Seit jeher spielen Künstler mit der Wahrnehmung und führen uns vor Augen, wie leicht wir zu täuschen sind. Seien es antike Fresken, die räumliche Tiefe simulieren, barocke Kirchenausstattungen, die das Irdische um göttliche Sphären zu erweitern scheinen oder heutige computergenerierte virtuelle Welten, in die man interaktiv eintauchen kann, anstatt sie nur zu betrachten: Auf der Grundlage der optischen und technischen Erkenntnisse ihrer Zeit entwickelten Künstler stets neue Gestaltungsmittel, um ihr Publikum auszutricksen und es mit ihrer Kunstfertigkeit zu verblüffen.
Deutschland / München: Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung
17.8.2018 – 13.1.2019
Deutschland / Aachen: Ludwig Forum Aachen
22.2. – 30.6.2019
Kunst, die versucht, ihre Betrachter zu täuschen, setzt an den unterschiedlichsten Stellen der unbewusst ablaufenden Prozesse von Sehen und Erkennen an. Sie macht sich zunutze, dass unsere Wahrnehmung äußerst fehleranfällig ist. Denn das Auge nimmt schneller und mehr wahr, als das Gehirn verarbeiten kann. Die Menge an Reizen, die das Auge aufnimmt, muss gefiltert, organisiert und im Abgleich mit bereits gemachten Erfahrungen bewertet werden. Die faszinierende Wirkung täuschender Kunst entsteht, indem der Betrachter ihrer Täuschung visuell erliegt, zugleich aber realisiert, dass er es mit einem Trick zu tun haben muss. Und selbst wenn die Konstruktionsweise von Werken wie Hans Peter Reuters „Kachelraum“ (1976) oder James Turrells „Ellipse“ (2017) durchschaut ist, kann man sich ihrer Sogwirkung nicht entziehen. Diese unterhaltsame Wechselwirkung aus Täuschung und Ent-Täuschung berührt auch existentielle philosophische Fragestellungen: Wie verlässlich ist unsere Wahrnehmung? Wie steht es um unser Bild von der vermeintlichen Realität? In Zeiten von Photoshop und digitaler Filmanimation führen uns z.B. Evan Pennys abfotografierte hyper-realistische Porträtbüsten (2011) vor Augen, wie leicht wir etwas auf einem Foto Dargestelltes für ‚wahr‘ halten und getäuscht werden können.
Viele visuelle Täuschungen sind heute fester Bestandteil unseres Alltags. Dabei ist die Geschichte von Optik und künstlerischer Täuschung aufs Engste mit der technischen Weiterentwicklung der Medien verbunden: Der illusionistischen Wirkung einer Filmvorführung der Gebrüder Lumière konnten sich 1896 die damaligen Zuschauer – so die berühmte Anekdote – nicht entziehen: Sie meinten, ein Zug würde aus der Leinwand auf sie zurasen. Beim heutigen kinoerfahrenen Betrachter löst dieser Film keinen vergleichbaren Effekt mehr aus. Einen ähnlich überraschenden Moment kann jedoch in der Ausstellung erleben, wer eine Virtual-Reality-Brille aufsetzt und in Chris Milks Arbeit „Evolution of Verse“ (2015) eintaucht – noch ist das Medium so neu und die Umsetzung so überraschend, dass die Wahrnehmung eindrucksvoll getäuscht wird.
Künstlerische Augentäuschungen wurden schon immer genutzt, um unterschiedlichste Funktionen zu erfüllen. So zeigt die Ausstellung, wie sich unter anderem die Kirche die unmittelbare Überzeugungskraft von Bildern früh zunutze machte: Sie setzte illusionistische Bildwerke ein, um Glaubensinhalte zu vergegenwärtigen. Der überaus realistisch dargestellte Kopf von Johannes dem Täufer des spanischen Bildhauers José de Mora (1642–1724) löst zum Beispiel bis heute zugleich Grauen und Mitgefühl aus und führt das Schicksal des Heiligen in unmittelbarer physischer Präsenz vor Augen. Solche Verbildlichungen dienten als wichtiges Mittel der contemplatio, der Einfühlung und Andacht. Besondere Anforderungen an die illusionistische Malerei werden dort gestellt, wo jene sakralen Gegenstände abgebildet werden, die als wahrhaftige Bildnisse (Vera Icon) gelten: so wie im Falle des Schweißtuchs der heiligen Veronika, das unter anderem von Francisco de Zurbarán (1598–1664 → Francisco de Zurbarán und Juan de Zurbarán) als Trompe-l’œil-Gemälde umgesetzt wurde. Eine direkte Verbindung zum göttlichen Himmelreich wurde vor allem in der Ausstattung barocker Kirchen mit beeindruckenden Deckengemälden geschaffen, wie in der Ausstellung unter anderem anhand des Entwurfs von Johann Jakob Zeiller für das Kuppelfresko in der Stiftskirche von Ottobeuren (um 1760) zu sehen ist.
In der Renaissance erwuchs ein neues Interesse an der sichtbaren Welt und ihren optischen Phänomenen. Forschungen von Leon Battista Alberti führten zum Beispiel zur Entdeckung der Regeln der Zentralperspektive, die es möglich machten, zweidimensionalen Bildwerken eine überzeugende Tiefe zu verleihen. Auch erste Anamorphosen entstanden im Rahmen perspektivischer Studien: Ihre Motive lassen sich nur von einem einzigen Standpunkt aus oder mit einem speziell gebogenen Spiegel als Hilfsmittel erschließen. Diese optische Raffinesse begeisterte nicht nur die Wissenschaft, sondern inspirierte auch zur Schaffung beeindruckender Kunstwerke. Zu den wenig bekannten Anamorphosen in Rom zählt das 1642 von dem Ordensbruder Emmanuel Maignan (1601–1676), rund 20 Meter langen Fresko aus dem römischen Kloster Trinità dei Monti. Es zeigt eine dystopische Landschaft mit dem Heiligen Franz von Paula im Gebet. Wenn man direkt und frontal vor dem Wandgemälde steht, wirkt der Körper des Heiligen wie eine Küstenlandschaft, Schiffe inclusive. Das beeindruckende Werk wird für die Ausstellung reproduziert.
Auch die Erscheinungsformen der Natur mit ihren oft imposanten Formen der Täuschung wurden gesammelt und untersucht: Seien es Tiere, die mimetisch Farben und Formen ihrer Umgebung nachahmen, natürliche Steinformationen, die wie gemalte Landschaften aussehen (Pietra Paesina), oder getrocknete Rochen, die Monstern gleichen: Solche wunderlich täuschenden Dinge stellte man in spektakulären Kunstkammern, Kuriositätenkabinetten und optischen Sammlungen aus, die ebenso der Bildung wie auch dem Staunen und der Unterhaltung dienten.
Im 17. Jahrhundert spezialisierten sich zunächst in den Niederlanden, später vor allem in Frankreich, einige Maler auf illusionistische Gemälde, die heute unter dem französischen Begriff Trompe-l’œil [dt. Augentäuschung] zusammengefasst werden. Anstatt durch Tiefenwirkung, bestechen diese Werke vor allem dadurch, dass das Dargestellte aus der Bildebene heraus in Richtung der Betrachter zu ragen scheint. Werke von Cornelis Gijsbrechts (1630–1683), Wallerant Vaillant (1623–1677) oder Edwaert Collier (1640–1708) verfehlen auch heute nicht ihre Wirkung: Die Perfektion, mit der diese Meister Objekten wie angepinnten Papieren, gebrochenen Glasscheiben oder drapierten Stoffen Räumlichkeit und Haptik verliehen, ist immer noch höchst beeindruckend. Künstler wie Gerhard Richter oder Thomas Demand greifen diese Form der Illusion in Werken wie „Blattecke“ (1967) oder „Glas“ (2002) wieder auf.
Ein weiteres Kapitel widmet sich speziellen Formen der Täuschung wie der künstlerischen Aneignung, der Kopie und der Fälschung (→ Kopieren und Paraphrasieren in der Kunst). Den Stil großer Meister nachzuahmen, trug über viele Jahrhunderte zum Ruhm eines Künstlers bei. Auch war es üblich, originalgetreue Kopien von Kunstwerken herzustellen. Als in der Romantik die Idee vom geistigen und künstlerischen Eigentum aufkam und die Fotografie wenige Zeit später die Reproduktion von Kunstwerken maßgeblich vereinfachte, entstand eine neue Wertschätzung des Originals. Der Akt des Kopierens erschien nun als moralisch verwerflich – und bei trügerischer Absicht sogar als krimineller Akt.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzen sich Künstler immer wieder gezielt mit der Frage um Original und Kopie auseinander. Die Ausstellung bietet mit Werken wie der „Beschneidung Christi“ (1594) von Hendrick Goltzius, „Christus und die Ehebrecherin“ (1942) von Han van Meegeren, „Johns Flagge“ (1966 → Sturtevant. Drawing Double Reversal) von Elaine Sturtevant oder den „Brillo-Boxen“ (1964) von Andy Warhol einen Überblick über diesen spannenden Bereich der Kunstgeschichte. Die Perfektion, mit der es neuerdings möglich ist, im 3D-Druckverfahren Meisterwerke wie die Gemälde van Goghs so zu reproduzieren, dass jeder Pinselstrich reliefartig kopiert wird, entfacht die Diskussion um das Original heute von Neuem (→ SKY Arts HD und Factum Arte: Das Geheimnis der verlorenen Meisterwerke).
Je beiläufiger täuschende Objekte in unseren Alltag eingebunden werden, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass wir auf sie hereinfallen. So genoss man schon in der Tafelkultur des 18. Jahrhunderts das Erstaunen der Gäste, wenn sich der auf dem Tisch platzierte Kohlkopf als Suppenschüssel aus Porzellan erwies. Bis heute werden Objekte in Manufakturen hergestellt, die sich in diese Tradition der Schaugerichte stellen. Im Möbeldesign finden sich besonders viele Beispiele der Materialtäuschung: So sieht Marcel Wanders aus Seil geknoteter Knotted Chair (1996) aus, als sei er äußerst flexibel, tatsächlich ist er jedoch mit Epoxydharz überzogen und damit absolut stabil. Der scheinbare Plastik-Stapelstuhl (2008) von Sam Durant dagegen wurde tatsächlich aus ebenso kostbarem wie fragilem Porzellan gefertigt. Auch die Mode wird seit Jahrhunderten von verschiedenen Täuschungsstrategien bestimmt: Unter dem Gewand getragene Korsagen täuschen Wespentaillen vor, gepolsterte Unterhemden simulieren Muskeln und Perücken lassen Haare über Nacht wachsen. Couturiers wie Jean Paul Gaultier oder Viktor & Rolf gehen hingegen in ihren Kreationen äußerst spielerisch mit unserer Vorstellung vom perfekten Körper um.
Die Ausstellung schließt mit verblüffenden Raumillusionen, die von altägyptischer und pompejanischer Scheinarchitektur über barocke Deckengemälde und historistische Prunktapeten bis hin zu zeitgenössischen Rauminstallationen reichen. Dabei wird unter anderem deutlich, in welcher Tradition die neue Technik der Virtual Reality steht, die Räume in bisher unbekannter illusionistischer Wirkung (wieder-)entstehen lassen kann: In der seit 2016 entstehenden virtuell begehbaren Rekonstruktion des Kaisersaals der Bamberger Residenz findet sich der Besucher in der Welt der Fürsten des 18. Jahrhunderts wieder. Laurie Andersons und Hsin-Chien Huangs spektakuläre VR-Installation „Chalkroom“, die 2017 auf den Filmfestspielen von Venedig als bestes VR-Erlebnis ausgezeichnet wurde, lädt den Besucher hingegen ein, den realen Raum zu verlassen und durch ein faszinierendes imaginäres Universum zu fliegen.
Mit Exponaten aus Malerei, Skulptur, Video, Architektur, Design, Mode und mit Virtual-Reality-Arbeiten bietet die Ausstellung einen höchst abwechslungsreichen und unterhaltsamen Parcours durch die (Kunst-)Geschichte und ihre visuellen Spielformen von Schein und Illusion. Durch die thematische Gegenüberstellung von Objekten aus verschiedenen Jahrhunderten deckt die Schau überraschende Traditionslinien auf und lädt dazu ein, der Umwelt mit wachem Blick zu begegnen.
Kuratiert von Roger Diederen, Anja Huber, Franziska Stöhr (Kunsthalle München) und Andreas Beitin, Annette Lagler (Ludwig Forum Aachen)
Quelle: Pressetext