Eigentlich war das gesamte beruflicher Leben von Vincent van Gogh ein Misserfolg. Bevor er sich mit 27 Jahren entschloss, Maler zu werden, hatte er bereits als Hilfslehrer, Buchhändler, Laienprediger und Verkäufer in der renommierten Kunsthandlung Goupil & Cie gearbeitet. Genauso wenig erfolgreich war er im Umgang mit Frauen und seiner Familie, so dass er seine Bilder später sogar nur mit „Vincent“ signierte, um zu demonstrieren, dass er „kein van Gogh“ mehr sein wollte. Den Lebensunterhalt konnte er genauso wenig finanzieren, und sein jüngerer Bruder Theo, der ihm das gesamte Leben treu zur Seite stand, musste ihm ständig Geld schicken. Die Reputation van Goghs änderte sich erst nach seinem Freitod 1890. Vermehrt wurden seine Gemälde in Ausstellungen gezeigt, seine Briefe voller Kunsttheorie ediert und übersetzt, wodurch der Künstler zum „Vater der Moderne“ werden konnte. Was seine Ölbilder betrifft, gehört van Gogh heute zu den meistreproduzierten und den teuersten Künstlern aller Zeiten.
Österreich | Wien: Albertina
5.9. – 8.12.2008
Dass Vincent van Gogh aber auch ein außergewöhnlicher Zeichner war, dass die malerische Qualität seiner Ölgemälde in vieler Hinsicht ihre Einzigartigkeit dem Zeichenstil des Malers verdankte, ist bislang noch wenig allgemein bekannt. Den etwa 840 Gemälden, die zwischen 1880 und 1890 entstanden sind, stehen an die 1.200 Arbeiten auf Papier gegenüber. Die Arbeit mit Zeichenstift und Rohrfeder ging nur zu Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit der Ölmalerei voraus. In der Zeichnung brachte er sich als Autodidakt Perspektive und die Wiedergabe von Dreidimensionalität bei, in der Zeichnung thematisierte er erstmals sein Interesse für die Benachteiligten der Gesellschaft. In der Zeichnung wird deutlich, wie sehr er von Reproduktionsgrafiken des von ihm hochverehrten Jean-François Millet beeindruckt war. Die Zeichnungen bezeugen seinen rasanten Fortschritt, seine ersten eigenständigen Landschaftskompositionen aus Den Haag und Nuenen. Die Ölgemälde hingegen sind Belege für seine Beschäftigung mit Impressionismus, Neoimpressionismus der Pariser Avantgarde und der Freude an der Farbe in seinem „Atelier des Südens“.
Die Ausstellung der Albertina geht streng chronologisch vor: So dominieren in den ersten beiden Räumen dunkle, erdige Töne und sozialkritischer Themen der Haager Schule, die sich schlagartig in Paris zu hellen Buntfarben und freundlichen, wenn auch teils überraschenden Stadtansichten wandeln (ab 1886). Fast möchte man diese Veränderung als schlagartigen Einbruch von Sonnenlicht und Farbe beschreiben. Nichtsdestotrotz war dem Holländer auch das winterliche Paris zu düster, so dass er im Februar 1888 die Reise in den Süden antrat. In einem Brief an seinen Bruder Theo schrieb er, dass man da die schönsten Gegensätze von Rot und Grün, von Blau und Orange, von Schwefelgelb und Lila von Natur aus finde.
Doch nicht nur ein Hunger nach Farben trieb van Gogh nach Arles, sondern auch seine Vorstellung von Kunst und Leben. Dem modernen Leben mit all seinen Strapazen, seiner Schnelligkeit stellte Vincent van Gogh die Funktion der Kunst als Hoffnungsträgerin entgegen. Er erträumte sich eine Bruderschaft von Malern, die in einer Kolonie zusammenleben, „wie Soldaten in Reih und Glied“ arbeiten und sich gegenseitig befruchten sollten. Das „Atelier des Südens“, im „Gelben Haus“ in Arles beheimatet, sollte aufgrund des Zerwürfnisses mit Paul Gauguin jedoch nur für neun Wochen existieren (→ Vincent van Gogh : Paul Gauguin in Arles).
Das Ziel der „Mission Süden“ reifte in van Gogh in den ersten Monaten seines Aufenthaltes: Der Künstler müsse ein „nie dagewesener Meister der Farbgebung“ sein (nach Richard Wagners Manifest „Das Kunstwerk der Zukunft“, 1850), und sein Aufenthalt in Paris und unter den theoretisierenden Neoimpressionisten hätten nur zur Unterdrückung seiner Persönlichkeit geführt. Individualität und Farbigkeit stellte van Gogh augenblicklich ins Zentrum seines Kunstschaffens. Das Ergebnis sind jene heute so berühmten, leuchtend bunten aber nie schrill oder aufdringlich wirkenden Gemälde und die faszinierenden Zeichnungen seiner Umgebung. Wenig Beachtung fand bisher, dass die so typische Pinselführung dieser Zeit, ihre Dynamik und ihr Rhythmus, das Ergebnis einer jahrelangen Beschäftigung mit den Möglichkeiten der Zeichnung war. Striche, Tupfer und Arabesken, mit denen van Gogh die unterschiedlichen Felder mit der Rohrfeder ausfüllte, prägen die Arbeiten auf Papier. Umgesetzt in Ölfarbe beginnen die Gemälde aus der Strichführung zu leben, verstärkt durch die genauso kontrastreiche wie unnaturalistische Farbigkeit. Gegenüberstellungen von Zeichnungen und Ölgemälden wie „Die Ernte“ zeigen diese Verbindung deutlich, diese grundsätzliche Einstellung des malenden Zeichners oder zeichnenden Malers.
Arbeiten aus der spätesten Schaffensphase, in der Vincent van Gogh bereits von Krankheit gezeichnet war, lassen die Sprengkraft seines Individualismus erahnen. Die Rohrfederzeichnungen wirken wie in Aufruhr geratene Flächenmuster, die Ölfarbe wird teils aus der Tube direkt auf die Leinwand aufgetragen. Bei allem Eindruck von ungezügelter Wildheit steckt doch hinter jedem Werk mehr als nur intuitives Gespür, eine unbewusst geführte Hand. In ständiger Auseinandersetzung mit seinem Bruder beschrieb van Gogh sein Vorgehen als kalkuliertes Denken. So überzeichnet seine Landschaften und Porträts auch anmuten, so intensiv der Farbeindruck auch sein mag, immer steckt Naturbeobachtung dahinter, immer versucht sich der Künstler im Motiv auszudrücken, versteht die Natur als Symbol für das Leben und Sterben des Menschen.
Wenn gelegentlich die Zeichnung im Vergleich zum Ölbild als das experimentellere Medium eines Künstlers begriffen wird, so trifft dies nur teilweise auf van Gogh zu. Zu Beginn seines künstlerischen Selbststudiums war die Zeichnung das Medium, in dem er erstmals Fertigkeiten und handwerkliche Routine übte. Sobald er sich einigermaßen sicher fühlte, griff van Gogh auch zum Pinsel und übertrug seine Erfahrungen auf die Leinwand. Ohne sich mit traditionellen Maltechniken zu beschäftigen, blieb er dieser Einstellung sein Leben lang treu: Das Anliegen der Albertina, Zeichnung und Malerei van Goghs nebeneinander zu zeigen, speist sich daher aus der Erkenntnis, dass Zeichnen für van Gogh nicht nur Vorbereitung, Skizze oder Nachzeichnung bedeutete, sondern genauso wie seine Gemälde ein eigenständiges, lebenslanges Wagnis.
Heute ist Vincent van Gogh hauptsächlich als Maler bekannt, der in seinen späten Jahren mit pastosem Farbauftrag, leuchtenden Farbkontrasten und dynamischem Pinselduktus zu einem der Väter der modernen Kunst werden sollte. Leicht wird dabei vergessen, dass er jedoch als 27-jähriger als Zeichner begann und sich autodidaktisch mit Hilfe der Arbeiten auf Papier eine profunde „Handschrift“ erarbeitete. Das Spätwerk, geschaffen ab 1889 in Arles, der Nervenheilanstalt Saint-Rémy und in Auvers-sur-Oise, lebt förmlich von seiner Beschäftigung mit dem zeichnerischen Strich, der erarbeiteten Variationsbreite. Diese Bedeutung der Zeichnung vor Augen habend, erscheint es heute eigentümlich, van Gogh auf dessen Gemälde zu reduzieren. Das Anliegen, Zeichnung und Malerei nebeneinander zu zeigen, speist sich aus der Erkenntnis, dass Zeichnen für van Gogh nicht nur Vorbereitung, Skizze oder Nachzeichnung bedeutete, sondern eigenständiges, lebenslanges Experiment.
Als sich Vincent van Gogh 1880 mit 27 Jahren entschied, Künstler zu werden, hatte er bereits einige Orientierungsschwierigkeiten in der Berufswelt hinter sich: Erfolglos hatte er sich als Hilfslehrer, Buchverkäufer, Laienprediger und Verkäufer in der renommierten Kunsthandlung Goupil & Cie versucht. Nichts, außer die profunde Schulung bei Goupil & Cie hätte darauf schließen lassen, dass sich diese Entscheidung anbahnte. So musste sich Vincent van Gogh auch die Grundlagen der Malerei selbst erarbeiten. Mit Hilfe von Lehrbüchern und den Künstlerkollegen Willem Roelfs, Anthon van Rappalt und Anton Mauve, mit denen er seine Werke besprach, bildete er sich autodidaktisch weiter (Vincent van Gogh im Borinage. Die Geburt eines Künstlers). Sind seine ersten Blätter noch deutlich unbeholfen, so entwickelte er innerhalb von nur zwei Jahren die Fähigkeit, für den von ihm sehr geschätzten Onkel Cor (Cornelis Marinus van Gogh) eine Serie von ausgearbeiteten Stadtansichten von Den Haag zu fertigen. Van Goghs Motivrepertoire umfasste in dieser Zeit bereits Stadtansichten, Landschaften sowie Charakterstudien von Bauern oder der verarmten Stadtbevölkerung. Vorbilder fand der Künstler in den von ihm besonders verehrten englischen Illustrationsgrafiken, die in Zeitschriften wie „The Grafic“ publiziert wurden. Sie entsprachen seiner Vorliebe für sozial-realistische Kunst (u. a. sammelte er über seinen Bruder Theo Reproduktionsgrafiken nach Gemälden von Jean-Francois Millet).
Zeit seines Lebens interessierte sich Vincent van Gogh für ländliche Gebiete (→ Vincent van Gogh. Von Paris nach Arles). Als er Ende des Jahres 1883 nach Nuenen (Nordbrabant) umsiedelte, wo der Vater eine Stellung als Pastor innehatte, hatte sich van Gogh bereits eine beachtliche Basis an Materialkenntnis und handwerklicher Fähigkeit erarbeitet. Die im folgenden Frühling entstandenen Zeichnungen der Umgebung fangen die Landschaft auf poetische Weise ein, sind technisch sehr ausgearbeitet und tragen die Signatur des Künstlers. Van Gogh dachte wohl daran sie zu verkaufen, was jedoch nicht gelang. Da er sich immer mehr der Malerei widmete, haben in der Folge einige Zeichnungen den Charakter von Studien und Detailzeichnungen, u. a. für das berühmte Gemälde „Die Kartoffelesser“ (1885).
Die Erfahrungen, die Vincent van Gogh ab 1886 in Paris machte, sollten seine Kunst vollkommen verändern. Als er ankam, musste er entdecken, dass sein Malstil im Vergleich zu den Impressionisten bzw. Pointillisten dunkel und altmodisch erschien (→ Seurat, Signac, Van Gogh – Wege des Pointillismus). Das Malen gewann in diesen Monaten die Oberhand und die Arbeit an der Farbe war sein vordringlichstes Ziel. Es ist daher ein fast logischer Schritt, dass ab 1887 die Farbe, transparent aufgetragen und farbenfroh gewählt, auch in seinen Zeichnungen eine zentrale Stellung einnahm, wie es das Bild „Die Seine-Brücken bei Asnières“ von 1887 aus der Stiftung Sammlung E.G. Bührle zeigt. Mit Pinsel und Farbstift in der Hand dachte van Gogh über Simultan- und Komplementärkontraste nach. Auch erste echte Aquarelle entstanden in Paris, wo er u. a. am Montmartre zeichnete. Anleihen für Farbwahl und Komposition fand der Holländer bei den japanischen Farbholzschnitten (Malerei und Kalligraphie in Japan/ Monet, Gauguin, van Gogh …. Inspiration Japan) sowie in den Werken von Claude Monet, Henri de Toulouse-Lautrec und Paul Signac.
Erst in den letzten beiden Lebensjahren entstanden die heute so berühmten, leuchtend bunten aber nie schrill oder aufdringlich wirkenden Gemälde. Wenig Beachtung fand bisher, dass die so typische Pinselführung dieser Zeit, ihre Dynamik und ihr Rhythmus, das Ergebnis einer jahrelangen Beschäftigung mit den Möglichkeiten der Zeichnung war. Striche, Tupfer und Arabesken, mit denen van Gogh die unterschiedlichen Felder mit der Rohrfeder ausfüllt, prägen die Arbeiten auf Papier in dieser Zeit. Die Farbe bleibt den Arleser Gemälden vorbehalten. Sie bestechen durch ihre überlegte aber auch naturferne Farbigkeit. Van Gogh selbst schrieb in einem Brief an seinen Bruder Theo, er sei nach Südfrankreich gereist, „weil man da […] die schönsten Gegensätze von Rot und Grün, von Blau und Orange, von Schwefelgelb und Lila von Natur aus findet.“ Um seinem Bruder eine Vorstellung von seinen Fortschritten geben zu können, kopierte er die Gemälde gelegentlich als Aquarelle und schickte ihm diese.
Nach dem neun Wochen dauernden Aufenthalt von Paul Gauguin) brach bei Van Gogh eine bis heute nicht restlos aufgeklärte Krankheit aus. Die Ärzte diagnostizierten eine Form der Epilepsie, die in Schüben auftrat. Monate der Untätigkeit wechselten mit Phasen der Arbeit, seine Motivwahl wird nun von der ehemaligen Klosteranlage der Nervenheilanstalt Saint-Rémy bestimmt: der Ausblick auf ein Kornfeld von seinem Fenster, die Parkanlage, der Himmel als „Sternennacht“ (→ Vincent van Gogh: Die Sternennacht). An die Stelle des Tiefenraumes tritt ab 1889 immer stärker die Betonung der Fläche, Die Stilisierung des Motivs wie die „züngelnden“ Zypressen und eine immer kunstvollere Strichführung gehen Hand in Hand. Ohne sich gänzlich vom Naturvorbild zu lösen, entwickelte van Gogh eine stark reduzierte Form, die sich immer mehr seinem Pinsel- wie Bleistift-Strich unterordnete.
Van Goghs nur zehn Jahre dauernde künstlerische Entwicklung, die durchaus als rasant bezeichnet werden kann, lässt sich aus der Gegenüberstellung von Zeichnung und Gemälde Schritt für Schritt klären: von ersten Fortschritten in der Linienführung, der Beherrschung von Raum und Volumen bis hin zur Überzeichnung der Form zugunsten einer Wesensschau. Die Dynamisierung des Pinselstriches, die Verwendung von so genannten „Farbenlinien“ oder auch der „beseelte Strich“ - und damit die Parallelität von Zeichnung und Malerei - lassen sich gut an den spätesten Schöpfungen van Goghs nachvollziehen. Obwohl der Künstler durch Krankheit immer wieder am Arbeiten gehindert war, schuf er doch noch Hunderte von Zeichnungen und Gemälden in den letzten Lebensmonaten. Allein in den 70 Tagen in Auvers-sur-Oise entstanden 70 Gemälde und 60 Zeichnungen. Indem er Farben und Strich in den Dienst des Ausdrucks stellte, ging er über die Maltechnik der Impressionisten hinaus. Lebendigkeit, Intensität, Unmittelbarkeit bei gleichzeitiger Übertreibung, Naturferne und Verweis auf Innerlichkeit kennzeichnen Energie und Ausstrahlung der späten Arbeiten – sowohl der gemalten wie gezeichneten.
Wenige seiner Zeitgenossen haben ein ähnlich vollwertiges gezeichnetes Œuvre hinterlassen wie Vincent van Gogh. Der vergleichende Blick zeigt die Bedeutung der Zeichnung für den Maler als ebenbürtiges Experimentierfeld aber auch eigenständiges Medium.