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Deine Wunden Passionsimaginationen in christlicher Bildtradition und Bildkonzepte in der Kunst der Moderne

Pietro Lorenzetti, Christus als Schmerzensmann (um 1340), Tempera auf Holz, 35,3 x 26 cm, Lindenau-Museum Altenburg.

Pietro Lorenzetti, Christus als Schmerzensmann, um 1340, Tempera auf Holz, 35,3 x 26 cm, Lindenau-Museum Altenburg.

Zwischen „Ich habe es gesehen“ und „Man kann es nicht ansehen“ changieren menschliche Reaktionen auf Leid und Schmerz, bildlich darstellbar mit Hilfe von Wunden. Dass die Darstellung derselben in der spätmittelalterlichen, christlichen Kunst einen wichtigen Stellenwert einnahm, belegen die unzähligen Schmerzensmann-Darstellungen in Form von Gemälden und Druckgrafiken. Welche Verbindungen sich von der Imago pietatis über Francisco de Goyas „Desastres de la guerra“ zur Kunst der Moderne knüpfen lassen, darüber klärt der von Reinhard Hoeps und Richard Hoppe-Sailer herausgegebene Katalog zur Ausstellung „Deine Wunden“ auf. Über den Begriff der Verletzung lassen sich spätmittelalterliche schmerzensmann-Darstellungen mit Lucio Fontanas zerschlitzten Leinwänden und Arnulf Rainers Kreuzübermalungen miteinander in Beziehung setzen.

Deine Wunden. Passionsimaginationen in christlicher Bildtradition und Bildkonzepte in der Kunst der Moderne

Deutschland | Bochum:
Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum Situation Kunst (für Max Imdahl) 26.4. - 24.8.2014

Goyas „Desastres de la guerra“ und ihre Sattelstellung für die Darstellung von Schmerz

Das Unfassliche, das Unvorstellbare menschlichen Leids ins Bild zu gießen, ist eine der großen Herausforderungen in der erzählenden Kunst. In der religiösen Malerei und Skulptur wurden bereits im 13. Jahrhundert jene motivischen Grundsteine gelegt, auf die Künstler_innen seit etwa 1800 auch in Werken ohne christliche Thematik aufbauen. Allen voran wird für die am Projekt beteiligten Forscher Francisco de Goyas Grafikfolge „Desastres de la guerra“ zu einem Schlüsselwerk, in dem der spanische Künstler angesichts des spanisch-französischen Bürgerkriegs (1808–1814) in der sakralen Kunst vorgeprägte Bildtypen für die Beschreibung der Kriegsgräuel nutzt. Vor allem im engeren oder weiteren Umfeld der Passionsüberlieferung finden sich ikonografische Prototypen, auf die Künstler_innen in den letzten 200 Jahren mehr oder weniger direkt reagierten. Der Bildtheologe Reinhard Hoeps spricht sich für eine offene Interpretation der Bildzitate aus, wenn er Goyas Drucke „als eine Art von Resonanzraum“ beschreibt und die „in bildlicher Sprache artikulierte, den Blick leitende Tradition der Vertrautheit“ hervorhebt (S. 78-79).

Mit dieser Grenzziehung entlang der „Desastres“ gliedern sich die Ausstellungsstücke in zwei Gruppen – einem Davor und einem Danach. Vor der Moderne, so entsteht der Eindruck, entfaltet sich eine von Kontinuität getragene, christliche Tradition mit reicher Blüte. Nach dem Epochenbruch wird die Wunde säkular, selten religiös gemeint. Ehemals im christlichen Kontext etablierte Bildformeln, so suggeriert die Auswahl an Werken in Ausstellung und Katalog, erinnern nun an Kriegsgräuel, an persönliche Verwundungen, an die Verletzlichkeit des Menschen schlechthin.

„Deine Wunden. Passionsimaginationen in christlicher Bildtradition und Bildkonzepte in der Kunst der Moderne“

Der Ausstellungskatalog gliedert sich in einen Essay- und einen Objektteil. Reinhard Hoeps, Erich Franz, Thomas Lentes und Richard Hoppe-Sailer gehen vom Christentum als eine Religion des Bildes und des Schauens aus, wobei Bilder nach Reinhard Hoeps nicht nur als Ausdruck von Glaubensüberzeugungen fungieren, sondern diese selbst auch nachhaltig prägen (S. 13). Anstelle von Naturnachahmung tritt in der christlichen Kunst der Begriff der Memoria, vor allem der Memoria passionis (S. 18). In vielen Passionsdarstellungen lösen sich Künstler sowohl von der biblischen Überlieferung wie auch den Gesetzen der Zentralperspektive (S. 19). Damit fasst Hoeps eine grundlegende Beobachtung zusammen, die die in der Ausstellung zusammengeführten Druckgrafiken durchwegs bestätigen. Künstler entwickelten eine eigene visuelle Sprache, in der sie – Metaphern gleich – mit einer spezifischen Semantik auf die Anforderungen der christlichen Lehre und des Kultes reagierten. Im Gegensatz zum Historienbild mit seiner euklidischen Raumvorstellung handelt es sich weder um wörtliche Illustrationen von Texten noch um Reinszenierungen historisch nachprüfbarer Fakten, sondern um wirkmächtige Zusammenstellungen wichtiger Artefakte. Dass dabei ab der Mitte des 16. Jahrhunderts auch eine perspektivische Konstruktion der Bildräume nicht mehr völlig unterdrückt werden konnte, wie der „Lebensbrunnen im Garten (Heiltum in Hall)“ um 1800 belegt, lässt die Behauptung Hoeps` als zu generalisierend erscheinen.

Als die beiden wichtigsten christlichen Bildmotive der Wunde führt Hoeps in der Folge die Arma Christi und den Schmerzensmann an, beide funktional als Andachtsbild bestimmt: Vor allem die Darstellung der Arma Christi wird häufig als eine „Verschränkung von mimetischer und ornamentaler Bildordnung“ umgesetzt (S. 20). Weitere visuelle Strategien der Bildkonstruktionen sind die Inszenierung von Enthüllen und Öffnen (S. 21), unmittelbare Nähe (S. 22) aber auch die Darstellung der Wunde. Die Interpretation der Wunde – allen voran der Seitenwunde Christi – „als Quelle, Durchgang und Schwelle, (…) als Übergang zwischen der tödlichen Verletzung und der prototypischen Überwindung des Todes, (als) Nahtstelle zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren “ (S. 23) macht sie für Künstler und Betende gleichermaßen zu einem Kulminationspunkt christlichen Glaubens und Imagination.

Derart vorgebildet, konnten sich Künstler_innen der Moderne dieses Bildvokabulars bedienen, „um Erfahrungen an der Grenze menschlicher Existenz zu zeigen, deren Intensität nach einer gesteigerten Imagination jenseits des Realismus verlangen“ (S. 24). Hoeps behauptet dabei nicht einfach eine Kontinuität, sondern verweist auf Brüche, Umdeutungen und Verlagerungen, die in diesem Projekt hinterfragt werden sollen. Oder anders gefragt: Was lässt sich über Werke des Spätmittelalters und der Gegenwart übereinander aussagen, wenn sie sich mit Wunden auseinandersetzen? Doch dazu später!

Erich Franz beschäftigt sich in seinem Beitrag „Was nicht anschaubar ist. Die Wunde in der Kunst der Moderne“ mit einer Reihe von ausschließlich männlichen Künstlern, die das Grauen als Abwesendes, als Fragmentiertes, als zeichenhafte Andeutung (S. 30) umzusetzen versuchen. Aus der schnellen Abfolge von Künstlern und Werken seit Gustave Courbets „Der Verletzte“ (1854, Musée d`Orsay, Paris), über Wilhelm Trübner, Lovis Corinth, Ernst Ludwig Kirchner, George Grosz, Max Ernst, Wols, Jean Fautrier, Lucio Fontana, Arnulf Rainer und Joseph Beuys erweisen sich m.E. besonders Wols und Fontana für die Überlegung als fruchtbar. Informelle Liniengeschwulste von Wols wurden seit 1959 von Werner Haftmann als Wunden gedeutet und teils biografisch, teils weltanschaulich verankert (S. 36). Es ist vielleicht kein Zufall, dass ein Jahr zuvor, 1958, Lucio Fontana damit begonnen hatte, mit einem Messer Leinwände zu traktieren. Es wäre daher wünschenswert gewesen, über dieses historische Verhältnis zweier unterschiedlicher Vorgangsweisen, deren formale Analogie und Ähnlichkeit mit der Seitenwunde Christi zu ähnlichen Deutungen führte, mehr zu erfahren. Franz wurde im Rahmen dieses Katalogprojekts jedoch die Aufgabe eines Überblicks anvertraut, was dieser enzyklopädisch löste.

Im Gegensatz dazu wurde der Mediävist und Theologe Thomas Lentes, ein ausgewiesener und im Katalog mit seiner Promotionsschrift „Gebetbuch und Gebärde“ (1996)1 oft zitierter Experte für spätmittelalterliche Frömmigkeitspraxen, eingeladen, über die Wunden Christi im späten Mittelalter zu schreiben. Lentes legt seinen Überlegungen den „Schlüsseltext der Passionsbetrachtung“, die „Vita Christi“ des Karthäusers Ludolf von Sachsen († 1377/78) zugrunde, in der die Wunden enzyklopädisch aufgezählt werden (S. 43). Ludolfs Deutung der Wunden machten aus den „Zeichen von Zerstörung und Deformation des Körpers“ das Gegenteil. An ihnen zeige sich „die Schönheit und Herrlichkeit Christi“ (S. 44). Lentes sieht die „zunehmende Verwundung des Christus-Körpers“ in einer „Obsession für Blut und Wunden Christi“ im Spätmittelalter kulminieren (S. 45). Dass die Seitenwunde als Geburtsort der Kirche und die Messe als Wiederholung des Kreuzestodes interpretiert wurden, machte Darstellungen vom Gekreuzigten mit Blut ausströmender Seitenwunde darstellungswürdig: Erstmals lässt sich diese Analogie im Te igitur im Sakramentar von Gellone Ende des 8. Jahrhunderts nachweisen, wo aus der Seitenwunde des Gekreuzigten sich ein Schwall Blut ergießt. Der Höhepunkt der individuellen Frömmigkeit in Form der Memoria passionis wurde ab dem 12. Jahrhundert erreicht und sollte bis zur Reformation vorherrschen (S. 47-48).

Auch Lentes betont in der Folge die Doppelfunktion der Seitenwunde als Austritt von Blut und Wasser wie Tür zum Heil, Eingang zum Herzen Jesu und zum wahren Leben (S. 51-52). Das Zeugnis für eine Schandtat wurde zu einem Zeichen für die Errettung des Menschen (S. 57). Spätmittelalterliche Druckgrafiken wie „Das Jesuskind im Herzen“ (1467, Kupferstichkabinett, Berlin) von Meister E.S. lassen sich in diesem Sinne interpretieren.

Unter dem Titel „Pittura Apera. Das Paradigma der Wunde in der Kunst der Moderne“ wendet sich Richard Hoppe-Sailer dem Konzept der Wunde in der modernen Kunst zu. Hoppe-Sailer versteht unter Moderne „selbstreflexivere Modelle“ aus dem 20. Jahrhundert, wobei Wunde und Verletzung zunehmend von ihrer inhaltlichen Gebundenheit befreit und so zu „Modi der Befragung künstlerischer Verfahren“ (S. 63) werden konnten. Eine der Folgen wäre, so der Autor, dass Wunden in der Moderne in „sehr unterschiedlichem Gewand“ auftreten können. Jean Fautrier und Wols zerstören die Mimesis, um Spuren eines spezifischen künstlerischen Prozesses – das Ritzen, das Übermalen, das informelle Liniengeschwulst – als Bedeutungsträger zu etablieren. Arnulf Rainer ist für Hoppe-Sailer ein Maler, der zwar den traditionellen Werkbegriff nicht infrage stellt, jedoch eine „ästhetische Verletzung des Malgrundes, eine Beschmutzung und Besudelung“ nutzt. Die theologische Bedeutung von Wunde ist hier nur noch eine Folie.

Obwohl Hoppe-Sailer der Kontextualisierung der Werke einen hohen Stellenwert beimisst, argumentiert er mit Roland Barthes` „Der Tod des Autors“ (1967), um den Interpret_innen Deutungshoheit zu garantieren. Dass diese Lesart der modernen Werke zwar eine neue Sinnschicht freilegen kann, dabei allerdings andere Fragestellungen in den Hintergrund treten und auch die Künstleräußerungen und Kontexte nur eine untergeordnete Rolle spielen, wird v.a. bei der Lektüre der von Student_innen verfassten Objekttexte deutlich. Hierin zeigt sich vielleicht eine der Schwächen der neuen Fragestellung, denn mit dem Gewinn (oder Konstruktion) einer christlich-basierten Deutung, lässt sich in den besten Fällen ein zusätzlicher Aspekt gewinnen.
Einen Begriff der Passion, die Wunde, so zu weiten, so dass dieser auch in einem humanistischen Sinne gedeutet und für selbstreflexive Kunst aus dem 20. Jahrhundert verwendet werden kann, ist ein gewandter Schachzug. Ob Hoppe-Sailer und seine Kollegen damit wirklich die christliche Ikonografie und Ikonologie für den Diskurs über zeitgenössische Kunst neu gewinnen wird können, mag uns erst die Zukunft verraten.

Deine Wunden. Passionsimagintionen: Ausstellungskatalog & Inhaltsverzeichnis

Reinhard Hoeps: Bilder der Wunde, S. 13-29.
Erich Franz: Was nicht anschaubar ist. Die Wunde in der Kunst der Moderne, S. 30-42.
Thomas Lentes: Der Blick auf den Durchbohrten. Die Wunden Christi im späten Mittelalter, S. 43-61.
Richard Hoppe-Sailer: Pittura Apera. Das Paradigma der Wunde in der Kunst der Moderne, S. 62-70.

280 Seiten; 18,50 × 25,00 cm
89 farbige und 3 s/w Abbildungen
ISBN 978-3-86678-993-7
Kerber Verlag

  1. Thomas Lentes ist seit Dezember 1999 Leiter der Forschungsgruppe „KultBild. Kulturgeschichte und Theologie des Bildes im Mittelalter“ an der Universität Münster / Westfalen (siehe: KultBild. Kulturgeschichte und Theologie des Bildes im Mittelalter, letzter Aufruf 31.5.2014).
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.