0

Münster | Picasso Museum: Camoin, Marquet, Manguin, Matisse Das Rendezvous der Freunde | 2021/22

Rendezvous der Freunde, Foto Hanna Neaner, Picasso-Museum, Münster

Rendezvous der Freunde, Foto Hanna Neaner, Picasso-Museum, Münster

Die Ausstellung vereint Werke der vier Studienfreunde Charles Camoin (1879–1965), Henri Manguin (1874–1949), Albert Marquet (1875–1947) und Henri Matisse (1869–1954). Alle vier lernten einander in der Klasse des Malers Gustave Moreau in der Pariser École des Beaux-Arts kennen. Ab 1895 waren hier Matisse und Marquet Schüler des Meisters, Manguin bereits seit dem Vorjahr. Camoin kam als Jüngster erst kurz vor dem Tod Moreaus im Jahr 1898 in dessen Atelier. Die Präsentation zeichnete die künstlerischen Anfänge und jeweiligen Entwicklungslinien der vier lebenslang freundschaftlich miteinander verbundenen Künstler nach.

Die Pariser Kunstkritik sprach ab 1904 von der „Moreau-Gruppe“ und verwies hiermit auf ihre gemeinsame stilistische Prägung. 1905 präsentierten alle vier Werke im Rahmen des Pariser Herbstsalons. Sie hatten dort einen Skandalerfolg, denn ihre expressiven, farbenfrohen Werke werden als Kunst „wilder Tiere“ (franz. „Fauves“) klassifiziert und als Fauvismus bezeichnet. Im Folgejahr stellten die Künstlerfreude gemeinsam in der Pariser Galerie Berthe Weill aus. Der Skandalerfolg von 1905 machte Kunstsammler und Galeristen auf die vier Maler aufmerksam. So kaufte Leo Stein, Bruder der Schriftstellerin Gertrude Stein, im Februar 1906 sein erstes Manguin-Gemälde. Der Galerist Ambroise Vollard erwarb einen Monat später gleich alle in dessen Atelier befindlichen Bilder. In den Folgejahren entwickelten alle vier ihre eigenständigen künstlerischen Handschriften, die die Präsentation durch ausgewählte Gemälde, Zeichnungen und Grafiken nachzeichnete. Ihren individuellen Stil fanden sie auf der Grundlage des Impressionismus und des die Komposition in Farbpunkte zerlegenden Pointillismus (→ Postimpressionismus | Pointillismus | Divisionismus).

Auch einte sie die Begeisterung für die expressive Farbmalerei Vincent van Goghs und die stringente Kompositionslogik der Gemälde Paul Cézannes. In ihren künstlerischen Anfängen arbeiteten die vier Freunde häufig gemeinsam „vor dem Motiv“. Auch unternahmen sie gemeinschaftlich Reisen, wie beispielsweise der Tanger-Aufenthalt von Camoin und Matisse zum Jahreswechsel 1912/13. Die lebenslange freundschaftliche Verbindung der vier bezeugen hunderte von erhaltenen Briefen, die sich die Künstler gegenseitig geschrieben haben.

Gustave Moreau und seine Schüler

Der französische Maler Gustave Moreau (1826–1898) wurde vergleichsweise spät an die École des Beaux-Arts in Paris berufen und lehrte dort lediglich sechs Jahre. Mit knapp 40 Jahren war ihm im Salon 1864 ein großer Erfolg mit dem Gemälde „Ödipus und die Sphinx“ beschieden. Das Bild wurde vom Prinzen Gérôme Bonaparte, einem Neffen Napoleons III. angekauft.

Moreau war laut Zeugenschaft seiner Schüler ein liberaler Lehrer mit einem ausgesprochen religiösen und literarisch geprägten Geschmack. Albert Marquet und Henri Matisse wurden ab 1895 seine Schüler an der École des Beaux-Arts in Paris. Henri Manguin wurde bereits 1894 als „élève libre“ ins Atelier von Gustave Moreau aufgenommen. Charles Camoin als jüngster der vier Künstlerfreunde kam erst wenige Monate vor Moreaus Tod im Jahr 1898 in dessen Atelier.

Gemäß den Aussagen seiner Schüler scheint Moreau ein progressiver, wenig dogmatischer Lehrer gewesen zu sein. Zeitgenössischen Tendenzen wie dem Impressionismus oder dem Schaffen von Vincent van Gogh und Paul Gauguin stand er jedoch ablehnend gegenüber und wertete sie als Modeerscheinungen ab. Moreau folgte offensichtlich keinem starren akademischen Lehrplan, sondern er besaß die Gabe, sich in die individuellen Talente seiner Eleven einzufühlen, um ihnen persönliche Lehrimpulse zu liefern. Zweimal pro Woche, mittwochs und samstags korrigierte Moreau die Arbeiten seiner Schüler. Matisse erinnerte sich 1951 rückblickend im Gespräch mit dem Verleger Tériade:

„Er war ein kultivierter Mann, der seine Schüler dazu anregte, alle Arten von Malerei zu sehen, während die anderen Lehrer nur in einer einzigen Periode gefangen waren, in einem einzigen Stil – demjenigen des zeitgenössischen Akademismus.“

Als ausgezeichneter Farbkünstler erteilte er seinen Eleven den Rat: „Eines merken sie sich gut: Man muss die Farbe denken, eine Vorstellung von ihr haben.“ Ferner propagiert Moreau eine Art „Schule der Straße“, indem er seinen Eleven empfiehlt, auf der Straße schnelle Skizzen nach dem Leben zu fertigen.

Moreau ermunterte seine Schüler, Kopien nach Meisterwerken verschiedener Epochen aus den Sammlungen des Louvre zu schaffen. Matisse führt hierzu aus: „Es ist Gustave Moreau, dem ich die Bekanntschaft mit dem Louvre verdanke. Man ging da nicht mehr hin. Moreau hat uns dorthin zurückgeführt und hat uns gelehrt, die Meister anzusehen und zu befragen.“

Der zeitgenössische Kunstkritiker Roger Marx schrieb über seinen unzeitgemäßen Lehrstil: „Im Herzen der Kunstakademie ist eine Revolte entbrannt; alle, die sich gegen die Routine auflehnen und sich ihrer Persönlichkeit entsprechend zu entwickeln gedenken, haben sich unter der Schirmherrschaft von Gustave Moreau versammelt.“

Die Zeit nach Moreau

Gustave Moreau ist in die Kunstgeschichte als „Lehrer der Fauves“ eingegangen. Von ihm ist die Aussage überliefert:

„Ich bin die Brücke, über die einige von ihnen gehen werden.“

Die Prägung des Lehrers auf seine Schüler ist jedoch sehr unterschiedlich: Während Matisse fünf Jahre lang von Moreau unterrichtet wurde, frequentierte Camoin nur wenige Monate sein Atelier. Nach Moreaus Tod am 18. April 1898 trafen sich die Künstlerfreunde gelegentlich zum Malen und Zeichnen in einem provisorischen Atelier, das Henri Manguin im Garten seines Pariser Domizils in der rue Boursault errichtet hatte. Sie frequentierten auch freie Akademien wie die Académie Julian oder die Académie Camillo, wo nach dem lebenden Modell gezeichnet und gemalt wurde.

In der Pariser Galerie Berthe Weill stellten alle vier erstmals 1904 aus. Die Kunstkritik sprach von „der Gruppe der Moreau-Schüler“ und fand einen verbindenden Stil in ihren Werken. Allen vier Künstlerfreunden war klar, dass sie die Errungenschaften der Impressionisten hinter sich lassen mussten, um etwas Neues zu schaffen. So führte Matisse in seinem ersten theoretischen Text aus dem Jahr 1907 aus, er wollte mit seiner Kunst nicht den flüchtigen Netzhauteindruck wiedergeben, sondern eine „Verdichtung der Empfindungen“ im Bild erreichen. Ein französischer Journalist stellte 1910 in der Zeitschrift „La Libre Esthétique“ fest:

„Für Matisse und für Marquet erscheint der Impressionismus wie eine Versklavung. Der Geist des Individualismus hat die Gruppierungen zerstreut [...].“

Charles Camoin – Der „tapfere Marseillais“

Der 1879 geborene Charles Camoin entstammte einer Familie aus Marseille. Sein Vater leitete die Firma Camoin Jeune, die mit Farben und Tapeten handelte. Er kam erst wenige Monate vor Moreaus Tod in dessen Atelier. Von einer tieferen Prägung durch den Lehrer kann man in seinem Fall also kaum sprechen. Im November 1900 begann Camoin seinen Militärdienst beim 55. Infanterieregiment und wurde zunächst in der Region von Arles stationiert. Hier begab er sich auf Motivsuche nach den Stätten, die Vincent van Gogh zu Gemälden inspiriert hatten. Im September 1901 wurde seine Einheit zwischenzeitlich nach Aix-en-Provence verlegt. Es bezeichnete diesen Umstand als „Wohltat Gottes“, denn er trat dort in Kontakt zu Paul Cézanne, der ihm als künstlerischer Mentor diente. Insgesamt sieben Briefe an Camoin sind von der Hand Cézannes erhalten. „Alles in der Kunst ist vor allem entwickelte und angewandte Theorie im Kontakt mit der Natur“, schrieb ihm der Meister aus Aix am 22. Februar 1903.

Ab 1904 betrat Camoin die öffentliche Ausstellungsbühne in Paris, indem er Werke zum Salon des Indépendants und zum Salon d’Automne einsandte. 1905 hatte er im Herbstsalon Teil am Skandalerfolg der ehemaligen Moreau-Schüler, denen man vorwarf, wie „wilde Tiere“ zu malen. Camoin entwickelte eine expressive Farbmalerei mit größerem Hang zur bildnerischen Synthese als bei den Impressionisten und Pointillisten. Mit seinem Künstlerfreund Matisse verband Camoin eine lebenslange Freundschaft. Beide tauschten hunderte von Briefen aus. Im Mai 1918 schrieb Camoin programmatisch an Matisse:

„Es scheint, dass lediglich die Intuition eine sichere Basis ist, und man muss sein ganzes Leben lang sich vortasten, um die Ausdrucksmittel zu finden, die uns zu Gebote stehen.“

Henri Manguin – Der „großzügige Fauve“

Der 1874 in Paris geborene Henri Manguin verlor im Alter von sechs Jahren seinen Vater. Mit Einwilligung seiner Mutter verließ er 1890 die Schule, um sich der Kunst zu widmen. 1894 trat er an der École des Beaux-Arts ins Atelier von Gustave Moreau ein. Schon 1900 präsentierte er erste Werke auf öffentlichen Ausstellungen und in der Galerie Berthe Weill.

1902 machte er die Bekanntschaft des Impressionisten Camille Pissarro. 1904 schloss er ferner Freundschaft mit Paul Signac als führendem Pointillisten. Die Sommer der Jahre 1904 und 1905 verbrachte Manguin in Saint-Tropez, wo zahlreiche Gemälde entstanden. Schon früh wurden bedeutende Sammler und Galeristen auf Manguin aufmerksam. So erwarben die Geschwister Gertrude und Leo Stein im Februar 1906 ein Gemälde von Manguin und einen Monat später kaufte ihm der Pariser Galerist Ambroise Vollard die astronomische Zahl von 150 Gemälden ab, die er am Tage des Kaufs mit einer Pferdedroschke abholen ließ. Der Dichter und Kunstkritiker Guillaume Apollinaire beschrieb Manguin als „ein sehr kultiviertes Talent, das gefallen will und das auch gefällt.“ So wurden auch die beiden großen russischen Sammler der französischen Avantgarde in Gestalt von Iwan Morosow und Sergej Tschukin Käufer der Werke Manguins (→ Paris | Fondation Louis Vuitton: Morosow Sammlung).

Der Frauenakt in freier Natur wurde zum zentralen Thema der fauvistischen Schaffensphase Manguins. 1913 sah Henri Matisse eine Manguin-Ausstellung, wo dieses Bildthema dominierte, und schrieb an den gemeinsamen Freund Camoin, der Tenor der Ausstellung sei „Madame zu allen Saucen [Madame à toutes les sauces]“. Die bildautonome, intensive Farbigkeit seiner frühen Jahre schwächte sich im Laufe der folgenden Schaffensjahrzehnte ab und seine Kunst wurde zunehmend beschreibender. Häufig wurde Manguin deshalb in der kunsthistorischen Literatur als recht „zahmes, wildes Tier [doux fauve]“ beschrieben:

„Er ist ein Fauve, aber ein großzügiger Fauve.“ (Charles Terrasse, französischer Kunsthistoriker)

Die malerischen Lockungen des Maghreb

Der malerische Orientalismus wurde in Frankreich von Künstlern wie Eugène Delacroix und Jean-Auguste Dominique Ingres begründet. So notierte Delacroix Anfang April 1832 in Marokko: „Das Pittoreske findet sich hier in Überfülle. Bei jedem Halt sieht man schon fertige Bilder, die zwanzig Generationen von Künstlern Ruhm und Glück bringen würden.“ Unter modernen ästhetischen Vorzeichen belebten Matisse und seine Künstlerfreunde diese Tradition. So unternahmen Camoin und Matisse im Winter 1912/13 gemeinsam eine Reise nach Tanger, wo sie in der historischen Kasbah zeichneten und malten.

Für Matisse stellte die Begegnung mit dem Maghreb und der Welt der islamisch geprägten Ornamentik eine bedeutende Etappe auf dem Weg seiner künstlerischen Selbstfindung dar. So stellte er 1949 im Rahmen eines Interviews rückblickend fest:

„Die Offenbarung kam für mich aus dem Orient.“

Anders als seine Studienfreunde war er kein Landschaftsmaler, sondern stellte in seinen Odalisken- und Haremsbildern die menschliche Figur ins Zentrum seiner Bilder. Er entwickelte in dieser Bildthematik seine Ästhetik des Musters, indem er florale und geometrische Ornamente teppichartig die Bildfläche überspannen ließ. Im Medium dieser orientalistisch inspirierten Bilder vollzog sich ein Wandel „vom Teppich im Bild zum Bildteppich“ (Pierre Schneider).

Auch Albert Marquet wandte sich künstlerisch der Welt des Maghreb zu und bereiste bereits 1911 Marokko. Frustriert stellte er dort in Tetouan fest: „Habe noch kein Gemälde geschaffen. Ich werde niemals orientalistischer Maler werden.“ Nach seiner Hochzeit mit der Algerierin Marcelle Martinet verbrachte das Paar die Wintermonate in Algier. Trotz weniger prominenter Ausnahmen wurde Marquet in der Tat auch kein orientalistischer Maler, denn er malte den Maghreb so wie er den Hamburger Hafen oder den französischen Midi darzustellen gewohnt war.

Albert Marquet – Der zeichnende und malende Globetrotter

Von den alten Studienfreunden standen sich Marquet und Matisse am nächsten, wovon die über 200 erhaltenen Briefe zeugen, die die beiden sich schrieben. Rückblickend erinnerte sich Matisse: „Der Marquet meiner Jugend war ein Kämpfer, fest und unerschütterlich, ein zuverlässiger Kamerad.“

Marquets Talent zu zeichnerischer, die Karikatur streifender Verkürzung der Formen artikulierte sich schon in seinen frühen Grafiken. In Anspielung an den berühmten japanischen Holzschnitt-Künstler erhielt er von seinen Freunden den Spitznamen „unser Hokusai“. Albert Marquet entwickelte sich zu einem reisefreudigen Freiluftmaler, der in Südfrankreich, in Algerien, Marokko, Tunesien und Ägypten seine Werke schuf. Zu Beginn der 1920er Jahre heiratete Marquet eine Algerierin und fortan verbrachte das Paar die Wintermonate in Algier.

Die expressive Farbmalerei der Fauves ist nur ein sehr temporäres Phänomen in seiner künstlerischen Entwicklung. Albert Marquet wurde vielmehr zum Spezialisten zarter malerischer Valeurabstufungen.

„Er steigt lediglich in den zentralen Käfig der Fauves im Herbstsalon 1905, um seine Freunde nicht im Stich zu lassen. Er hat mit ihnen nichts gemein, seine Ästhetik ist derjenigen der anderen völlig entgegengesetzt.“ (Louis Vauxcelles, 1938)

Matisse hat gesprächsweise über die fundamentalen Unterschiede zwischen der Malweise seines Künstlerfreundes und der eigenen festgestellt: „Marquet ist gänzlich realistisch. Er interpretiert nicht eine Farbe und hält sich eher an den Lokalton, den er gemäß der Farbperspektive abschwächt. Für ihn zählen Linienwerte. Ich hingegen schaffe meinen Bildraum durch die Farbe.“

Henri Matisse – Der moderne Eremit an der Côte d’Azur

1941 wurde bei Henri Matisse Darmkrebs diagnostiziert und er musste sich einer schweren Operation unterziehen. Da dabei seine Bauchdecke verletzt wurde, war er von nun an genötigt, ein Stahlkorsett tragen. Diese Rahmenbedingungen führten dazu, dass er mehrheitlich im Bett oder im Rollstuhl sitzend arbeitete. Durch seine Krankheit immobilisiert, korrespondierte Matisse weiterhin intensiv mit seinen langjährigen Künstlerfreunden. So schrieb er am 27. Juni 1941 an Charles Camoin, der ihn wenige Tage später mit dem Fahrrad aus Saint-Tropez kommend besuchte: „Jeden Donnerstag kann ich eine Arbeitssitzung von drei Stunden absolvieren und stehe um 12 Uhr auf.“ Wiederholt sprach Matisse von einem ihm durch die Operation geschenkten „zweiten Leben“ von unbestimmter Dauer. Am 16. Januar 1942 schrieb er an Albert Marquet: „Ohne Scherz – ich segne meine Operation, die mich verjüngt und zu einem Philosophen hat werden lassen.“

Matisse führte ab 1941 ein zurückgezogenes Leben, das trotz erheblicher gesundheitlicher Einschränkungen ganz seinem künstlerischen Schaffen gewidmet war. Im August 1945 schrieb er seinem Freund Marquet: „Ich habe auf meine Wand geschrieben: Diejenigen, die mich besuchen, machen mir Ehre. Diejenigen, die nicht kommen, machen mir Freude.“ Der häufig im Bett arbeitende Künstler heftete ganze Werkzyklen friesartig an die Wand und sprach diesbezüglich vom „Kino seiner Inspiration.“

Er schuf nun vermehrt Grafiken für sogenannte Malerbücher. Hierbei handelte es sich um kostbare Bücher mit teuren Büttenpapieren in limitierter Auflage. „Die Arbeit, Bücher und ein Radio – das reicht einem modernen Eremiten“, schrieb Matisse am 3. Januar 1946 seinem Malerfreund Marquet. Im Sommer nach seiner Krebsoperation begann Henri Matisse mit den Arbeiten zu dem Drama „Pasiphaé. Chant de Minos“ von Henri de Montherlant. „Zehn Monate Arbeit, den ganzen Tag und oft auch des Nachts“ erinnerte sich Matisse rückblickend. Seine Linolschnitte artikulieren sich effektvoll vor monochrom schwarzen Bildgründen und bestechen durch ihre Ökonomie der künstlerischen Mittel. Im Zentrum des Dramas steht das Schicksal der Pasiphae, Gemahlin des Königs Minos von Kreta und Mutter des Stiermenschen Minotaurus.

In den frühen 1940er Jahren entstanden auch Grafiken für einen Band von Charles Baudelaire mit dessen skandalumwitterten Gedichtzyklus „Die Blumen des Bösen“. Über seine Werke zu diesem Buch schrieb Matisse: „Es ist nicht das geworden, was man im Allgemeinen von einer Illustration dieses Dichters erwartet. Man würde sich leicht eine Reihe von sich mehr oder weniger stürmisch bewegenden, lustvoll gespreizten Schenkeln vorstellen.“ Im September 1944 waren die 35 „Ausdrucksköpfe“ für dieses Buch abgeschlossen. Matisse schuf Portraits von drei Modellen für das Werk, wobei unter anderem Carmen, ein aus Haiti stammendes Mädchen, ihm Modell saß. Matisse‘ Wahl scheint durch den Umstand begründet, dass Jeanne Duval, eine Tänzerin und Schauspielerin Haitianischer Herkunft 20 Jahre lang die Muse von Baudelaire war.

Jazz – „Direkt in die Farbe schneiden“

„Jazz“ ist das ungewöhnlichste und auch kostbarste Malerbuch des 20. Jahrhunderts. Ursprünglich sollte das Werk „Cirque“ heißen, da eine Vielzahl der Darstellungen motivisch um Zirkusgestalten und Akrobaten kreist. Im begleitenden Text schrieb der Künstler:

„Diese Bilder in lebhaften und heftigen Farben haben sich herauskristallisiert aus Erinnerungen an den Zirkus, an Volksmärchen und an Reisen.“

Die verwendete Technik der farbigen Scherenschnitte ermöglichte Matisse nach eigenen Worten, „in einer einzigen Geste die Linie mit der Farbe zu assoziieren.“ Wie ein improvisierender Jazz-Musiker variiert der Maler Themen- und Motivkreise. Den begleitenden Text hat er selbst verfasst und auch von Hand geschrieben. Es handelt sich um aphorismenhafte Bemerkungen über die Kunst und das Leben, die in lockerem Bezug zu den Bildern stehen. Unter der vordergründig heiteren Oberfläche der Gaukler- und Akrobatenthematik scheinen immer wieder existenziell bedrohliche Themen durch. So der „Werwolf“, der, wie Vorzeichnungen zeigen, ursprünglich dem Märchen „Rotkäppchen und der Wolf“ gewidmet war. Matisse spielte mit der Darstellung auf die Gefahr durch die Nationalsozialisten an, die zwischenzeitlich seine Tochter gefangen hielten und folterten.

Mehrere Bedeutungsschichten besitzt auch das Bild des stürzenden Ikarus, der schon in der französischen Dichtung des 19. Jahrhundert als mythologische Projektionsfigur für den Künstler galt. Ikarus will hoch hinaus und versucht das Unmögliche, muss aber an den Realitäten scheitern. Die Darstellung des stürzenden Ikarus nimmt auch Bezug zum Kriegsgeschehen, da Matisse in Vence Zeuge wurde, wie Fallschirmspringer der Alliierten am nächtlichen Himmel abgeschossen wurden. Diese Ambivalenz der künstlerischen Aussage findet sich auch in der Darstellung des Zirkusdirektors Monsieur Loyal, dessen markantes Profil die Züge von Charles de Gaulle trägt, der den französischen Widerstand koordinierte.

Die grelle, plakative Farbigkeit der Scherenschnitte und ihre prägnanten, verkürzten Formen haben nachhaltig eine ganze Generation amerikanischer Avantgardekünstler beeinflusst. Insbesondere Pop Art-Künstler beriefen sich wiederholt auf Matisse als großen Impulsgeber. Von einem Freund befragt, was er in seinem Leben erreichen wolle, antwortete beispielsweise Andy Warhol: „I want to be Henri Matisse.“

Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.