Edvard Munch, Zugrauch, 1900, Öl auf Leinwand, 84,5 x 109 cm (Munchmuseet, Oslo, Foto: Munchmuseet / Halvor Bjørngård)
Nadelbäume in dunklen Wäldern, so weit das Auge reicht, nur unterbrochen von stillen Seen und reißenden Flüssen. Naturbelassene Landschaften, erkennbar an Moosen und Flechten. Mystische Lichter wie die Aurora Borealis, das Polar- oder Nordlicht, und dicke Schneedecken. Eine einsame Fischerhütte. Und immer wieder tiefblaue Nächte. Der boreale Nadelwald von Kanada über Skandinavien bis Russland ist das Thema der von Ulf Küster kuratierten Ausstellung. Die dünn besiedelte Region oberhalb des 60. Breitengrades erregte zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals künstlerisches Interesse.
Schweiz | Riehen b. Basel:
Fondation Beyeler
26.1. – 25.5.2025
Dreizehn Malerinnen und Maler der Fondation Beyeler überzeugen mit intensiven Farben, expressiver Pinselführung, unkonventionellen Kompositionen und perspektivischen Verzerrungen. Am bekanntesten sind der Norweger Edvard Munch, der Finne Akseli Gallen-Kallela und zunehmend auch die Schwedin Hilma af Klint. Sie werden flankiert von den Mitgliedern der kanadischen „Group of Seven“, die in Europa so gut wie unbekannt sind.1 Die Finnin Helmi Biese, die Schwedin Anna Boberg und ihre Landsläeute Prinz Eugen, Gustaf Fjæstad und Harald Sohlberg sowie der Russe Iwan Schischkin ergänzen die Auswahl.
Edvard Munchs „Zugrauch“ (1900) eröffnet die fein kuratierte Ausstellung. Der Norweger ist nicht nur der international bekannteste Maler der Ausstellung, er überzeugt auch mit großformatigen Landschaften, die er der Witterung aussetzte und mit den Elementen der Natur durchtränkte. Die Nadelwälder seiner Heimat sind Orte der Liebe, wo sich Mann und Frau („Vampire“) zum heimlichen Tête-à-Tête treffen, oder wo frisch geschlagenes Holz die zunehmende wirtschaftliche Nutzung der Wälder dokumentiert. Der am Boden liegende Baumstamm schneidet wie eine Nadel in die Bildtiefe, während der Maler sonst sommers wie winters die Kiefern in geschwungene Formen verwandelt. Munchs „Sternennacht“ (1923/24) und „Mondlicht“ (1895) enthalten jene kosmische Komponente, die der Künstler mit dem menschlichen Schicksal verbunden wissen wollte:
„Menschliche Schicksale sind wie Planeten - wie ein Stern, der aus dem Dunkel geboren wird - und einen anderen Stern trifft - er scheint für eine Sekunde, bevor er wieder im Dunkeln verschwindet - (es ist) so - so treffen einander ein Mann und eine Frau - gleiten zueinander[,] werden durch die Flammen der Liebe beleuchtet - um dann in ihrer eigenen Richtungen zu verschwinden.“ (Edvard Munch)
Hilma af Klint ist in den letzten Jahren für ihre abstrakten, von theosophischen Konzepten geprägten Kompositionen bekannt geworden. Die Fondation Beyeler macht nun darauf aufmerksam, dass die Künstlerin auch flirrende, impressionistische Lichtmalerei geschaffen hat. Diese Bilder entstanden zeitgleich mit den komplexen spiritistischen Werken und zeigen, wie sehr sich die Malerin der Natur verbunden fühlte. Ihre weniger bekannten Zeitgenossinnen Helmi Biese oder Anna Boberg stehen ihr in nichts nach. Vor allem Bieses „Schärenlandschaft (Blick von Villiniki)“ (1899) im kühlen, bläulichen Licht oder Bobergs seltene Nordlichter begeistern für die „nordische“ Landschaft. Prinz Eugen, Mitglied des schwedischen Königshauses, und Harald Sohlberg nutzten vor allem die Farbe, um ihren Landschaften Stimmung und Atmosphäre zu verleihen.
Die tiefen Wälder Kanadas unterscheiden sich nicht wesentlich von denen Skandinaviens - und doch wären die kanadischen Bilder vielleicht ganz anders gemalt worden, wenn es ihre „nordischen“ Vorbilder nicht gegeben hätte: 1913 stellte die Albright Art Gallery in Buffalo (heute: Buffalo AKG Art Museum) „Contemporary Scandinavian Art [Zeitgenössische skandinavische Kunst]“ aus. 165 Werke von 44 Künstlern, darunter sechs bedeutende Gemälde von Edvard Munch wiesen den Kanadiern den Weg in Richtung Moderne. Vor allem die Bilder der schwedischen Künstler:innen Gustaf Fjæstad und Anna Boberg sowie des Norwegers Harald Sohlberg begeisterten, so dass sich J.E.H. MacDonald und Lawren S. Harris auf die mystischen und symbolistischen Qualitäten der sie umgebenden Landschaft konzentrierten.2
Die Maler der „Group of Seven“ - in der Schweiz vertreten durch Lawren S. Harris, J.E.H. MacDonald und den früh verstorbenen Tom Thomson - sowie die ihnen nahestehende Emily Carr zeigen Kanus, bezaubern mit verschneiten Wäldern und dem Farbenspiel des Indian Summer in den tiefer gelegenen Laubwäldern. Lawren S. Harris, Gründer und Hauptvertreter der Künstlergruppe, hebt sich mit seinen farbenfrohen, expressiv ausgeführten Kompositionen von seinen Kollegen ab. Er ist es auch, der sich in den 1920er Jahren stilistisch einer radikalen Vereinfachung der Formen verschreibt, die an zeitgleiche Bilder von Georgia O’Keeffe erinnert.
Emily Carr, die in Deutschland bereits auf der „documenta“ und in Überblicksausstellungen zur kanadischen Moderne in München und Frankfurt a.M. zu sehen war, wandte sich bereits um 1910 der Wildnis und der Kultur der First Nations zu. Die Werkauswahl in der Fondation Beyeler konzentriert sich auf die reifen Arbeiten, in denen sie Bäume fast zu abstrakten, dynamischen Formen verwandelte. Das Hochformat „Wiederaufforstung“ (1936) verweist auf die Zerstörung und Abholzung der Urwälder und damit auf ein höchst aktuelles Problem, nämlich die fragile Balance dieses Ökosystems zu erhalten.
Das Landschaftsbild begleitete Malerinnen und Maler, aber auch das zeitgenössische Publikum in ästhetischen Debatten und nationalen Emanzipationsbestrebungen. Gemeinsam mit dem Buffalo AKG Art Museum organisiert die Fondation Beyeler eine konzeptionell überzeugende Ausstellung mit Kunst aus Kanada, Finnland, Norwegen und Schweden. Russland, wo der Borealis in die Taiga übergeht, ist aufgrund der aktuellen politischen Situation mit dem Realisten Iwan Schischkin vertreten.
Die moderne Landschaftsmalerei von etwa 1880 bis 1930 richtete erstmals den Blick nach Norden. Einerseits experimentierten die Malerinnen und Maler angesichts neuer Motive mit der Darstellung der Natur und ihrer Phänomene, andererseits wandten sie sich bewusst den von den First Nations bewohnten Gebieten zu. Die „nordische“ Moderne ist stilistisch vielfältig, folgt aber einem internationalen Trend zur Vereinfachung: vom Realismus zum Impressionismus, vom Expressionismus zur geometrischen Stilisierung der 1920er Jahre.
Es sei daran erinnert, dass die skandinavischen Länder und Kanada um 1900 ihre Unabhängigkeit erlangten: Norwegen wurde 1905 ein souveräner Staat, das Großherzogtum Finnland 1917. Kanada erlangte seine Unabhängigkeit zwar schon 1867, aber seine gesetzgeberische Autonomie erst 1931 bzw. 1982. Das Malen der borealen Wälder folgte einem neuen Nationalbewusstsein und Patriotismus, wie die Biografie von Akseli Gallen-Kallela zeigt, und spiegelt seltener, wie im Werk von Emily Carr, den Wunsch wider, die aussterbende Kultur der First Nations oder Volkskunst zu dokumentieren. Identitätspolitik und Kunstdebatte treffen sich in betörenden Bildern einer scheinbar noch weitgehend unberührten Natur. Sie wirkt nie bedrohlich. Nur selten, wie in Edvard Munchs „Zugrauch“ (1900), wird der technische Fortschritt thematisiert oder in Emily Carrs „Wiederaufforsten“ die Abholzung.
Malerinnen und Maler projizierten ihre Sehnsüchte und Vorstellungen auf die immergrünen Wälder, die so sehr für Ursprung und noch nicht gezähmte Wildnis standen. Kurz vor 1900 prägte Richard Bergh für diese atmosphärischen Naturschilderungen den Begriff der „nordischen Stimmungslandschaft“3. In jüngeren Ausstellungen wurde daraus die „Traumlandschaft“4 umgedeutet.
„Nordlichter“ ist eine Ausstellung der Fondation Beyeler, Riehen/Basel, und des Buffalo AKG Art Museum, Buffalo, New York (1.8.2025–12.1.2026).
Helmi Biese (1867–1933) | Anna Boberg (1864–1935) | Emily Carr (1871–1945) | Prinz Eugen (1865–1947) | Gustaf Fjæstad (1868–1948) | Akseli Gallen-Kallela (1865–1931) | Lawren S. Harris (1885–1970) | Hilma af Klint (1862–1944) | J. E. H. Macdonald (1873–1932) | Edvard Munch (1863–1944) | Iwan Schischkin (1832–1898) | Harald Sohlberg (1869–1935) | Tom Thomson (1877–1917)