Suite de Saltimbanques

1913 gab der Kunsthändler Ambroise Vollard eine Folge von 15 Radierungen Picassos als „Suite de Saltimbanques“ in hoher Auflage heraus. Neben Picassos erster Radierung, „Das kärgliche Mahl“, enthalt die Folge Darstellungen von Artisten, Figurenstudien aber auch den Tanz der Salome vor Herodes.

 

Das kärgliche Mahl

Der Künstler hatte sich im Sommer 1904 zum ersten Mal mit der Technik der Radierung beschäftigt. Unter der Anleitung seines langjährigen Freundes Ricard Canals setzte sich der Spanier mit der Technik auseinander. Im September 1904 vollendete Picasso „Das kärgliche Mahl“, in dem er ein ausgemergeltes Paar am Tisch vor dem titelgebenden kärglichen Mahl darstellte. Durch die malerische Behandlung und den Einsatz von Licht und Schatten gilt das „Erstlingswerk“ als Meisterwerk der Radierung.1

Das Modell für die Frau war Picassos damalige Freundin Madelaine. Fernande Olivier, welche die Radierung im Atelier Picassos zum ersten Mal sah, beschrieb die Aussage des Werks wie folgt:

„Zu jener Zeit arbeitet Picasso an einer Radierung [Le repas frugal], die heute berühmt ist: ein Mann und eine Frau sitzen an einem Tisch beim Weinhändler, und mit erschreckendem Realismus kommen in diesem ausgehungerten Paar Elend und Alkoholsucht zum Ausdruck.“2

Picasso nutzte eine Zinkplatte, die zuvor vermutlich von Joan Gonzáles (1868–1908), einem Mitbewohner Picassos im Bateau-Lavoir, für eine Landschaftskomposition benutzt worden war. Reste der alten Radierung sind noch hinter dem Kopf und der Schulter der Frau erkennbar. Picasso ließ in der Druckerei von Eugène Delâtre 30 Abzüge von der Platte machen. Der Drucker und Kupferstecher, der in der dritten Generation auf dem Montmartre seine Werkstatt betrieb, war ein Meister seines Fachs und hatte bereits für Henri de Toulouse-Lautrec großformatige und farbige Grafiken gedruckt.3 Zwei der Abzüge schickte Picasso als Beleg seiner künstlerischen Entwicklung nach Barcelona, die anderen erhielt sein Händler Clovis Sagot, der sie aber nur sehr schlecht verkaufen konnte.4

 

Zirkusartisten und Gaukler

In den folgenden Monaten radierte Pablo Picasso 14 weitere Platten, von denen sieben Gaukler beziehungsweise Zirkusartisten zeigen. Bei den weiteren Blättern handelt es sich um Porträts und Figurenstudien, Elendsszenen, die tanzende Salome. Dennoch steht die Serie seit 1913 unter dem Prätext eine Folge von Artisten wiederzugeben. Der Künstler erinnerte sich selbst:

„Der Zirkus hatte mich wirklich verhext! Es kam vor, dass ich mehrere Abende in der Woche hier zubrachte. Die Leute waren wie verrückt. Ich mochte vor allem die Clowns gern. Manchmal blieben wir nach der Vorstellung in der Bar und schwatzten mit ihnen die ganze Nacht. Wussten Sie, dass hier im Médrano die Clowns zum ersten Mal ihr klassisches Kostüm abgelegt haben, um sich burlesker anzuziehen? Eine Revolution: Nun konnten sie ihre Kostüme, ihre Personen selbst erfinden, sich ganz ihrer Phantasie überlassen...“ (Pablo Picasso)

Nur ein paar Häuserblöcke entfernt vom Bateau-Lavoir lag der berühmte Cirque Médrano, wo Picasso Freundschaft mit einigen Artisten und Clowns schloss. Auch die Begegnung mit einer Gruppe fahrender Gaukler auf der Esplanade des Invalides dürfte das Interesse des Künstlers an diesem Thema bestärkt haben.30 Der Künstler identifizierte sich mit den Clowns und Gauklern, standen sie doch genauso wie er außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und lebten für ihre Kunst.

Wann immer er es sich leisten konnte, ging er mit Fernande und seinen Freunden in den Cirque Médrano. Fernande erinnert sich:

„Das war eine Offenbarung, ein Ausbruch von Gelächter, ein Taumel. Man kam kaum mehr vom Médrano weg; man ging drei oder gar vier Mal in der Woche hin. Ich habe Picasso nie so herzlich lachen sehen wie im Zirkus Médrano. Er amüsierte sich wie ein Kind und vergaß, dass das, was ihn belustigte, nicht von sehr hoher Qualität war. An den Abenden, da wir uns alle im Zirkus Médrano einfanden, blieb Picasso in der Schranke, im Stallgeruch, der warm und etwas widerlich aufstieg. Er blieb dort, ebenso wie [Georges] Braque, und schwatzte den ganzen Abend mit den Clowns. Er amüsierte sich über ihr linkisches Benehmen, über ihre Aussprache, ihre Antworten, die übrigens außerhalb der Arena sehr geistlos waren. Picasso bewunderte sie und hegte für sie eine echte Sympathie.“5

Dieses ehrliche Interesse Picassos an den Zirkusmitarbeiter:innen veränderte seine Themenwahl an der Wende von der Blauen Periode zur Rosa Periode. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern und Zeitgenossen rückte er jedoch das Geschehen abseits der Vorstellungen, alltäglichen Szenen, das Familienleben und das Proben hinter den Zelten des fahrenden Volkes in den Mittelpunkt.6

  1. Josep Palau i Fabre, Picasso. Kindheit und Jugend eines Genies. 1881–1907, München 1981, S. 382.
  2. Fernande Olivier, Picasso und seine Freunde, Zürich 1982 [dt. Erstausgabe 1957], S. 25.
  3. Jil Gärtner, Im ›Zentrallabor der Malerei‹. Das Leben am Montmartre, in: Picasso 1905 in Paris, hg. v. Thomas Kellein und David Riedel (Ausst.-Kat. Kunsthalle Bielefeld), München 2011, S. 10–35, hier S. 18.
  4. Pierre Daix und Georges Boudaille, Picasso. Blaue und Rosa Periode, München 1966, S. 80.
  5. Fernande Olivier, Picasso und seine Freunde, Zürich 1982 [dt. Erstausgabe 1957], S. 112.
  6. David Riedel, ›…da war ich Maler!‹ Die Ankunft in Paris, in: Picasso 1905 in Paris, hg. v. Thomas Kellein und David Riedel (Ausst.-Kat. Kunsthalle Bielefeld, 25.9.2011–15.1.2012), München 2011, S. 64–110, hier S. 77.