Erwin Wurm (*1954) zählt zu den erfolgreichsten und bekanntesten internationalen Gegenwartskünstler:innen. Erstmals wird aus Anlass seines 70. Geburtstags in der ALBERTINA MODERN eine umfassende Retrospektive zu seinem vielseitigen Œuvre in allen künstlerischen Medien zu sehen sein.
Österreich | Wien:
Albertina modern
13.9.2024 – 23.2.2025
Die Ausstellung zum 70. Geburtstag von Erwin Wurm vereint Hauptwerke aller Stationen seines künstlerischen Schaffens und spannt den Bogen von den frühen Holz- und Staubskulpturen der 1980er Jahre bis zu neuesten Arbeiten. Dabei werden neben den Hauptlinien seines Schaffens, also neben seinen markanten Skulpturen, auch der Öffentlichkeit weniger bekannte, aber ebenso bedeutende Werke und Werkgruppen vorgestellt. Daraus entsteht ein dichtes Netzwerk an künstlerischen Statements in Form von Skulpturen, Zeichnungen, Arbeitsanweisungen und -dokumentationen, Videos, Objekten, Fotografien oder Gemälden. Wie der Künstler selbst hervorhebt, geht es ihm um „das Paradoxe und das Absurde“ der Welt, des Lebens, des Alltags.
Zu den frühesten Werken in der Albertina Modern gehören bemalte Blechskulpturen und Kugeln aus Ölfarbe: Zwei stark abstrahierte, menschliche Figuren aus gefundenen, armen Materialien wie Holz und Blech und bunte Ölfarben-Bälle mit etwa 35 cm Durchmesser führen in Wurms skulpturales Denken ein. Am Eingang offenbart ein bekanntes Zitat des Künstlers dessen damalige Motivation:
„Ich wollte Malerei studieren, aber durch Zufall wurde ich Bildhauer. So begann ich darüber nachzudenken, was Bildhauerei heute sein könnte. Das brachte mich auf die Suche nach der Leere, der Virtualität, dem Volumen, den grundlegenden Eigenschaften der Skulptur.“1
Statt Ölfarbe auf einen mehr oder weniger flachen Bildträger aufzutragen, bemalte Wurm dreidimensionale Objekte oder formte durch unzählige Schichtungen Ölfarben kugelig. Den Malerei-Studenten hatte es in die Bildhauereiklasse verschlagen. Dort stellte er sich - u.a. in kritischer Auseinandersetzung mit der Sozialen Skulptur von Joseph Beuys - die Frage nach den Qualitäten der Skulptur generell. Traditionell - also bis Rodin in etwa - kann man das gerne mit Volumen, Masse, Gewicht, Größe, Form und Raum umreißen; Materialität, Farbigkeit und Aussage seien hier bewusst außen vor gelassen. Doch waren diese Kriterien für das Schaffen von Skulpturen in den 1980ern noch anwendbar? Denn neben Beuys dürften den jungen Wurm auch die internationalen Fluxus-Künstler:innen bekannt gewesen sein, darunter Yoko Ono mit ihren poetischen „INSTRUCTIONS FOR PAINTINGS“ (1960–1964) oder Hans Haackes „Kondensationswürfel“ (1963–1965), dem rasch eine Analyse und Reflexion sozio-politischer Strukturen folgte.
Erwin Wurm misst die Temperatur in einem Glaskubus, fixiert Staub unter Glassturz - ACHTUNG! Er ist nicht leer, sondern aus der Serie „Staubskulpturen“ - und verkauft Zertifikate samt Installationsanleitung ebendieser Staubskulpturen. Ende der 1980er Jahre entwickelte Wurm diese Setzungen weiter, indem er auf Kleidung als Material zurückgriff. Gewand und Körper(lichkeit) erlangten einen höheren Stellenwert, womit auch der Mensch zum Thema Wurms wurde, und er gleichzeitig (noch) auf die Darstellung des Menschen verzichten konnte. Hosen werden zu hochaufragenden Röhren, Pullover vom Sockel gleichsam verschluckt bilden einen Krater oder liegen fein säuberlich gefaltet in einer Schachtel. Der abstrahierte Mensch weicht der Ungegenständlichkeit einer Dingwelt mit menschlicher Note. Hatten die bemalten Skulpturen noch einen klärenden Titel, so verzichtet der Künstler nun gänzlich darauf.
In jüngeren Arbeiten spielt Wurm das Thema variantenreich durch. Die Serie "Neuroses" von 2023 zwingt Pullover über Sessel und Lehnstühle, wodurch sie eine anthropomorphe Form erhalten. Gleichzeitig offenbart der Pullover darunterliegende Ecken und Kanten. Die Neurose, so mag man schlussfolgern, bestimmt die Form, den äußeren Auftritt und ist gleichzeitig unsichtbar.
Internationale Bekanntheit erlangte Erwin Wurm mit seinen One Minute Sculptures, in denen das Publikum durch die Erfüllung seiner gezeichneten oder/und getexteten Arbeitsaufträge aktiviert und Teil des Kunstwerks wird. Aus dem Schauen wird buchstäblich ein Einfühlen, aus dem visuellen Stimulus eine Aufforderung, aus der Dauerhaftigkeit des Werks ein performativer Akt. Manchmal fängt Wurm die Verrenkungen seiner Mitstreiter:innen in Fotografien oder Videos ein, um das Tun und die Interpretation seines Stücks festzuhalten.
Die One Minute Sculptures befinden sich im Zentrum der retrospektiv angelegten Schau. Die Utensilien stehen auf einem großen, weißen Podest, Benutzung ausdrücklich erwünscht. Eine Neuerung auf diesem Feld ist, dass Wurm in zwei seiner jüngsten Arbeiten keine Anweisungen mehr gibt, und dadurch der Fantasie der Akteur:innen herausfordert. Wer den neuen Wurm interpretiert, begibt sich nicht mehr auf halbwegs sicheres Terrain. Keine Regieanweisung. Kein Bedienzettel. 2024 gibt der Bildhauer, Objekt- und Konzeptkünstler den One Minute Sculptures einen neuen Dreh, indem er zum spielerischen, offenen Umgang mit den Objekten einlädt. Welche Möglichkeiten eröffnet der Wurm-Parcours? Welche Posen lassen seine Objekte mit ihren angehängten Pullovern zu und welche nicht? Welche Talente offenbaren die Akteur:innen? Wer beim spielerischen Umgang mit Sperrigem an Franz Wests Passstücke erinnert wird, wird wohl nicht ganz falsch liegen. Umso interessanter kann ein mehrfacher Besuch der West-Ausstellung sein.
Genau gegenüber positioniert der österreichische Künstler seine für die Ausstellung geschaffene begehbare Installation "Schule". Dem bekannten "Narrow House" nachempfunden, beinhaltet es ein altes Schulzimmer mit Lehrtafeln an der Wand. Beides symbolisiert für Wurm die Zurichtung des Menschen durch das Schulsystem, das Fehlen von individueller Förderung und die Lehre heute überholter und teils offen ideologischer Inhalte. Alle sind eingeladen, ihren Vornamen an der Fassade zu hinterlassen - die meisten haben sich interessanterweise um Schönschrift bemüht.
„Das Wichtigste ist, dass ich keine Fragen beantworte oder Fragen zu den großen Themen unseres Lebens stelle, wohin wir gehen und woher wir kommen. Es sind andere, einfachere, aber eigentlich wichtige Fragen, wie zum Beispiel, was ziehe ich an, was esse ich morgen, und wer will ich sein?“
Ab etwa 2000 ließ Erwin Wurm Statussymbole aus der Form gehen. Das Haus Wittgenstein schmilzt dahin, bis es über den Sockel hängt. "Mies van der Rohe – Melting" (2005) bezieht sich auf der berühmte Seagram Building (1954-1956) in New York, mit dem der Bauhaus-Architekt gemeinsam mit Philip Johnson prototypisch Funktionalismus und Neues Bauen verwirklichten. Adolf Loos' Haus Moller verliert bei Wurm ebenso seine modernistische Stringenz und Klarheit. Auf den Sockeln in der Albertina Modern schmelzen die Gebäude vor sich hin als wären sie aus Eis und nicht aus Stahl. Das Harte wird weich. Architektur gewordener Wohlstand, das Haus als Statussymbol und dritte Haut, vergeht. Hatte Wurm zuvor bereits Zeit in sein Werk als zentrale Kategorie eingeführt, segnet nun die Ikonen der jüngeren Architekturgeschichte scheinbar das Zeitliche.
Gleich daneben schwellen fahrbare Statussymbole bis zur Unbenutzbarkeit an. Der leuchtend rote "Fat Convertible" (2005) ist so aufgeplustert, dass man sich fragt, wie er überhaupt in die Galerie gekommen ist, während das dunkelblaue "UFO" (2006) die Symbolfigur eines Raumschiffs mit einem Auto kombiniert. Wer sich über seinen fahrbaren Untersatz definiert, nennt ein "Fat Car" in Cabrio-Ausführung sein eigen - am besten wohl übersetzt mit "Fette Karre" mit "Fetzendachl".
Im Gegensatz dazu stehen die jüngsten Werke des Österreichers auf dünnen Beinen oder sind überhaupt Gewandfiguren, das heißt körperlose Anhäufungen von Kleidungsstücken. Die Assoziationsketten, die sich hier anschließen, reichen von Fast Fashion über Konsumkultur, von Selbstdefinition zum Selbstkontrolle, von den neuen Kleidern des Kaisers (diesmal fehlt der Kaiser und die Kleidung definiert den Status) bis zur traditionellen Methode Rodins, die Kleidung seiner Figuren in Gips zu tränken und so den Faltenwurf zu formen. In "Balzac" (2024) bezieht sich der Objektkünstler auf den berühmten Denkmalsentwurf Auguste Rodins, der seinen Auftraggebern allzu unpassend erschien. Bei Wurm tragen Männerbeine einen 2,2 Meter hohen Kleiderberg. Die Plastik ist in Aluminiumguss umgesetzt und schimmert Silbern. Damit schlägt der Bildhauer vermutlich wieder eine Volte, waren seine Skulpturen in den letzten Jahren doch extrem dünn geworden. Die letzten Arbeiten der Serie "Skins" wirken wie im Wind wehende Tücher. Skinny Jeans mit Füßen und Händen, für einen Körperabguss arbeitete er mit dem Schauspieler und Fotografen Lars Eidinger zusammen. "Lars, Arm Lifted" (2020) zeigt nicht viel, deutet nur an, indem Wurm nur eine Seite seines Modell abnahm. Der Kopf fehlt, dafür ist die Arm- und Handhaltung göttlich.
„Zweidimensionalität, Dreidimensionalität, Masse, Haut, Oberfläche, Volumen sind wichtige Bestandteile meiner Erforschung der Skulptur. Gequetscht und abgeflacht oder auf eine sehr dünne Form reduziert, haben meine neuen Arbeiten eine gewisse Zerbrechlichkeit, die mir gefällt: Sie werden beinahe abstrakt.“2
Kuratiert von Antonia Hoerschelmann und Lydia Eder.
Antonia Hoerschelmann und Klaus Albrecht Schröder (Hg.)
ISBN 978-3-7774-4378-2
HIRMER Verlag