Anlässlich des 500. Todestags von Raffael am 6. April 2020 vereint die Gemäldegalerie in einer Kabinettausstellung fünf Madonnenbilder aus ihrem Bestand, die durch Leihgaben der National Gallery in London und des Berliner Kupferstichkabinetts begleitet werden. So wird die „Madonna Terranuova“ (um 1505, Gemäldegalerie) erstmalig mit Raffaels Zeichnung des „Kopfes der Madonna Terranuova“ aus dem Kupferstichkabinett in einen direkten Dialog treten.
Deutschland | Berlin: Kulturforum, Gemäldegalerie
13.12.2019 – 26.4.2020
Neben den herausragenden Werken Raffaels aus Berlin bildet die spektakuläre Leihgabe durch die National Gallery in London ein Highlight der Ausstellung: die „Madonna mit den Nelken [Madonna die Garofani]“ (1506–1508), die zum ersten Mal seit ihrem Museumsankauf England verlässt. Das kleinformatige Ölgemälde steht innerhalb von Raffaels Werk für dessen Reifung zu einem Hauptmeister der Hochrenaissance (→ Renaissance), seine Auseinandersetzung mit den Florentiner Kollengen bzw. Konkurrenten Leonardo da Vinci und Michelangelo Buonarroti. Mit Werken wie diesen erarbeitete sich Raffael den Ruf des Madonnenmalers, der in der zweiten Hälfte des Jahres 1508 nach Rom übersiedelte, um dort die päpstlichen Gemächer zu freskieren.
Das Madonnenbild zeigt eine jugendliche Maria, die sich über ihren Sohn freut, der auf einem weißen Kissen auf ihrem Schoß sitzt. Das Kind nimmt seiner Mutter gerade eine Nelke aus der rechten Hand, weitere Blüten hält sie in ihrer Linken. Der dunkle Raum kann als Schlafzimmer identifiziert werden, denn der grüne, geknotete Vorhang links ist der Bettvorhang. Kontrastreich gibt das Fenster rechts den Blick auf eine sonnige Landschaft frei.
Dass Raffael für diese familiär wirkende Szene gerade Nelken wählte, hat mit deren griechischen Namen zu tun: „dianthos“ bedeutet „Blume Gottes“. Sie steht traditionellerweise für die göttliche Liebe und das Heilen. Zudem kommen Nelken in Verlobungsbildern vor, können aber auch Freundschaft bedeuten. Vermutlich sollen sie in diesem Kontext auf die Rolle Mariae als „Braut Christi“ verweisen (siehe Hohelied Salomon). Schon im 17. Jahrhundert wurde das Gemälde auf diese Weise interpretiert, wie der Spruch „Dilectus meus mihi et ego illi [Mein Freund ist mein, und ich bin sein]“ auf einer radierten Reproduktion beweist.
Vorbilder für Raffaels Komposition finden sich sowohl in der niederländischen Malerei (Detailreichtum, reckige Form der Stirn der Madonna, niedergeschlagene Augen) wie auch im Werk des von ihm verehrten Leonardo da Vinci. Leonardos „Madonna Benois“ (um 1478, Eremitage, St. Petersburg) prägt die Komposition vor. Vielleicht wollte die Auftraggeberin – es könnte sie hierbei um Maddalena degli Oddi gehandelt haben – eine Paraphrase des Werkes erhalten. Offensichtlich hatte Raffael Zugang zu Leonardos Madonna, die er in seinem Sinne umgestaltete. Das enge Sitzen wird in einen Dialog aufgelöst. Die Plastizität der Volumina waren Raffael wichtiger als die Imitation des Leonardo’schen Sfumato.
Die überschaubare Größe des Werks – 28,8 x 22,9 cm – und die ungemein feine Ausführung sind Hinweise, dass das Werk als privates Andachtsbild genutzt wurde. Weder Auftraggeber noch erste Besitzer sind aus Quellen des frühen 16. Jahrhunderts bekannt. Es ist 1810 in Paris aufgetaucht, wo es der Kunsthändler Vincenzo Camuccini erwarb. In seinem Inventar aus den frühen 1850er Jahren hielt er fest, dass die „Madonna mit den Nelken“ gemalt worden wäre für „Maddalena degli Oddi, eine Nonne, in Perugia, von deren Erben es ein Franzose 1636 erwarb und nach Frankreich mitnahm“. Giorgio Vasari nennt Maddalena als die Auftraggeberin von Raffaels „Marienkrönung“ (1503/04) für die Oddi-Kapelle in San Francesco al Prato in Perugia. Da Maddalena degli Oddi 1490 das Familienvermögen ihrer Mutter erbte, war sie sowohl in der Lage als auch verpflichtet, fromme Werke in Auftrag zu geben. Der etwas früheren „Marienkrönung“ könnte – auch ohne Belegen in den Quellen – die Beauftragung Raffaels mit der „Madonna mit den Nelken“ erfolgt sein, um den gerade für die rivalisierende Familie Baglione arbeitenden Maler – er schuf für sie die epochale „Grablegung Christi“ (1507) – für die Oddi zu halten.
Die „Madonna mit den Nelken“ tauchte 1810 wieder auf und wurde im frühen 19. Jahrhundert von bedeutenden Raffael-Forschern wie Longhena und Johann David Passavant als Original anerkannt. 1854 erwarb der 4. Duke of Northumberland die Madonna und ließ es in Alnwick als Raffael aufhängen. Erst 1991 entdeckte Nicholas Penny die „Madonna mit den Nelken“ wieder, wobei naturwissenschaftliche Untersuchungen vor allem der Unterzeichnung, die die Infrarot-Reflektografie sichtbar gemacht werden kann, und der Pigmente die Eigenhändigkeit des Werks stützen. Erst 1994 erwarb die National Gallery in London das Gemälde. 2019/20 verlässt es anlässlich der Kabinettsausstellung zu Raffaels Madonnen in Berlin erstmals Großbritannien.
Die Berliner Sonderpräsentation nimmt eine dezidiert sammlungsgeschichtliche Perspektive ein und führt uns jenen „jungen Raffael“ vor Augen, der bei Gründung des ersten Museums in Berlin 1830 so begehrt war. Die Ausstellung wirft ein Schlaglicht auf die frühe Erwerbungspolitik der Gemäldegalerie im Spiegel europäischer Sammlungsgeschichte. Sie zeigt uns jenen Raffael, den Preußen im 19. Jahrhundert aus ihm machte, aber zugleich den zeitlosen Raffael, als Schöpfer von Bildern vollkommener Schönheit und Harmonie.
Wir verfolgen die Ausstellungsgeschichte der Raffael-Madonnen vom Königlichen Museum Unter den Linden (heute: Altes Museum) über das Kaiser-Friedrich-Museum (heute: Bode-Museum) und die Nachkriegszeit in Dahlem bis heute.
Nicht zuletzt rückt dabei auch die Frage der Rahmung der Gemälde von Karl Friedrich Schinkel bis heute in den Fokus.
Quelle: Pressetext