Erwin Wurms Ausstellung im Kunsthaus Graz trägt den etwas komplizierten Titel „Fußballgroßer Tonklumpen auf hellblauem Autodach“. Darunter darf man sich eine amüsant-reflexive Weiterführung Wurm’scher Signature Works und referenzgesättigter, aber auch selbstironischer Auseinandersetzung mit den Werken berühmter Vorgänger vorstellen. Das Werk „Ohne Titel“ (2016), welches das Kunsthaus Graz als Sujet der Ausstellung gewählt hat, verbindet die „Liegende Figur“ von Friz Wotruba aus dem Jahr 1953 mit einer Wurstsemmel. Des Österreichers liebstes Mittagsmahl desavouiert eine ikonische Arbeit eines Nachkriegsheroen der österreichischen Kunst? Eine ironische Geste eines Kunstverächters oder gar Kunstignoranten? Eine Persiflage auf Edouard Manets „Frühstück im Grünen“? Eine „Entsockelung“ des auratisierten Objekts??
Österreich | Graz: Kunsthaus Graz
24.3.–20.8.2017
Einmal mehr spielt die außergewöhnliche Architektur und die organische Kurvatur des Space01 eine wichtige Rolle für das Ausstellungskonzept. Erwin Wurm, der in Bruck an der Mur gebürtige Steirer und in Graz sozialisierte Künstler, entwickelte für das Kunsthaus Graz neue Arbeiten, in denen er mit Hinterlist und Hintersinn „Wortskulpturen“ erschallen lässt. Waren Skulpturen in seinen inzwischen legendären One Minute Sculptures zum Leben erwacht, so führt er nun den Pygmalion-Effekt in Richtung Performance stringent weiter. Wurm stellt Akteure auf Sockel, die das Publikum mit Wortbildern beschallen. Dahinter steht die Frage nach der Aktualität der One Minute Sculpture, mit der vor ca. 20 Jahren Wurm seine Weltkarriere begründete, und die ihn zu einem der populärsten Gegenwartskünstler der Welt machte.
„Mein Arbeiten haben mit dem Neuen Realismus zu tun. Mit den Skulpturen und Arbeiten von Kollegen stelle ich zur Diskussion, dass Alles zum Kunstwerk werden kann, nicht nur Alltagsmaterialien, sondern auch die historischen Werke aus der Sammlung. Ich bin mit der Ausstellung in Graz sehr glücklich, weil sie sehr experimentell ist, und mir Neues zu kreieren Spaß macht. Es gibt heuer international viele Ausstellungen, die unterschiedliche Aspekte meiner Arbeit zeigen. In Graz habe ich mich entschieden, das Konzept der One Minute Sculpture weiterzuentwickeln. Im 21er Haus wird eine spezielle Werkserie im Zentrum stehen. Der Kurator der Ausstellung im Leopold Museum hat mich zu einem Dialog mit Carl Spitzweg eingeladen. Hier werden bestimmte Parallelen und Korrelationen zwischen meinem Werk und jenem des deutschen Biedermeiermalers hergestellt. Anfangs war ich diesem Konzept sehr kritisch gegenüber eingestellt, dann wurde mir aber bewusst, wie politisch subversiv dieser Münchner Künstler arbeitete, was mich wiederum interessierte. In Wien zeige ich aber ausschließlich Arbeiten¸ die mindestens zwölf Jahre alt sind.“ (Erwin Wurm, 23.3.2017)
Mit den One Minute Sculptures reagierte Erwin Wurm auf eine alte kunstphilosophische Frage, die kurz vor 1800 Lessing und Goethe konfliktreich aufeinandertreffen ließ. Kann der mediale Unterschied zwischen Literatur (Musik) und bildender Kunst durch den Dualismus von Zeitkunst und Raumkunst Lessing’scher Prägung beschrieben werden? Raumkunst, Bildhauerei visualisiere die Zeit, so Lessing. Bereits Goethe widersprach in „Dichtung und Wahrheit“ diesem Konzept, indem er Zeitlichkeit (Konsekutivität) und Bildlichkeit (Simultaneität) zusammenführte. Erwin Wurms Leistung bestand 1997 darin, die Grenzen der Bildhauerei mit Hilfe des Performativen zu erweitern. Die Idee ist so einfach wie komplex: Erwin Wurm zeichnet Handlungsanweisungen, markiert Orte in Ausstellungen und animiert Besucherinnen und Besucher, sich der körperlichen Erfahrung der teils skurrilen, teils humorvollen, teils körperlich herausfordernden Posen auszusetzen und für einen kurzen Moment zur Skulptur zu werden. Die frühe One Minute Sculpture „Ohne Titel“ (1995) markierte den Beginn der Arbeit Wurms mit der zeitbasierten Skulptur, die sich als Erweiterung des Skulpturenbegriffs manifestiert. Die erste Handlungsanweisung, der sich das Publikum in Graz konfrontiert sieht, lautet:
„MIT BEIDEN BEINEN IN EINEN ÄRMEL EINES PULLOVERS SCHLÜPFEN. OBERKÖRPER NACH VORNE BEUGEN UND DEN REST DES PULLIS ÜBER DEN KOPF ZIEHEN. EINE MINUTE STEHEN BLEIBEN.“1
Was als plakatartiges Bild begann, führte in die „Verkünstlichung“ des Publikums. In dieser Setzung stecken mannigfaltige Fragestellungen nach körperlicher Präsenz, Zeit und Raum, ein introspektiver Moment wie ein exhibitionistischer, eine Körperhaltung und eine Geistesbewegung, eine Grenzauflösung zwischen Kunst und Leben und so fort. Doch wie lässt sich ein so auf den ersten Blick einfaches wie auf dem zweiten Blick hintergründiges Projekt weiterentwickeln?
„Als ich zum ersten Mal bemerkte, dass die Leute über meine Kunst lachen, war ich schockiert. Ich ärgerte mich und dachte: „Was ist denn hier los? Da stimmt etwas nicht! Ich meine es doch ernst!“ (Erwin Wurm über die Reaktion des Publikums auf seine One Minute Sculptures)
Bislang stellte Erwin Wurm dem Publikum Platz und Requisiten zur Verfügung. „Bildhauerei“, so wurde der Künstler nicht müde zu betonen, „ist Arbeit am Volumen“2. Die Genese der One Minute Scultpures aus Pullover- und Gewandarbeiten bzw. Videos vestimentärer und körperlicher Metamorphosen lässt auf die zentrale Fragestellung Wurm’scher Objekte blicken. Es geht ihm mitnichten um den kurzen, manchmal humoristischen Moment einer Verschiebung vom Alltäglichen in eine exponierte Position, sondern um klassische Fragen bildhauerischen Arbeitens. Volumen entsteht aber nicht nur durch Schichten und Legen von Körpern, sondern auch in Form von Klang. Waren die One Minute Sculptures Wurms bislang gedankenschwer aber sprachlos, so transformiert der österreichische Bildhauer seine Erfindung in „Lebende Bilder“. „Fußballgroßer Tonklumpen auf hellblauem Autodach“ oder „Über ein Bett gehen und dabei einsinken wie im Schnee und eine Spur hinterlassen“ verkünden drei Performer dem Publikum.
Ein Konzert zweier Stimmen anstelle einer Selbstkunstwerdung ist in Graz das Ziel des Künstlers. Rhythmus, Tonhöhe, Veränderung der Stimmen während der Ausstellungsdauer erinnern entfernt an die langen Performances von Ragnar Kjartansson (→ Ragnar Kjartansson "The Visitors" (2012)). Charakteristisch für Wurms Werk ist dessen ironisch-humorvoller Umgang mit Sprachbildern. Denn welches Bild entsteht in den Köpfen, wenn sie „Fußballgroßer Tonklumpen auf hellblauem Autodach“ hören? Ein Subjekt, dessen Größe und Materialität nachvollziehbar eingegrenzt wird, trifft auf eine bildhafte Ortsangabe. Soll als Verb „liegt“ ergänzt werden, oder „fällt“ oder gar „explodiert“? In der semantischen Verkürzung erinnert der unvollständige Satz an einen Zeitungstitel. Kenner des Werks spüren wohl eine Reminiszenz auf die Vorliebe Wurms für den Fetisch Auto. Wurm aktiviert das Publikum und seine Vorstellungskraft, um „Wahrnehmung als körperliche Aktivität“ erfahrbar zu machen, so Günther Holler-Schuster, der die Ausstellung in Graz kuratierte.
Der Umgang Erwin Wurms mit Werken anderer Künstler erscheint in Graz ebenso bemerkenswert. Eine weich schwingende „Wand“ – eine Referenz auf Sol LeWitts (1928–2007) „Wall“ aus dem Jahr 2004 – teilt wie ein faltbarer Paravent den Ausstellungsraum optisch, wenn auch nicht akustisch. Die Wand ist eigentlich ein rosafarbener Pullover mit grüner Bordüre, der seine Fassung verloren hat. Mini-Ärmel und runde Löcher lassen den Ursprung des gestrickten Textils als Pullover erkennen. Aus einem Loch wird ein Bullauge, das die Barriere durchbricht. Durchsehen, hinter die Wand lugen, was verbirgt sie?
Die „Liegende Figur“3 von Fritz Wotruba (1907–1975) wird zum Sockel für eine Wurstsemmel. „Figur“4, eine kleinfigurige Plastik von Josef Pillhofer (1921–2010), mutiert überdimensional vergrößert zur „Kletterskulptur“ (2016): Kunstwerke als Versatzstücke, die nicht im Sinne einer Spolie, sondern als Material, von dem aus Wurm in spielerischem Umgang weiterdenkt. Das Zusammenbringen höchst disparater Elemente erinnert nicht von Ungefähr an die Theorie des Surrealismus. Wurm begreift Meilensteine für die Geschichte der Bildhauerei – von Wotrubas kubischem Menschenbild bis Robert Rauschenbergs Terminus „Combine“5 (→ Skulptur seit 1946) – transparent als seinen Humus, verzweifelt nicht an deren kunsthistorischem Gewicht, sondern integriert sie verwandelnd mit einem guten Schuss Ironie und Kannibalismus ins Eigene. Die Skulpturen erhalten einen neuen „Sinn“, indem Wurm sie von auratisierten und gut bewachten Museumsexponaten zu Gebrauchsgegenständen umfunktioniert. Im Fall der „Kletterskulptur“ verhindert der sichtbare Einsatz von Styropor jedoch die faktische Verwendung. Das Objekt, das man als künstlerisch gestalteten Kletterturm betrachten könnte, transformiert sich flugs in ein Kunstwerk – einen „echten Wurm“.
Dass Erwin Wurm Selbstironie nicht fernliegt, ist hinlänglich bekannt. Sein „Selbstporträt als Essiggurkerl“ zeigt ihn immerhin in 36facher Variation als wichtige Zutat der Wurstsemmel. In Graz zeigt Wurm sein Alter-Ego „Der Gurk“ in einer gigantischen Fassung, immerhin 4 Meter 15 Zentimeter hoch, der Robert Rauschenbergs „Door“ (1971) wie einen Rucksack geschultert trägt. Das aus gefundenen Kartonschachteln komponierte Objekt des amerikanischen Künstlers Rauschenberg (1925–2008) verwandelt sich in ein Gepäckstück, an dem der Künstler (schwer) zu tragen hat?
„Man kann alles nach seiner skulpturalen Qualität befragen. Ob was dabei herauskommt, ist eine andere Frage. Gibt es eine Grenze von Skulpturalität, und wenn ja, wo liegt sie? Darüber denke ich seit Jahrzehnten nach. Kann der Begriff der Lächerlichkeit eine Skulptur sein? Ich versuche es immer wieder. Manchmal klappt es, manchmal nicht.“ (Erwin Wurm)
Kuratiert von Günther Holler-Schuster
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