Museo d’Arte Moderna di Ca’ Pesaro erworben worden waren. Der Bildhauer veröffentlichte in der „Gazzetta di Venezia“ und in „Il Popolo“ einen öffentlichen Brief an Clemenceau, in dem er gegen die Entfernung seines „Ecce Puer“ aus dem Musée du Luxembourg protestierte.
Rosso experimentierte in seiner Wohnung mit fotografischen Abzügen. Der englische Philosoph Charles Meek erwarb eine Wachsversion des „Enfant juif“ und drei weitere Werke. In seinem Pariser Atelier auf dem Boulevard des Batignolles wurden aufgrund von Mietrückständen persönliche Gegenstände beschlagnahmt (1923).
„Ich war noch jung, als ich verstand, dass nichts im Raum stofflich ist, denn alles ist Raum und somit ist alles relativ. Die Philosophie von Professor Einstein brauchte ich dazu nicht. Ich sagte das schon vor [18]83.“6
Vermächtnis
Der Sammler Luigi Bergamo plante 1923, in seiner Villa in Stresa am Lago Maggiore ein Rosso gewidmetes Museum einzurichten, was er jedoch nie verwirklichte. Auf Empfehlung von Margherita Sarfatti wurde Rosso am 22. Jänner 1923 zum Alto Consigliere Nazionale delle Arti Plastiche ernannt; Sarfatti widmet Rosso ein Kapitel in „Segni, colori e luci“.
Das Jahr 1925/26 bedeutete den internationalen Durchbruch für Medardo Rosso. In der Galleria Bottega di Poesia in Mailand fand eine Einzelausstellung mit Skulpturen, Fotografien und Zeichnungen Rossos statt.
Italienische Museen erwarben weitere Werke von Rosso, unter anderen kaufte Giuseppe Ricci Oddi 1926 eine Wachsfassung von „Ecce Puer“ für die Galleria Municipale di Piacenza. Margherita Sarfatti kuratierte im Palazzo della Permanente in Mailand die Ausstellung „Prima Mostra del Novecento Italiano“ (Febtruar – März 1926) mit elf Wachsarbeiten. Im Rahmen der „Exhibition of Modern Italian Art“ in den Grand Central Galleries in New York, organisiert von der Italian American Society, waren vier Werke Rossos zu sehen. Die Ausstellung wanderte anschließend nach Boston, Washington, Chicago und San Francisco weiter.
Rosso schickte 1927 dem befreundeten Anwalt Mario Vianello-Chiodo einen Testamentsbrief, in welchem er ihm Werke sowie deren Vervielfältigungsrechte vermachte.7
„Rosso ist schwer zu fassen: eine exzentrische Schwellenfigur zwischen Verismus, Symbolismus, Impressionismus, Futurismus, mit Anklängen an Dadaismus und Surrealismus sowie einem widerständigen Œuvre, dessen elliptische Selbstwiederholungen Vorstellungen von linearer Entwicklung unterlaufen und das Orientierungspunkte wie ein ikonisches Hauptwerk vermissen lässt.“8 (Heike Eipeldauer)
Tod
Medardo Rosso verletzte sich am Fuß, als ihm ein Glasnegativ herunterfiel. Mehrere Zehen und ein Teil des Beines mussten amputiert werden.
Medardo Rosso starb am 31. März 1928 im Asilo Evangelico in der Via Monterosa in Mailand an den Folgen von Diabetes und einer Blutvergiftung.
Am 3. April wurde Rosso auf dem Cimitero Monumentale in Mailand beigesetzt. Auf seinem Grab wurde eine Bronzeversion des „Ecce Puer“ aufgestellt. Am Tag nach seinem Tod wurde die „16. Biennale von Venedig“ mit „Madame Noblet“ und „L’uomo che legge“ eröffnet. Im Jahr darauf widmete der Pariser Salon d’Automne dem Bildhauer eine Retrospektive.
Literatur über Medardo Rosso
- Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur, hg. v. Heike Eipeldauer (Ausst.-Kat. mumok, Wien, 18.10.2024–23.2.2025; Kunstmuseum Basel, Basel, 29.3.–10.8.2025) Wien 2024.
- Medardo Rosso (Ausst.-Kat. Whitechapel Art Gallery, London, 25.2.–24.4.1994; Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh, 5.5.–26.6.1994; The Henry Moore Institute, Leeds, 14.7.–20.8.1994), London 1994. Die Ausstellung wurde kuratiert von Luciano Caramel.
Beiträge zu Medardo Rosso
- Medardo Rosso zit. nach Edmond Claris, 1902, in: Eva Mongi-Vollmer, „Er begründet meisterlich die impressionistische Skulptur“ – Medardo Rosso, in: en passant. Impressionismus in Skulptur, hg. von Alexander Eiling, Eva Mongi-Vollmer (Ausst.-Kat. Städel Museum, Frankfurt, 19.3.–28.6.2020), München 2020, S. 128.
- Ob Medardo Rosso bereits 1884 zum ersten Mal nach Paris reiste, kann nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden. In Paris soll er in Jules Dalou Atelier gearbeitet und Auguste Rodin zum ersten Mal getroffen haben.
- Medardo Rosso’s Words. Interview with Luigi Ambrosini, in: La Stampa, 29.07.1923, zit. nach: Moure, Medardo Rosso, S. 312–317, hier S. 312.
- Medardo Rosso, zit. nach: Ludwig Hevesi, Medardo Rosso, in: Kunst und Kunsthandwerk, 8 (1905), S. 174–184, hier S. 174.
- Rosso, Letter to the Editor of Il Veneto, in: Il Popolo, 22.10.1921; Siehe: Medardo Rosso. Works and Collected Writings, hg. v. Gloria Moure (Ausst.-Kat. Mapfre, Madrid), Madrid 2023, S. 303–311, hier S. 305; zit. n. Heike Eipeldauer, Alarmingly alive — Medardo Rosso vergegenwärtigen, in: Medardo Rosso (Ausst.-Kat. mumok, Wien) Wien 2024, S.13–45, hier S. 13.
- Medardo Rosso’s Words. Interview with Luigi Ambrosini, in: La Stampa, 29.07.1923, zit. nach: Moure, Medardo Rosso, S. 312–317, hier S. 312.
- Zwei der legitimierten Güsse Vianello-Chiodos befinden sich heute im mumok.
- Heike Eipeldauer, Alarmingly alive — Medardo Rosso vergegenwärtigen, in: Medardo Rosso (Ausst.-Kat. mumok, Wien) Wien 2024, S.13–45, hier S. 13.