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Skulptur seit 1946 Revolutionen im bildhauerischen Denken

Ausstellung „Sculpture on the Move 1946-2016“, Kunstmuseum Basel | Neubau, Erdgeschoss, Felix Gonzalez-Torres, "Untitled" (USA Today), 1990, The Museum of Modern Art, New York, Geschenk der Dannheisser Foundation, Jeff Koons, Rabbit, 1986, Museum of Contemporary Art Chicago, Teilschenkung von Stefan T. Edlis und H. Gael Neeson, 2000.21; Charles Ray, Male Mannequin, 1990, The Broad Art Foundation, Robert Gober, Playpen, 1986, Daros Collection, Schweiz, Katharina Fritsch, Warengestell mit Gehirnen, 1989/1997, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel 1997, Kunstmuseum Basel, Foto: Gina Folly

Ausstellung „Sculpture on the Move 1946-2016“, Kunstmuseum Basel | Neubau, Erdgeschoss, Felix Gonzalez-Torres, "Untitled" (USA Today), 1990, The Museum of Modern Art, New York, Geschenk der Dannheisser Foundation, Jeff Koons, Rabbit, 1986, Museum of Contemporary Art Chicago, Teilschenkung von Stefan T. Edlis und H. Gael Neeson, 2000.21; Charles Ray, Male Mannequin, 1990, The Broad Art Foundation, Robert Gober, Playpen, 1986, Daros Collection, Schweiz, Katharina Fritsch, Warengestell mit Gehirnen, 1989/1997, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel 1997, Kunstmuseum Basel, Foto: Gina Folly.

Die Skulptur, so wird oft behauptet,1 hat wie kaum ein anderes Medium während des 20. Jahrhunderts grundlegende Veränderungen durchgemacht. Das Kunstmuseum Basel widmet sich anlässlich der Eröffnung des Erweiterungsbaues von Christ & Gantenbein der Bildhauerei vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute. Kurator Bernhard Mendes Bürgi setzte sich zum Ziel, die höchst dynamischen Entwicklungen in dichten Gegenüberstellungen ohne stringente Chronologie aufzeigen.

Kurz gesagt: Bestimmte bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts die menschliche Figur die Skulptur nahezu gänzlich, geriet noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs die klassische Vorstellung und Form von Skulptur in Bewegung. In den 1910er Jahren gingen Kubisten mit der Collage, Alexander Archipenko in der Skulptur-Malerei durch die Verbindung von Farbe und Relief sowie schlussendlich Wladimir Tatlin in den abstrakten Konterreliefs völlig neue Wege. Nicht nur thematisch, auch die Verwendung unterschiedlichster Materialien führte weg von der traditionellen Skulptur aus Holz, Stein oder Metall hin zu Assemblagen, zur Objekt- und Installationskunst.

Variationsreiche Abstraktionen: Brânçusi, Giacometti, Calder

Mit dem aus Rumänien stammenden Constantin Brânçusi setzt die Ausstellung in Basel mit einem Großmeister der Pariser Avantgarde ein. Seine geometrisierten Körperbilder inspirierten Hans Arp zur Feststellung, dass „Mademoiselle Pogany die feenhafte Großmutter der abstrakten Skulptur“2 wäre. Gemeinsam mit Alberto Giacometti repräsentiert Brânçusi nicht nur die modernistische Vorkriegskunst, sondern in ihren Werken auch die Abstraktion vom Naturvorbild. Giacometti hatte sich während des Zweiten Weltkriegs erneut dem Sujet Mensch zugewandt und damit den Bruch mit den Pariser Surrealisten in Kauf genommen. Sein „L'homme qui chavire“ (1950) löst sich wie beispielsweise in den Proportionen gänzlich von traditionellen Formlösungen und sucht Beobachtungen zu Fragilität, Bewegung und zum beständigen Kampf gegen die Schwerkraft in eine Skulptur überzuführen.

Abstraktion (im Sinne der Konkreten Kunst), Schwerelosigkeit und Bewegung sind die drei wichtigen Themen von Alexander Calder, dessen Mobile „Five Branches with 1000 Leaves“ (um 1946) das älteste Ausstellungstück ist. In der Nachfolge von Calders ab den frühen 1930er Jahren entstandenen Mobiles löste sich die Avantgarde der Bildhauerei einmal mehr vom Abbild der sichtbaren Wirklichkeit – aber auch von der geschlossenen Form. Zusätzliche Dynamik erhielt dieser Prozess durch die Diffamierung der Klassischen Moderne, der propagandistischen Nutzung der figurativen Skulptur im Faschismus aber auch im Sozialistischen Realismus.

Skulpturen der Nachkriegszeit: Max Bill und David Smith

Die Zweiteilung der Welt nach 1945 machte auch vor der Kunst nicht Halt. Bildhauer wie Max Bill und David Smith repräsentieren in der Basler Schau die westliche Nachkriegsabstraktion: Bills „Unendliche Schleife“ (1974) steht für die Zürcher Schule der Konkreten Kunst, und Smiths „Australia“ deutet die Nähe von Objektkunst und Malerei im Abstrakten Expressionismus Amerikas an. Smith ist der erste Bildhauer, der sich der Technik des Zusammenschweißens bediente. Beide Künstler wandten sich der Idee eines „In-die-Luft-Zeichnens“ zu.3 War die Skulptur jahrhundertelang als Kunst der massiven Körper definiert worden, so erlangte sie nun die Leichtigkeit einer Linie. Gleichzeitig sind die Werke offen für jedwede Interpretation – oder, wie es Umberto Eco 1962 für die Informelle Kunst so unvergleichlich ausdruckte – die Betrachter_innen werden zum Teil des Kunstwerks. Zufall und Unbestimmtheit sind werkkonstituierende Phänomene.

Skulpturale Revolutionen der 1960er Jahre: Oldenburg, Segal, Judd und Andre

Erst Pop Art Künstler wie Claes Oldenburg und George Segal näherten sich wieder der sichtbaren Welt. Oldenburgs legendärer „Shop“ beinhaltete Dinge des täglichen Gebrauchs: einen Ofen, Kochgeschirr und Essen4 in Form der Assemblage, vereint unter gleichermaßen realistischen wie absurd verspielten Vorzeichen. Die „Bildhauerei“ der Sechziger Jahre bietet ein heterogenes Bild und reicht von hyperrealistischen, sozialkritischen Skulpturen von Duane Hanson, Dieter Roths verwesender „Wurstwolke“ (1969), Joseph Beuys „Sozialer Plastik“, der blau-roten Wippe von Ellsworth Kelly, den Videos von Bruce Nauman bis zu dem singenden Künstlerpaar Gilbert & George. Den Gegenpol dazu bildeten die spezifischen Objekte von Donald Judd, Richard Serra und Carl Andre. Als Theoretiker und Bildhauer trat Judd für Buchstäblichkeit ein und gegen eine „repräsentationistische Unterordnung“ der Skulptur auf. Folglich baute er seine „Spezifischen Objekte“ aus industriellen Materialien wie hochglanzpoliertem Stahl. Diese Kuben ähneln frappant einstigen Podesten, während Carl Andre seinen Bodenplatten jegliche Körperhaftigkeit nahm und mit ihnen Orte auszeichnete.5

Rückbesinnung auf die figurative Tradition und darüber hinaus: Gonzalez-Torres, Ray, Cattelan

Im Laufe der 1980er Jahre beschäftigten sich vermehrt Künstler mit der menschlichen Figur, deren Darstellung resp. Verwendung sich auf die Analyse herrschender Gesellschaftsordnungen bezogen. In der Baseler Ausstellung trifft „Untitled (USA today)“ (1990) von Felix Gonzalez-Torres unmittelbar auf das „Male Mannequin“ (1990) von Charles Ray. 136 Kilogramm in blau-rot-weißem Zellophanpapier eingewickelte Bonbons in einer Ecke stehen für das Idealgewicht der Vereinigten Staaten. Im Laufe der Ausstellung dürfen sie von den Besuchern mitgenommen und verzehrt werden, womit Gonzales-Torres eine wirkmächtige Metapher für Veränderung erschuf.6

Ökonomie und Körper bilden auch den Rahmen für Charles Ray‘s sexualisierte Schaufensterpuppe. Indem er ihr einen Abguss seines eigenen Geschlechts anklebte, schuf er ein hybrides Wesen zwischen Normierung und Individualität. Während die Enfant Terrible der Kunstszene, Martin Kippenberger, selbst in die Ecke stellt, verkündet Maurizio Cattelan‘s verkleinertes Selbstporträt in Beuys‘schem Filzanzug „La rivoluzione siamo noi“ (2000). Wenn er doch bei dieser angekündigten Revolution nicht so unheroisch am Kleiderständer hängen würde…

Sculpture on the Move im Katalog

Während Titel von Ausstellung und Katalog auf das „offene Kunstwerk“ von Umberto Eco anzuspielen scheinen – Kunstwerke sind immer in Bewegung, weil sie strenggenommen niemals fertig interpretiert werden7 – und die Werke in der Ausstellung in einer ungefähren chronologischen „Ordnung“ präsentiert werden, sind die Katalogbeiträge von Malika Maskarinec (1940er/50er Jahre), Simon Baier (1960er/70er Jahre), Markus Klammer (1980er) und Andrei Pop (1990er bis heute) der Entwicklung der Skulptur gewidmet. Die Schau versammelt Sammlungsexponate mit Leihgaben zu „erhellenden Widersprüchen“ ohne „thesenhafte Programmatik“, so Kurator Bernhard Mendes Bürgi (S. 9.) Die Geschichte der Skulptur seit der Nachkriegszeit liest sich als eine Erzählung der Öffnung des Mediums (Materialien, Inhalt, Konzepte wie Ablehnung des Skulpturenbegriffs durch Donald Judd), bevor in den 1980er Jahren erneut die menschliche Figur Einzug hielt, und partizipative Strategien, Ironie und Körperpolitiken zum Thema der Skulptur wurden. Ein Schnellkurs zur Geschichte der Skulptur seit der Nachkriegszeit – äußerst gelungen!

Ausgestellte Künstlerinnen und Künstler

Constantin Brancusi, Alberto Giacometti, Hans Arp, Alexander Calder, Henry Moore, Louise Bourgeois, Max Bill, Eduardo Chillida, David Smith, Pablo Picasso, Jean Tinguely, Allan Kaprow, Piero Manzoni, Dieter Roth, Andy Warhol, Claes Oldenburg, Ellsworth Kelly, George Segal, John Chamberlain, Paul Thek, Duane Hanson, Carl Andre, Donald Judd, Joseph Beuys, Mario Merz, Gilbert & George, Michelangelo Pistoletto, Richard Long, Richard Serra, Eva Hesse, Bruce Nauman, Walter De Maria, Robert Smithson, Gordon Matta-Clark, Georg Baselitz, Roman Signer, Jeff Koons, Charles Ray, Robert Gober, Mike Kelley, Martin Kippenberger (→ Martin Kippenberger: XYZ), Felix Gonzalez-Torres, Katharina Fritsch, Peter Fischli / David Weiss, Franz West, Isa Genzken, Damien Hirst, Gabriel Orozco, Matthew Barney, Absalon, Rachel Whiteread, Sarah Lucas, Maurizio Cattelan, Urs Fischer, Monika Sosnowska, Christoph Büchel, Danh Vo, Oscar Tuazon

Skulptur seit 1946: Ausstellungskatalog

Mit Beiträgen von Simon Baier, Bernhard Mendes Bürgi, Oliver Caraco, Johanna Függer-Vagts, Markus Klammer, Malika Maskarinec, Olga Osadtschy, Andrei Pop, Barbara Reisinger und Pathmini Ukwattage
167 Seiten, ca. 140 Abb., 20,7 x 27 cm
ISBN 978-3-7757-4070-8 (D)
ISBN 978-3-7757-4071-5 (E)
HATJE CANTZ

Skulptur seit 1946: Bilder

  • David Smith, Australia, 1951, Bemalter Stahl auf Schlackensockel, 202 x 274 x 41 cm, Sockel: 44.5 x 42.5 x 38.7 cm, The Museum of Modern Art, New York. Geschenk von William Rubin © 2016. The Museum of Modern Art, New York / Scala, Florence.
  • Donald Judd, Untitled, 1969, Ankauf 1975, Kunstmuseum Basel, Foto: Stefano Graziani, Kunstmuseum Basel, Foto: Stefano Graziani.
  • Jeff Koons, Rabbit, 1986, Edelstahl, 104.1 x 48.3 x 30.5 cm, Museum of Contemporary Art Chicago, Partial Gift of Stefan T. Edlis and H. Gael Neeson, 2000.21, © Museum of Contemporary Art Chicago, Foto: Nathan Keay
  • Ausstellung „Sculpture on the Move 1946-2016“, Kunstmuseum Basel | Neubau, Erdgeschoss, Felix Gonzalez-Torres, "Untitled" (USA Today), 1990, The Museum of Modern Art, New York, Geschenk der Dannheisser Foundation, Jeff Koons, Rabbit, 1986, Museum of Contemporary Art Chicago, Teilschenkung von Stefan T. Edlis und H. Gael Neeson, 2000.21; Charles Ray, Male Mannequin, 1990, The Broad Art Foundation, Robert Gober, Playpen, 1986, Daros Collection, Schweiz, Katharina Fritsch, Warengestell mit Gehirnen, 1989/1997, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel 1997, Kunstmuseum Basel, Foto: Gina Folly.
  • Ellsworth Kelly, Blue Red Rocker, 1963, Bemaltes Aluminium, 185 x 101 x 155 cm, Collection Stedelijk Museum Amsterdam © Estate of the artist, Collection Stedelijk Museum Amsterdam© Ellsworth Kelly.
  1. Siehe u. a. Peter Weibel, Die Skulptur im 20. Jahrhundert. Zwischen Abstraktion, Gegenstand und Handlung, in: Garten der Kunst. Österreichischer Skulpturenpark, Ostfildern 2006, S. 13–26, hier S. 13.
  2. Zitiert nach: Rudolf Suter, Hans Arp: Weltbild und Kunstauffassung im Spätwerk, Bern 2006, S. 457.
  3. Malika Maskarinec, Körper und Grund, in: Kunstmuseum Basel, Bernhard Mendes Bürgi (Hg.), Sculpture on the Move 1946–2016 (Ausst.-Kat. Kunstmuseum Basel, 19.4.-18.9.2016), Ostfildern 2016, S. 12–21, hier S. 19.
  4. Die Objekte bestehen aus in Gips getränktem Musselin auf Drahtgestell und Lackfarbe.
  5. Simon Baier, Ohne Zunge sprechen, in: Kunstmuseum Basel, Bernhard Mendes Bürgi 2016 (wie Anm. 3), S. 42–49, hier S. 43.
  6. Eine weitere Arbeit aus dieser Serie ist „Untiteled (Ross)“ (1991), in der 87,5 Kilogramm Bonbons für den Partner von Gonzalez-Torres stehen. Dieser war 1991 an AIDS verstorben. „Untiteled (Ross)“ stellt symbolisch das Schwinden des Körpergewichts dar, das allerdings nicht ganz verloren ist, sondern in die Körper der Besucher übergeht. Leben, Tod und Weiterleben - die Bonbons können je nach Belieben der Kurator nachgefüllt werden oder nicht.
  7. Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, 1962, S. 42.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.