Der Vorarlberger Grafiker Edmund Kalb (1900–1952) ist erstmals im Leopold Museum in einer Einzelausstellung zu sehen. Das außergewöhnliche Werk des in München ausgebildeten Künstlers besteht hauptsächlich aus über 1.000 dokumentierten Selbstporträts, ergänzend schuf er noch etwa 400 Porträts von Menschen aus seiner direkten Umgebung. Von den Selbstporträts sind heute etwa 700 bekannt und bilden das Hauptwerk des Grafikers. Das Leopold Museum präsentiert eine Auswahl von etwa einhundert Werken und stellt Leben wie Kunstauffassung des wenig bekannten Edmund Kalb vor.
Österreich | Wien: Leopold Museum
24.5. ‒ 18.8.2019
Edmund Kalb wurde am 9. Februar 1900 als einziges Kind eines Wappenmalers in Dornbirn geboren.1 Während seiner Realschulzeit fiel bereits das Talent Kalbs auf, das vom Zeichenlehrer Johann Kammler gefördert wurde. Nach seinem Abschluss arbeitete Edmund Kalb 1919 bis 1925 im väterlichen Malereibetrieb, Obwohl er im Herbst 1925 die Aufnahmeprüfung an der Akademie der bildenden Künste in München nicht bestand, übersiedelte er in die bayrische Hauptstadt. Im Sommersemester 1926 wurde er aufgenommen und spezialisierte sich auf Zeichnung und Radierung (Kaltnadelradierung → Tiefdruck). Die Dr. Waibel-Stiftung in Dornbirn ermöglichte ihm vier Semester mit einem Stipendium in München zu studieren.
Die zweite Hälfte der 1920er Jahre war Edmund Kalbs intensivste und künstlerisch produktivste Zeit. Er reiste häufig nach Dornbirn und Ebnit, um Ferien zu machen und dort etwa 400 Porträts zu zeichnen. Das Hauptwerk des Dornbirners sind allerdings die heute etwa 700 erhaltenen (bekannten) Selbstbildnisse. In dieser Phase erlernte Kalb auch Esperanto und korrespondierte mithilfe seiner Sprachkenntnis und Fotografien mit Künstlerkollegen in der ganzen Welt.
Nach seiner Rückkehr nach Dornbirn 1930 war Edmund Kalb anfangs gezwungen erneut im Betrieb seines Vaters mitzuarbeiten. Erst 1936 wandte er sich wieder dem künstlerischen Gestalten zu. Einmal mehr war es das Selbstporträt, dem er sich zuwandte, wobei er zu erstaunlich abstrakten Resultaten vordrang. Den Zweiten Weltkrieg erlebte Kalb in der Luftwaffe; er wurde wegen Gehorsamsverweigerung zu Gefängnisstrafen verurteilt und mehrfach mit dem Tod bedroht. Ab September 1945 lebte er wieder in Dornbirn, wo er sich u. a. der Landwirtschaft und der Atomphysik zuwandte. Bis zum Tod der Eltern – die Mutter starb 1940 der Vater 1946 – lebte er mit diesen im gemeinsamen Haushalt. Die letzten vier Lebensjahre verbrachte Edmund Kalb ständig davon bedroht, zwangseingewiesen zu werden. Da er sich weigerte, Gemeindesteuern und Stromrechnungen zu zahlen, wurde Kalb mehrfach inhaftiert (1947, 1949). Am 20. Oktober 1952 verstarb Edmund Kalb um 3:30 Uhr in seiner Wohnung an den Folgen eines Magendurchbruchs. Vier Jahre nach seinem frühen Ableben (1956) entdeckten Künstlerfreunde erstmals sein Werk.
Die Selbstporträts Edmund Kalbs entstanden zwischen 1918 und 1930, zwischen Dornbirn und München. Der Künstler reflektierte vor dem Spiegel seine Existenz, war wenig an seinem Äußeren interessiert als vom Wunsch beseelt, seine Denkvorgänge und Gefühlslagen in ein Bild zu transponieren. In einer schier unüberblickbaren Serie setzte er sich mit dem (eigenen) Denken und der Auswirkung des Denkens auf seine Person auseinander. Von ersten Kopfstudien zu völlig abstrakten Linienknäuel bis hin zur Aufgabe der bildenden Kunst zugunsten eines zur Kunst erklärten Denkprozesses reicht das Ausdrucksspektrum von Kalbs Werk.
Bereits frühe Zeichnungen, die noch vor seinem Umzug nach München entstanden sind, weisen Edmund Kalb als präzisen Schilderer menschlicher Physiognomie aus. In Kommentaren erinnerte er sich des Entstehungsprozesses, wobei das Unverständnis der ihn umgebenden Bevölkerung in einigen der Werke ostentativ durchklingt.
Die frühesten Selbstporträts zeigen den Künstler frontal aus dem Bild blicken. Symmetrische Anlage und ein intensiver, durchdringender Blick kennzeichnen diese Arbeiten. Als Edmund Kalb eine dieser frühen Zeichnungen 1932 wiederfand, notierte er am unteren Blattrand: „gefunden 14. Okt. 1932 beim Aufräumen überrascht hat mich bei diesem frühen Selbstbildnis der sich bereits ankündigende forschend eindringende Blick.“2
Zwischen dem Sommersemester 1926 und 1930 studierte Edmund Kalb an der Kunstakademie München und pendelte zwischen der Hauptstadt Bayerns, seiner Heimatstadt Dornbirn und der Einsamkeit des entlegenen Bergdorfs Ebnit. Sein in diesen Jahren entstandenes Werk ist äußerst überraschend, wandte sich Kalb nicht dem in dieser Zeit in Österreich vorherrschenden Expressionismus oder der Neuen Sachlichkeit zu. Stattdessen konzentrierte er sich gänzlich auf sich selbst, wobei sein Ausgangspunkt das expressionistische Porträt war. Nicht die Wiedergabe des Gesehenen, sondern die Schilderung innerer Vorgänge und Seinszustände war für ihn interessant. Als Grundvoraussetzung darf man annehmen, dass Edmund Kalb über eine ausgeprägte Beobachtungsgabe verfügte. Seine Selbstanalysen gestaltete er mit Bleistift, Grafit, Kohle und Kaltnadelradierung, spät erst griff er auch zu Wasserfarben. In der Ausstellung im Leopold Museum ist nur ein Aquarell zu sehen, das die farbige Übertragung von Kalbs buckeligen Gesichtsdarstellungen dokumentiert.
Die frühesten Selbstporträts aus dem Jahr 1926 fragmentieren das Gesicht des Dargestellten. Alles konzentriert sich auf Augen und Nase. Der „Sprung“ vom naturalistischen Beschreiben und Arbeiten mit feinen Abstufungen der frühen Werke zu den nun entstehenden Annotationen könnte nicht größer sein. Im Leopold Museum sind Selbstporträts von Egon Schiele, Richard Gerstl, Max Oppenheimer, Oskar Kokoschka und Herbert Boeckl ausgestellt, die alle nicht als „Vergleichsbeispiele“ zu taugen scheinen. Der intensive Blick, der sich bereits in den frühen Selbstzeugnissen ankündigte, wird nun zum wichtigsten und fast einzigen Darstellungsgrund. Gleichzeitig scheint Edmund Kalb die unterschiedlichen Qualitäten der kratzigen Kaltnadelradierung und der weichen Kohle ausgetestet zu haben.
Im Jahr 1929 gelang es Kalb wieder, nach München zu kommen. In dieser Phase entstanden insgesamt 107 Selbstbildnisse. Ab dem Sommer 1929 setzte er sich in seinen Selbstporträts mit den Auswirkungen mathematischer Denkarbeit auf den Gesichtsausdruck auseinander. Die im Jahr 1930 entstandenen Werke bilden obschon nicht quantitativ so doch qualitativ den Höhepunkt in Edmund Kalbs Werk.
Spätestens 1930 verändern sich die Gesichtsdarstellungen: Die Augen sitzen schief in der Gesichtslandschaft. Die Köpfe wirken disproportional. Zunehmend tauchen hinter der Figur im schwarzen Anzug mathematische und physikalische Formen auf. Handelt es sich hierbei um Projektionen des Gedachten auf die Bildfläche? Die gewagten Körperdarstellungen verbinden sich mit unentzifferbaren Hieroglyphen. Die selbst auferlegte Beschränkung auf die Ausdrucksmittel der schwarzen Zeichenmittel sollte Edmund Kalb erst sehr spät aufgeben. Bevor er wieder nach Dornbirn zurückkehrte, versanken seine Porträts in immer wilder aussehenden Strichknäuel.
Im April 1930 kehrte Edmund Kalb – aus wirtschaftlichen Gründen – endgültig nach Dornbirn zurück. In den folgenden Jahren arbeitete er wieder im väterlichen Betrieb mit bzw. war ladwirtschaftlich am Acker und im Wald tätig. Das künstlerische Werk bricht mit dieser Änderung der Lebensverhältnisse ab. Der inneren Notwendigkeit, sich kreativ zu betätigen, verlagerte Kalb auf seine wissenschaftlichen Forschungen. Als „Renaissance-Mensch“ und Universalgelehrter beschäftigte er sich fortan mit Atomphysik, Astronomie, Landwirtschaft (Technik) und dergleichen. Nur vereinzelt widmete er sich dem Porträtzeichnen.
Zu den letzten und außergewöhnlichsten Arbeiten des Grafikers zählen dessen späte Abstraktionen aus den Jahren 1937 und 1938. In schnellen und kräftigen Kreisbewegungen arbeitete er „Energiebündel“ auf das Papier. Dabei orientierte er sich an Größe und Format des Bildes, behielt immer einen weißen Rand bei. Manchmal riss ihm bei der fast gewaltsam wirkenden Arbeit das Papier. Die „Energiebündel“ lassen sich in der Kunstgeschichte der 1920er und 1930er Jahre mit Werken von Naum Gabo, Alexander Rodtschenko und Künstlern der russischen Avantgarde in Verbindung setzen, wobei der gemeinsame Ausgangspunkt zu ähnlichen Ergebnissen führte.
Dass Edmund Kalb mit diesen Kompositionen kaum auf Verständnis seiner Umwelt – und schon gar nicht auf Interesse während der NS-Diktatur – hoffen konnte, liegt auf der Hand. Er trat keiner Künstlervereinigung bei und stellte nie aus. Er verkaufte zeitlebens kein einziges Blatt. Dennoch dokumentierte und kommentierte Edmund Kalb sein Werk so penibel wie ausführlich.
Er ließ von vielen seiner Blatter Fotografien anfertigen. Zum einen klebte er sie nach Themen geordnet in Alben, zum anderen nutzte er sie als Grundlage für seinen weitgespannten Gedankenaustausch mit Künstlerfreunden in aller Welt. Nach seinem Tod war sein gesamtes Werk in Stößen geordnet in seiner Wohnung im Elternhaus eingelagert, wo es interessierte Künstler erst Jahre nach seinem Ableben entdeckten. Die erste Präsentation von Edmund Kalbs Werk fand daher 1956 im Künstlerhaus Bregenz statt: Hubert Berchtold, Emil Gehrer und Anton Rhomberg hatten im Nachlass des Dornbirner Malers Alfons Luger eine Zeichnung Edmund Kalbs entdeckt, die sie so spannend fanden, dass sie den Nachlass ausforschten. Die systematische Erforschung des Werks wird vor allem seit den frühen 1980er Jahren vorangetrieben; seit Mitte der 1990er Jahre sind die Zeichnungen und Druckgrafiken Kalbs in mehreren internationalen Ausstellungen zu sehen gewesen. In den letzten Jahren haben Werke und Leben des Vorarlbergers, der zwischen geistiger Freiheit und dörflicher Enge ein so außergewöhnliches Schaffen entfaltete, wieder mehr Interesse gefunden. Die dichte Schau im Leopold Museum, Wien, ruft den Einzelkämpfer und Weltbürger Kalb einmal mehr einem großen Publikum in Erinnerung.
Kuratiert von Rudolf und Kathleen Sagmeister.