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Bielefeld | Kunsthalle Bielefeld: Jacoba van Heemskerck

Jacoba van Heemskerck, Bild no. 33 (Meer mit Schiffen), 1915, Öl auf Leinwand, 80,5 x 100,5 cm (Kunstmuseum Den Haag, Foto: Kunstmuseum Den Haag)

Jacoba van Heemskerck, Bild no. 33 (Meer mit Schiffen), 1915, Öl auf Leinwand, 80,5 x 100,5 cm (Kunstmuseum Den Haag, Foto: Kunstmuseum Den Haag)

Jacoba van Heemskerck (1876–1923) gehörte zwischen 1914 und 1923 zu den wichtigsten Künstlerinnen des „Sturm“ und zählt heute zu den bedeutendsten Künstlerinnen der Moderne in den Niederlanden. Sie arbeitete in den Medien Malerei, Holzschnitt und Glas, unterrichtete an der Sturm-Kunstschule und kritisierte bei aller Wertschätzung die Kunsttheorien von Piet Mondrian und Wassily Kandinsky als zu dogmatisch. In weniger als zwei Jahrzehnten schuf van Heemskerck ein kompromisslos eigenständiges Werk. Der niederländischen Malerin aus adeliger Familie widmet die Kunsthalle Bielefeld eine umfassende Einzelausstellung – die erste seit 1983/84.

Jacoba van Heemskerck – DIE Sturm-Künstlerin

In jüngerer Zeit war Jacoba van Heemskerck als zentrale Figur des „Sturm“ in Ausstellungen wie „Sturm-Frauen“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt 2015 vertreten. Denn: Mit zehn Einzelausstellungen und einer Vielzahl von publizierten Holzschnitten gehörte sie zu den Lieblingen von Herwarth Walden und seiner Ehefrau Nell. Der Publizist und Galerist förderte die Tochter eines Marinemalers und Offiziers seit er sie zum „Ersten Deutschen Herbstsalon“ eingeladen hatte. Durch den bedeutenden Berliner Kunstpropagandisten knüpfte van Heemskerck Kontakte zu den deutschen Expressionist:innen, allen voran den Mitgliedern des „Blauen Reiter“, zu Wassily Kandinsky und Gabriele Münter, Franz MarcAlexej von Jawlensky und Paul Klee (→ Der Blaue Reiter).

 

 

Vom Luminismus zum Expressionismus

Die ersten Gemälde in der Ausstellung verdeutlichen beispielhaft die Entwicklung Jacoba van Heemskercks in den Jahren kurz nach 1910. Innerhalb von vier Jahren lässt sich das Schaffen van Heemskercks stilistisch so ureien: vom Luminismus zum Kubismus und weiter zum Expressionismus. Die in den Niederlanden und Paris ausgebildete Malerin wandte sich ab 1908 in Domburg der modernen Kunst zu. In intensivem Austausch zuerst mit Jan Toroop und dann Piet Mondrian stehend, nutzte sie die niederländische Interpretation des Neo-Impressionismus, den Luminismus. Die ersten beiden Gemälde der Ausstellung zeigen farbintensive Interpretationen von Bäumen, wie sie um 1910 auch Mondrian beschäftigten. Der geordnet, fleckenhafte Farbauftrag geht auf Paul Signacs Lehre zurück, während das leuchtende Kolorit vom Spätwerk Vincent van Goghs beeinflusst ist. Als Erde und Himmel miteinander vereinendes Symbol wie auch als Formproblem nutzte Jacoba van Heemskerck Bäume zeitlebens als Motiv.

Obschon van Heemskerck 1910 zu den fortschrittlichsten Malerinnen ihrer Generation zählte, sollte es noch weitere vier Jahre dauern, bis sie sich einen eigenständigen Platz in den Reihen der Avantgarde erarbeitet hatte. Die Abfolge der Exponate verdeutlicht ihr Ringen um den adäquaten Ausdruck. Hinter den „Stilexperimenten“ stand eine tiefe Verbundenheit mit allen Seins, das Jacoba van Heemskerck zuerst in der Theosophie und dann in Rudolf Steiners Anthroposophie wiederfand. Sie schloss sich 1915 Steiners Überzeugungen an, dass Farben eine direkte Wirkung auf die Psyche hätten, und dass das Ziel – auch der Kunst – das Geistige wäre.

Noch in den Jahren 1912/13 beschäftigte sich Jacoba van Heemskerck mit dem Kubismus, was den Verlust der Buntfarbe und die Zersplitterung der Formen zur Folge hatte. Von der tonigen, erdigen Palette löste sie sich zunehmend mit den beiden Bildern „Wald I“ und „Wald II“ von 1913. In diesen Werken zeigt sich auch die Bedeutung von Symmetrie, die Nutzung geometrisierter Naturformen als Überwindung des Kubismus und die Rückkehr der Farben. Offenkundig stellen die beiden Gemälde den Wald in zwei Jahreszeiten und damit den Wandel dar.

Mit Landschaften aus dem Jahr 1914, die wie protokubistische, verblockte Ansichten wirken, fand Jacoba van Heemskerck zu einem zunehmend abstrahierten Wiedergeben des Gesehenen. Damit – wie in „Bild (Stillleben mit Krug)“ – fand sie eine Lösung für die Frage, wie das Geistige in einem gegenständlichen Werk darstellbar ist. Im Gegensatz zu Mondrian und Kandinsky blieb Jacoba van Heemskerck zeitlebens der Gegenständlichkeit verbunden, auch wenn sie sich mit Hilfe von Geometrisierung zunehmend von einer leichten Erkennbarkeit der Motive entfernte. Ihre expressiven Landschafts-, Stadt- und Hafenmotive bestechen in der Folge mit rhythmischen Kompositionen des Bildraums, schwarzen Umrisslinien und intensiven Farbwirkungen.

 

 

Jacoba van Heemskercks Expressionismus nutzt eine starke Vereinfachung der Formen, wie sie in den schwarz-weißen Flächenholzschnitten aus der „Sturm“-Publikation zu erkennen sind. Diese Reproduktionsgrafiken beeinflussten die Künstlerin auch in der Gestaltung ihrer Gemälde (mit schwarzen Umrisslinien) und führten sie ab 1914 theoretisch und 1918 praktisch zur Glasmalerei. Letztere steht auch für die kongeniale Verbindung von Farbe und Licht, die Jacoba van Heemskerck subjektiv einsetzte und als Weg der Erkenntnis empfand. Da sie dem Publikum ebensolche Freiheit in der Interpretation zubilligen wollte, nannte sie ihre Werke nur noch „Bild“ und nummerierte sie.

Dynamische Formen, manchmal so stark abstrahiert, dass man den Bildgegenstand kaum mehr entziffern kann, stehen in van Heemskercks Werk gleichberechtigt neben geometrisierten Kompositionen. Dabei wechselte die Künstlerin zwischen den Medien. Den kantigen Stil ihrer expressionistischen Holzschnitte übertrug sie in ihre Malerei; die organisch-verlebendigten Formen finden sich sowohl in der Glasmalerei als auch in ihren Ölgemälden. Über die Frage, welchen Stellenwert die angewandte Kunst in ihrem Werk und ihrem Denken einnahm, entzweite sie sich sogar mit Herwarth Walden. Trotz dieses Dissens – in der Bielefelder Ausstellung sind Glasgemälde, bleiverglaste Fenster und ein Glasmosaik aus den Jahren nach 1920 zu sehen – vertrat der Berliner Galerist van Heemskerck weiterhin international. Ihr früher Tod im Alter von 47 Jahren ließen Jacoba van Heemskercks Ruhm bald verblassen. Umso wichtiger ist es, sie als zentrale Figur im Netzwerk der internationalen Avantgarde wiederzuentdecken!

 

 

Jacoba van Heemskerck in Bielefeld

Die Ausstellung in der Kunsthalle Bielefeld ist die erste seit mehr als 35 Jahren. Sie umfasst etwa 60 Werke aus allen Schaffensphasen, wobei die Gegenüberstellung von Gemälden und Holzschnitten für die „Sturm“-Publikationen besonders instruktiv ist. Mit der Personale wird eine niederländische Künstlerin wieder greifbar, deren einzigartige Position aus ihrer Verbindung moderner Ausdrucksmöglichkeiten und Anthroposophie resultierte. Dadurch bereichert die Ausstellung über Jacoba van Heemskercks Leben und Werk nicht nur die Geschichte des „Sturm“, sondern auch die Erzählung der Moderne bzw. des Expressionismus um eine wichtige Facette. Fazit: Erhellende Ausstellung über eine zu Unrecht vergessene Künstlerin der 1910er Jahre!

Eine Ausstellung der Kunsthalle Bielefeld in Kooperation mit dem Kunstmuseum Den Haag, Niederlande, und den Museen Stade, unter der Schirmherrschaft von S. E. Wepke Kingma, Botschafter des Königreichs der Niederlande in Deutschland.
Zweite Station der Ausstellung: Edwin Scharff Museum, Neu-Ulm: Februar bis Juni 2022
Kuratiert von Dr. Henrike Mund

 

Jacoba van Heemskerck: Ausstellungskatalog

Mit Beiträgen von L. Fink, A. Lorenz, H. Mund, J. van Paaschen, L. Stamps
160 Seiten, 150 Abbildungen in Farbe
22 x 26 cm, Klappenbroschur
ISBN 978-3-7774-3698-2
Hirmer Verlag

 

Jacoba van Heemskerck: Bilder

  • Jacoba van Heemskerck, Vliegdennenbos [Pinienwald], 1910, Öl auf Leinwand, 93,6 x 71,3 cm (Kunstmuseum Den Haag, Foto: Kunstmuseum Den Haag)
  • Jacoba van Heemskerck, Komposition no. 18, 1915, Holzschnitt auf Papier, 19,9 x 27,8 cm (Bild), 35,2 x 47,8 cm (Blatt) (Kunstmuseum Den Haag, Foto: Kunstmuseum Den Haag)
  • Jacoba van Heemskerck, Bild no. 18, 1915, Öl auf Leinwand, 87 x 77,5 cm (Kunstmuseum Den Haag, Foto: Kunstmuseum Den Haag)
  • Jacoba van Heemskerck, Bild no. 23 (Weiße Segelboote auf einem See), 1915, Öl auf Leinwand, 111,1 x 130,9 cm (Kunstmuseum Den Haag, Foto: Kunstmuseum Den Haag)
  • Jacoba van Heemskerck, Bild no. 33 (Meer mit Schiffen), 1915, Öl auf Leinwand, 80,5 x 100,5 cm (Kunstmuseum Den Haag, Foto: Kunstmuseum Den Haag)
  • Jacoba van Heemskerck, Bild no. 41, 1916, Öl auf Leinwand, 105 x 78 cm (Kunstmuseum Den Haag, Foto: Kunstmuseum Den Haag)
  • Jacoba van Heemskerck, Glasfensterentwurf no. 24, 1919, Tusche und Aquarell auf Papier, 83 x 115 cm (Kunstmuseum Den Haag, Foto: Kunstmuseum Den Haag)
  • Jacoba van Heemskerck, Glasfensterentwurf no. 25, 1919, Tusche und Aquarell auf Papier, 125 x 82 cm (Kunstmuseum Den Haag, Foto: Kunstmuseum Den Haag)
  • Jacoba van Heemskerck, Komposition (Schmetterling), um 1920, Bleiglasfenster mit Glasmalerei, Durchmesser 29,2 cm (Kunstmuseum Den Haag, Foto: Kunstmuseum Den Haag)
  • Jacoba van Heemskerck, Komposition Nr. 2, 1920, farbiger Holzschnitt auf Büttenpapier, 21,8 x 15,8 cm (Bild), 45 x 28,3 cm (Blatt) (Kunstmuseum Den Haag, Foto: Kunstmuseum Den Haag)
  • Jacoba van Heemskerck, Vestibülfenster der Villa Wulffraat, 1920, Bleiglasfenster mit Glasmalerei, 136 x 71,5 cm, Ausführung: Atelier J. W. Gips, Den Haag (Kunstmuseum Den Haag, Foto: Kunstmuseum Den Haag)

Beiträge zur Kunst des Expressionismus

12. November 2024
Gabriele Münter, Selbstporträt, Detail, um 1908, Öl auf Karton, 49 x 33.6 cm (Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid)

Madrid | Thyssen-Bornemisza: Gabriele Münter Malerin des Expressionismus | 2024/25

Erste Ausstellung zu Gabriele Münter in Spanien! Das Museo Thyssen Bornemisza widmet der Pionierin des deutschen Expressionismus und Mitglied von "Der Blaue Reiter" eine Retrospektive mit mehr als 100 Gemälden, Zeichnungen, Druckgrafiken und Fotografien.
31. Oktober 2024
Alexej von Jawlensky, Heilandsgesicht — Erwartung, Detail, 1912 (Museum Wiesbaden, Foto: Museum Wiesbaden / Bernd Fickert)

Wiesbaden | Museum Wiesbaden: Feininger, Münter, Modersohn-Becker Wiesbadener Sammlung | 2025/26

In der Ausstellung wird die bewegte Geschichte der in über einhundert Jahren aufgebauten „Abteilung Klassische Moderne“ des Museums Wiesbaden reflektiert, zu deren Umfang und Qualität Schenkungen und Stiftungen beigetragen haben.
22. Oktober 2024
Gabriele Münter, Stillleben in der Trambahn (Nach dem Einkauf), um 1912, Pappe (Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München)

New York | Guggenheim Museum: Gabriele Münter Schlüsselfigur der deutschen Avantgarde | 2025/26

Gabriele Münter in New York ist eine wegweisende Ausstellung, die sich auf die Jahre 1908 bis 1920 konzentriert. Durch das Integrieren von späteren Werken wird der anhaltende Drang der Künstlerin spürbar, zu experimentieren und sich anzupassen.

Beiträge zur Künstlerinnen

20. November 2024

Hamburg | Bucerius Kunst Forum: Sonja Ferlov Mancoba, Maria Martins, Isabelle Waldberg Bildhauerinnen des Surrealismus | 2025

Sonja Ferlov Mancoba (1911–1984), Maria Martins (1984–1973) und Isabelle Waldberg (1911–1990), drei bedeutende Bildhauerinnen des Surrealismus, sind erstmals im Hamburger Bucerius Kunst Forum gemeinsam zu sehen.
20. November 2024
Jakob Lena Knebl, Cordula’s Sister, 2023 © Foto: Fabrice Gousset, VG Bild-Kunst, Bonn 2024; Courtesy die Künstlerin, Galerie Loevenbruck, Paris

Darmstadt | Hessisches Landesmuseum: Jakob Lena Knebl & Markus Pires Mata und die Sammlungen des Hessischen Museums in Darmstadt | 2024/25

Jakob Lena Knebl & Markus Pires Mata arrangieren die Sammlung in Darmstadt um und kreieren eine lustvolle Demokratisierung des Displays, das neues Staunen möglich macht.
18. November 2024
Katharina Grosse in Stuttgart 2025 © VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Stuttgart | Kunstgebäude Stuttgart: Katharina Grosse Werke von den 1980ern bis heute, Skulpturen und In situ Arbeiten | 2025

Die Staatsgalerie Stuttgart widmet anlässlich der Großen Landesausstellung 2025 erstmals dem außergewöhnlichen, dreidimensionalen Werk von Katharina Grosse. Die Ausstellung im Kunstgebäude am Schlossplatz zeigt erstmals frühe Werke aus den 1980er Jahren bis hin zu neuesten Leinwandarbeiten, Skulpturen und In situ Arbeiten.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.