Elf Gemälde Jan Vermeers machen die Schau in Dresden zu einem Höhepunkt des Ausstellungsherbstes 2021! Anlässlich der Restaurierung seines „Brieflesenden Mädchen am offenen Fenster“ organisiert die Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister eine fulminante Präsentation, die konzise auf das Werk zugeschnitten ist: ausgehend von bildbestimmenden Elementen wie der stehenden Protagonistin, dem Vorhang, der Frage nach Optik bzw. Vermessungstechnik. Stephan Koja, Uta Neidhardt und Arthur K. Wheelock Jr. kuratierten eine Schau zur Genremalerei der 1650er und 1660er Jahre, die mitnichten „nur“ den Kontext des einen Bildes beleuchtet. Nein, die niederländische Genremalerei und Jan Vermeer werden als „moderne“ Bildgattung und als Kunstschaffender begreifbar (→ Jan Vermeer: Biografie).
Deutschland | Dresden:
Semperbau am Zwinger
10.9.2021 — 2.1.2022
„Brieflesenden Mädchen am offenen Fenster“ ist eines der weltweit bekanntesten Werke der holländischen Malerei des Goldenen Zeitalters. Es entstand zwischen 1657 und 1659 in der Werkstatt des Delfter Malers Jan Vermeer (1632–1675 → Jan Vermeer: Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster). Für die Sammlung des sächsischen Kurfürsten Friedrich August II. wurde es 1742 in Paris erworben und befindet sich seitdem in der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister. Wohl seit dem 18. Jahrhundert verbarg eine Übermalung das nun freigelegte Bild im Bild hinter der Briefleserin: Es erschien ein Cupido mit Bogen, der auf einer Maske steht. Mit viel Vorsicht könnte dieses Motiv aus der Emblemliteratur des 16./17. Jahrhunderts als Hinweis auf die die aufrichtige Liebe gedeutet werden. Caesar van Everdingens „Amor mit Glaskugel“ (um 1655–1660, Privatsammlung) weist hierfür den Weg. Als Vorbild für seine Gestaltung konnte ein Amor nach François Du Quesnoy identifiziert werden. Neben der brillanten Malerei, die unter anderem am Stillleben im Vordergrund oder auch der Spiegelung der Lesenden im Fenster deutlich wird, erhielt das Gemälde durch die Kunst der Restaurator:innen seine ursprüngliche, wohl positiv moralisierende Bedeutung zurück.
Johannes, resp. Jan Vermeer ist der berühmteste Genremaler der niederländischen Barockkunst des 17. Jahrhunderts. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt, werden dem Maler heute etwa 37 Ölgemälde zugeschrieben. Um den in Delft ansässigen Künstler entstand in den letzten Jahrzehnten ein Hype, der nicht nur von berühmten Kompositionen, sondern auch von der Erzählung seines Bankrotts genährt wurde und wird. Dass die Dresdner Ausstellung mit elf Gemälden, also nahezu einem Drittel des Gesamtwerks aufwarten kann, zeigt die hohe internationale Reputation der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, seiner Mitarbeiter:innen und des Gastkurators Arthur K. Wheelock Jr. von der National Gallery in Washington1
Ergänzt wird die Vermeer-Ausstellung 2021 durch vier Dutzend Genrebilder seiner Zeitgenossen, darunter Pieter de Hooch, Gerard ter Borch, Gabriel Metsu, Gerard Dou, Frans van Mieris der Ältere. Diese bildeten in den 1650er und 1660er Jahren ein „Netzwerk“ gleichgesinnter Künstler, die für einen wachsenden Markt und interessierte Sammler ruhige Alltagsszenen ins Bild setzten. Überraschend neu an ihren Werken ist, wie sie die unter französischem Einfluss verfeinerte Kultur der Niederlande in stimmungsvoller, die Malerei als solche betonende Weise thematisieren. Die beliebtesten Motive der 1650er und 1660er Jahre reichen von musizierenden, Spitzen klöppelnden, lesenden oder Briefe schreibenden, meist jungen Frauen bis zu amourösen Szenen. Jeder Künstler entwickelte seine eigene Handschrift, sei es der Hyperrealismus von Gerard Dou, die glänzenden Seidenstoffe von Ter Borch, die überzeugende Perspektive bei De Hooch oder auch der lebhafte Einblick in die weibliche, häusliche Welt2, für den Gabriel Metsu von seinen Zeitgenossen explizit gelobt wurde. Jan Vermeers Stellung in diesem Kräftefeld von Kreativen ist von einer unnachahmlichen Sensibilität geprägt, die ihn (manchmal) sehr nahe an seine in Gedanken oder eine Tätigkeit versunkene Protagonistinnen treten ließ. Sein punktartiger Farbauftrag, ein Resultat seines Einsatzes der Camera obscura, die relative Unschärfe des Wiedergegebenen und der weiche Einsatz von Licht unterscheiden Vermeers Bilder von jenen seiner Zeitgenossen. Obschon Vermeer dem Vorbild seiner älteren Zeitgenossen folgte, allen voran ab den späten 1650ern Gerard ter Borch, war er in der Lage, seinen Bildern eine poetische und zeitlose Stimmung zu verleihen. Der Ausstellungstitel „Vermeer. Vom Innehalten“ unterstreicht die stille Intimität seiner Bilder.
Die beiden frühesten Gemälde Vermeers in der Ausstellung – „Diana und ihre Gefährtinnen beim Bade“ (um 1653/54, Mauritshuis, Den Haag) und „Bei der Kupplerin“ (1656, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden) – zeigen den thematischen Schwenk ihres Schöpfers Mitte der 1650er Jahre. Über Vermeers Ausbildung ist bekanntlich nichts überliefert. Gesichert ist seine Anwesenheit in Delft 1652, als sein Vater starb. Ein Jahr später wurde der Maler in die Lukasgilde aufgenommen und heiratete Catharina Bolnes, deren Mutter eine kleine Kunstsammlung u.a. mit Utrechter Meistern besaß. In dieser Phase war Vermeer bereits mit Gerard ter Borch bekannt, der die malerische Umsetzung von Vermeers stillen Figurenbildern stark beeinflusste.
Die frühe, mythologische Darstellung von Diana lässt erahnen, dass Vermeer anfangs im klassischen Repertoire sein Glück versuchte. Warum er sich gegen Ende des Jahrzehnts auf die Schilderung von häuslichen Interieurs konzentrierte, kann noch nicht befriedigend beantwortet werden. Unter den Zeitgenossen galten diese Motive als „modern“. Erst durch die Beifügung von Objekten bzw. im Fall des „Brieflesenden Mädchens am offenen Fenster“ (um 1657/59, Dresden) eines Gemäldes an der bildparallel abschließenden Wand im Hintergrund lud Vermeer seine alltäglichen Kompositionen mit moralisch-philosophischen Überlegungen auf. Arthur K. Wheelock Jr. vertritt daher in seinem Katalogbeitrag die These, Jan Vermeer als „Klassizist unter den Genremalern“ zu sehen.3 Sein Interesse für Perspektivkonstruktionen, Lichtführung und Lichteffekten spiegelt die wissenschaftliche Community seiner Heimatstadt Delft wider, wo Jacob Spoors und Anthonie van Leeuwenhoek die Forschung auf den Gebieten Optik und Vermessung vorantrieben. Der vergleichende Blick auf Werke von Ter Borch und dem erzählerisch begabten Gabriel Metsu zeigt die herausragende Stellung des Delfters. Umso erstaunlicher ist, dass Vermeer kurz nach seinem Ableben vergessen und erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckt wurde.
Mit Ausnahme von „Häuseransicht in Delft (Die kleine Straße)“ (um 1658, Amsterdam, Rijksmuseum) kreist Vermeers Bildwelt in Dresden um die Sphäre der Frauen, das Interieur. Dass „Der Geograph“ (1669) aus dem Städel Museum in Frankfurt ebenfalls in seinem Studierzimmer gezeigt wird, ermöglicht, ihn mit all seinen Büchern und Werkzeugen ins Bild zu setzen. Die in Dresden gezeigte Auswahl an Werken reicht von „Das Mädchen mit dem Weinglas“ (um 1658, Braunschweig), „Die unterbrochene Musikstunde“ (um 1658/59, The Frick Collection), „Briefleserin in Blau“ (um 1663, Amsterdam), der moralisierenden „Frau mit der Waage“ (1662–1665, Washington), der „Jungen Dame mit dem Perlenhalsband“ (um 1662–1665, Berlin) zur „Stehenden Virginalspielerin“(um 1670/72, London).
Aus diesem Anlass plant die Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden die Ausstellung „Vermeer“, die in den Sonderausstellungsräumen des Semperbaus am Zwinger in nur einer Ausstellungsstation gezeigt werden soll. Kern der Ausstellung bilden das „Brieflesende Mädchen am offenen Fenster“ und weitere zehn Gemälde Vermeers, die zu dem Bild in enger Beziehung stehen. Etwa 40 bis 50 Werke der holländischen Genremalerei der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, darunter Hauptwerke von Pieter de Hooch, Frans van Mieris, Gerard ter Borch, Gabriel Metsu, Gerard Dou, Emanuel de Witte präsentieren das künstlerische Umfeld Vermeers, mit dem er in engem Austausch stand. Ausgesuchte Beispiele anderer Kunstgattungen wie Skulpturen, Druckgrafik, Porzellan werden in sinnfälliger Beziehung zu einzelnen Gemälden die Ausstellung bereichern. Der Maltechnik und Restaurierung der „Briefleserin“ wird im Ergebnis des Forschungsprojektes ein eigenes Ausstellungssegment gewidmet, um den komplexen, experimentellen Entstehungsprozess des Bildes zu verdeutlichen.
Johannes Vermeer | Dirck van Baburen | Abraham Bloemaert (Werkstatt) | Gerard ter Borch | Quiringh van Brekelenkam | Adam de Coster | Gerard Dou | Pieter Janssens, gen. Elinga | Caesar van Everdingen | Bartholomeus van der Helst | Gerard Houckgeest | Pieter de Hooch | Willem Kalf | Jacob van Loo | Cornelis de Man | Gabriel Metsu | Frans van Mieris | Willem van Mieris | Caspar Netscher | Jacob Ochtervelt | Pieter Cornelisz. van Slingelandt | Wallerant Vaillant | Jan Verkolje | Hendrick van Vliet | Daniel Vosmaer | Emanuel de Witte
mit Grafiken von: Cornelis Boel | Johannes Janssonius | Coenraet Decker | Anton Heinrich Riedel | Albert Henry Payne | Hugo Burkner |
mit einem Putto von Johan Larson (zugeschrieben) nach François Du Quesnoy sowie einer maltechnischen Kopie des „Brieflesenden Mädchens am offenen Fenster“ (2001) von Sabine Bendfeldt
Der Subskriptionspreis von 34,00 € gilt bis 09.09.2021. Danach kostet der Band 48,00 €.