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Wien | Albertina: Modigliani – Picasso „Revolution des Primitivismus” in Paris

Amedeo Modigliani, Junge Frau in Hemd, Detail, 1918 (Albertina, Wien, Sammlung Batliner)

Amedeo Modigliani, Junge Frau in Hemd, Detail, 1918 (Albertina, Wien, Sammlung Batliner)

Amedeo Modigliani (1884–1920) ist als Maler, Zeichner und Bildhauer einer der wichtigsten Künstler des frühen 20. Jahrhunderts. Anlässlich der 100. Wiederkehr seines Todestags 2020 widmet die Albertina dem Künstler der Klassischen Moderne eine umfangreiche und überzeugende Ausstellung (→ Klassische Moderne), in der er den Vergleich mit Pablo Picasso nicht zu scheuen braucht.

Amedeo Modigliani kam Anfang 1906 nach Paris (→ Amedeo Modigliani: Biografie), als Pablo Picasso gerade in Auseinandersetzung mit iberischer und afrikanischer Plastik an „Les Demoiselles d’Avignonzu arbeiten begann (→ Afrikanische Kunst). Dieses Werk zog unmittelbare Folgen nach sich: Es machte Picasso berühmt, bereitete dem Kubismus den Weg und beeindruckte Modigliani nachhaltig. Wahrscheinlicht durfte der Italiener das Gemälde vorab besichtigen, wenn man der Picasso-Freundin Fernand Olivier Glauben schenken darf.

Zwischen Picasso und dem noch unbekannten Modigliani entwickelte sich eine wechselseitige Bewunderung, in deren Zentrum die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem sogenannten „Primitivismus“ stand (zum Primitivismus siehe Picasso war ein Afrikaner!). Modigliani beschäftigte sich offensichtlich mit den Masken der Baule, die an der Elfenbeinküste leben; Picasso hingegen schätzte die Werke der Fang im heutigen Gabun. Modigliani fühlte sich von den gelängten, schmalen Gesichtern angezogen, der Symmetrie der geometrischen Gesichtszüge, den kleinen Mündern, den keilförmigen Nasen – auch wenn sich dafür keine schriftlichen Dokumente erhalten haben. Die dialogische Präsentation von Werken aus Subsahara-Afrika mit jenen von Picasso und Modigliani führt die formale Ähnlichkeit vor Augen.

Ebenso entwickelte Modigliani im schöpferischen Austausch mit Constantin Brâncuşi ein gemeinsames Schaffen im Geiste der sogenannten „primitiven“ Kunst. Constantin Brâncuşi (1876–1957) suchte die Essenz eines Themas in einer subtilen Abstraktion und einer Wendung von der Plastik zur Skulptur, die ohne die Kenntnis traditioneller afrikanischer Kunst nicht erklärbar ist. Die Albertina zeigt eine erste Version der berühmten Plastik „Mademoiselle Pogány“ (1913) und mehrere Fotografien des Künstlers von dieser Skulptur. Allein schon dafür lohnt der Besuch der Ausstellung! Die in dieser Zeit des intensiven Dialoges entstandenen Werke Modiglianis und Brâncuşis bestechen durch ihre gemeinsame künstlerische Vision.

Modigliani in der Albertina

Neben den bereits genannten Künstlern Picasso und Brâncuşi umspannt der Dialog noch André Derain, dessen Weg zum Kubismus durch ein großformatiges Gemälde unterstrichen wird. Modiglianis Begeisterung für die Kunst der sogenannten Primitiven, prähistorischer außereuropäischer Kulturen, darunter etwa 5000 Jahre alte Skulpturen der Kykladen, werden in der Albertina in der ersten Hälfte der Ausstellung in den Mittelpunkt gestellt. Seit seiner Ankunft in Paris wollte Modigliani Bildhauer werden. Vermutlich stoppte ihn seine Lungenerkrankung, sodass er 1914 diesen Traum - selbst und direkt in Stein zu arbeiten - aufgeben musste. Wieder zur Malerei zurückgekehrt, übertrug der Italiener die in der Skulptur gefundenen und entwickelten Formlösungen auf die Leinwand. Seine Porträts und berühmt gewordenen Frauenakte übernehmen die gelängten Proportionen, die schmalen Gesichter und keilförmigen Nasen, die leeren Augen.

Der Maler wurde zum Porträtisten der Pariser Avantgarde-Szene, die kurz nach 1914 den Namen École de Paris, Schule von Paris, erhielt. Modigliani zeigt seine Freunde Chaim Soutine, Diego Rivera, Max Jacob, Moise Kisling in beeindruckend einfachen Kompositionen, tonalen Farben und mit Modiglianis charakteristischer Gesichtsauffassung. Dass der Künstler Ende des Ersten Weltkriegs in eine "klassische Phase" eintrat und sich - auch in Auseinandersetzung mit seiner eigenen Vaterschaft - erstmals auch Kinder als Modelle wählte. Die Bildnisse der Frauen wurden modischer und romantischer. Als Modigliani im Alter von nur 35 Jahren an einer tuberkuläsen Meningitis verstarb, hatte er in knapp 15 Jahren ein spannendes Werk geschaffen, mit denen er unterschiedlichste Stränge der kunsthistorischen Traditionen zusammenführte. Der Dialog mit Picasso ist klug gewählt, um Modigliani als bedeutenden, den Kubismus ablehnenden Künstler im Paris der 1910er Jahre zu etablieren und das Narrativ der "Einzelposition" zurückzudrängen.

Kuratiert von Marc Restellini.

Modigliani in Wien: ausgestellte Werke

  • Amedeo Modigliani, Weiblicher Akt, um 1911, Schwarzer Buntstift auf Papier (© Musée des beaux-arts, Rouen. Foto: C. Lancien, C. Loisel /Réunion des Musées Métropolitains Rouen Normandie)
  • Amedeo Modigliani, Kopf, 1911–1912 (Minneapolis Institute of Art, Gift of Mr. and Mrs. John Cowles, 62.73.1 © Minneapolis Institute of Art)
  • Amedeo Modigliani, Kopf, 1911/12, Kalksandstein (© Minneapolis Institute of Art. Gift of Mr. and Mrs. John Cowles / Bridgeman Images)
  • Amedeo Modigliani, Kopf, 1913, Kalksandstein (© bpk / Staatliche Kunsthalle Karlsruhe)
  • Amedeo Modigliani, Karyatide mit Vase, um 1914 (Tate, Bequeathed by Mrs A.F. Kessler 1983 © Tate, London)
  • Amedeo Modigliani, Karyatide mit Vase, um 1914, Aquarell, Bleistift und blauer Buntstift auf Papier (Tate, Bequeathed by Mrs A.F. Kessler 1983 © Tate, London)
  • Amedeo Modigliani, Diego Rivera, 1914, Öl auf Karton (© Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf)
  • Amedeo Modigliani, Diego Rivera, 1914, Bleistift auf Papier (© Privatsammlung)
  • Amedeo Modigliani, Lola de Valence, 1915, Öl auf Papier, auf Holz kaschiert (© bpk/The Metropolitan Museum of Art, New York. Bequest of Miss Adelaide Milton de Groot)
  • Amedeo Modigliani, Selbstbildnis als Pierrot, 1915, Öl auf Karton (© Statens Museum for Kunst, Kopenhagen)
  • Amedeo Modigliani, Léopold Zborowski, 1916, Öl auf Leinwand (© Fonds de dotation Jonas Netter)
  • Amedeo Modigliani, Chaïm Soutine, 1916, Bleistift auf Papier (© Fonds de dotation Jonas Netter)
  • Amedeo Modigliani, Moise Kisling, 1916, Bleistift auf Papier (© Privatsammlung)
  • Amedeo Modigliani, Max Jacob, 1916/17 (Cincinnati Art Museum, Ohio, Gift of Mary E. Johnston © Bridgeman Images)
  • Amedeo Modigliani, Liegender Akt, 1917, Öl auf Leinwand (© bpk / The Metropolitan Museum of Art, New York)
  • Amedeo Modigliani, Liegender Frauenakt auf weißem Kissen, um 1917 (Staatsgalerie Stuttgart © bpk, Staatsgalerie Stuttgart)
  • Amedeo Modigliani, Sitzender Akt, 1917 (Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, KMSKA, Lukasweb – Art in Flanders | Foto © Hugo Maertens)
  • Amedeo Modigliani, Liegender Frauenakt auf weißem Kissen, um 1917, Öl auf Leinwand (Staatsgalerie Stuttgart © bpk, Staatsgalerie Stuttgart)
  • Amedeo Modigliani, Elvira mit weißem Kragen, 1917/18, Öl auf Leinwand (© Fonds de dotation Jonas Netter)
  • Amedeo Modigliani, Mädchen mit rotem Haar, 1918, Öl auf Leinwand (Privatbesitz)
  • Amedeo Modigliani, Jeanne Hébuterne, 1918, Öl auf Leinwand (© Fonds de dotation Jonas Netter)
  • Amedeo Modigliani, Junger Mann mit Mütze, 1918, Öl auf Leinwand (© Detroit Institute of Arts / Bridgeman Images)
  • Amedeo Modigliani, Dame mit blauen Augen, um 1918, Öl auf Leinwand (© Musée d’art moderne de la Ville de Paris. Bequest of Dr. Maurice Girardin)
  • Pablo Picasso, Brustbild eines Mannes (Studie zu Les Demoiselles d'Avignon), 1907, Öl auf Leinwand (FRMN-Grand Palais (Musée national Picasso-Paris)
  • Pablo Picasso, Karyatide, 1908, Eichenholz und Farbe (RMN-Grand Palais (Musée national Picasso-Paris)
  • Pablo Picasso, Frauenkopf, 1908, Gouache auf Papier (GDKE_Landesmuseum Mainz)
  • André Derain, Das Paar (Die Zwillinge; Mann und Frau), 1907, Kalksandstein (Lehmbruck Museum, Duisburg)
  • Constantin Brâncuşi, Mademoiselle Pogany I, 1913, polierte Bronze mit schwarzer Patina (© Collection of the Speed Art Museum, Louisville, Kentucky, USA)
  • Constantin Brâncuşi, Studie für Der erste Schritt, 1913, Kreide auf Papier (© Museum of Modern Art, New York)
  • Constantin Brâncuşi, Der erste Schritt, um 1914, Vintage-Silbergelatineabzug (© David Grob Collection)
  • Weibliches Inselidol, frühkykladisch, 2800–2700 v. Chr., Marmor (© Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden)
  • Weiblicher Kopf, Angkor, Ende 12./Anfang 13.Jht., Kalksandstein (© Musée Guimet – Musée national des arts asiatiques, Paris)
  • Anthropomorphe Maske, 19. Jahrhundert, Holz, Farbe, Kupferlegierung, Pflanzenfaser und Spiegel (© Musée du quai Branly – Jacques Chirac, Paris, Dist. RMN-Grand Palais)
  • Karyatidenhocker, Luba, Katanga, Shaba, Kongo, vor 1919, Holz (© Royal Museum for Central Africa, Tervuren)
  • Reliquienkopf, Fang, 19. Jahrhundert, Holz und Messing (©Sainsbury Center, University of East Anglia, Norwich (ehem. Sammlung Paul Guillaume)

Beiträge zu Amedeo Modigliani

24. November 2023
Amedeo Modigliani, Chaim Soutine

Stuttgart | Staatsgalerie: Amedeo Modigliani Moderne Blicke | 2023/24

Die Ausstellung zeigt rund 100 Gemälde und Papierarbeiten des Italieners und stellt ihnen Werke aus dem Pariser Umfeld, von Gustav Klimt, Egon Schiele oder Ernst Ludwig Kirchner gegenüber. Erstaunliche Parallelen werden sichtbar, genauso wie die Außergewöhnlichkeit von Modiglianis Kunst.
2. November 2023
Amedeo Modigliani, Chaim Soutine

Potsdam | Museum Barberini: Modigliani Moderne Blicke | 2024

Amedeo Modiglianis berühmte Porträts & weibliche Akte werden auf ihr Frauenbild hin wieder neu befragt.
25. Januar 2023
Amedeo Modigliani, Porträt von Dédie, Detail, 1918, Öl auf Leinwand, 92 x 60 cm (Centre Pompidou Paris, 1952 gespendet von Frau und Herrn André Lefèvre)

Berlin | Jüdisches Museum Berlin: Paris Magnétique 1905–1940 Jüdische Künstler und Künstlerinnen der Pariser Schule | 2023

Jüdische Kunstschaffende aus ganz Europa strömten nach Paris, um dort moderne Kunst zu studieren und Freiheit zu genießen. Die Schau zeichnet mit rund 120 Werken in zehn Kapiteln nach, wie migrantische, oft marginalisierte Positionen als Teil der Pariser Avantgarde das heutige Verständnis der Kunst der westlichen Moderne prägten.

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15. März 2024
Broncia Koller-Pinell, Die Ernte (© Belvedere, Wien)

Wien | Unteres Belvedere: Broncia Koller-Pinell Eine Künstlerin und ihr Netzwerk | 2024

Broncia Koller-Pinells Hauptwerke und ihre Rolle als Mäzenin in der Wiener Moderne sind die Schwerpunkte der Einzelausstellung im Belvedere 2024.
11. März 2024
Alfred Sisley, Die Brücke von Hampton Court, Detail, 1874, Öl auf Leinwand (Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln, Foto: Rheinisches Bildarchiv, Köln)

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Wie kam es dazu, dass sich Maler:innen jenseits der offiziellen Salon-Ausstellung der Pariser Akademie selbst organisierten? Warum wurde ihre Kunst anfänglich abgelehnt und später weltweit gefeiert? Antworten darauf zeigt das Wallraf im Frühjahr 2024.
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Roy Lichtenstein, Hopeless, Detail, 1963. Acryl auf Leinwand, 177,8 x 152,4 cm (© Estate of Roy Lichtenstein & VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Kunstmuseum Basel, Martin P. Bühler, Courtesy: Kunstmuseum Basel, Leihgabe der Peter und Irene Ludwig Stiftung)

Wien | Albertina: Roy Lichtenstein Zum 100. Geburtstag | 2024

Die Ausstellung stellt die wichtigsten Etappen von Lichtensteins abwechslungsreichem Werk von den frühen 1960er Jahren bis zum Spätwerk vor.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.