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Henri de Toulouse-Lautrec

Wer war Henri de Toulouse-Lautrec?

Henri de Toulouse-Lautrec, eigentlicht Graf Henri Marie Raymond de Toulouse-Lautrec-Monfa (Albi 24.11.1864─9.9.1901 Château Malromé, Saint-André-du-Bois) war ein französischer Künstler der Klassischen Moderne (→ Klassische Moderne). Toulouse-Lautrec ging als Revolutionär der Plakatkunst aber auch „artiste maudit“, als Außenseiter der Gesellschaft, in die Kunstgeschichte ein. Am 24. November 1864 als Spross einer uralten französischen Adelsfamilie in Albi (Südfrankreich) geboren, stand ihm ein sorgenfreies Leben voller Jagden, Spleens und Kunstgenuss bevor, wären nicht seine beiden Eltern Cousin und Cousine gewesen. Seine Berhinderung führte nicht nur zur frühen Hinwendung zur Kunst, sondern auch zum Wunsch, professionell als Maler in Paris aufzutreten. Toulouse-Lautrecs Werk spannt sich von frühen Ölstudien, in denen er sein Elternhaus und die Pferdeleidenschaft der männlichen Mitglieder dokumentierte und reflektierte, über impressionistische Porträts zu phänomenalen Plakaten, Studien zu den berühmten Stars der Nachtclubs und der außergewöhnlichen Serie „Elles“.

 

Toulouse-Lautrecs Krankheit

Das nahe Verwandtschaftsverhältnis von Henri de Toulouse-Lautrecs Eltern, sie waren Cousin und Cousine ersten Grades, war Auslöser eines erblichen lysosomalen Enzymdefekts mit Osteosklerose des Skeletts (Pyknodysostose1), der Kleinwuchs und Knochenbrüchigkeit zur Folge hatte und sich in der Pubertät verstärkt zu zeigen begann. 1878 und 1879 brach sich Toulouse-Lautrec hintereinander beide Oberschenkel, was zu monatelanger Rekonvaleszenz und der Entscheidung, Künstler werden zu dürfen, führte.

 

Hochadeliger Tiermaler

Dass sich der hochadelige Henri de Toulouse-Lautrec für Kunst interessierte, war nichts Ungewöhnliches, folgte er damit dem Beispiel seines Vaters und seines Onkels. Beide übten sich im Aquarellieren und pflegten Kontakte zu berühmten Künstlern, die sich vornehmlich mit realistisch-eleganten Tierdarstellungen – allen voran hochgezüchtete Rennpferde – beschäftigten. Zu den von Toulouses‘ Vater frequentierten Künstlern zählten vor allem der Tiermaler René Pinceteau (1839–1914), der Maler des Montmartre Jean Louis Forain (1852–1931), der Tiermaler John Lewis Brown (1829–1890), dem Jagd- und Genremaler Edmond Petijean (1844–1925), der Marienmaler Ulysse Butin (1822–1908) und der Tierbildhauer Charles Marie du Passage (1843–1926). Erste um 1880 und 1881 datierte Ölskizzen zeigen Toulouse-Lautrec als Pferdeliebhaber, der über die Malerei Kontakt zu der für ihn verlorenen Welt der adeligen Jagd und des Rennsports aufrechterhielt.

Ein kleinformatiges Ölgemälde zeigt seinen Vater als Lenker eines wild vorwärtsgaloppierenden Vierspänners, mag zudem einen Einblick in das schwierige Verhältnis zwischen Vater und Sohn geben. Letzterer wurde als Kind von seiner Großmutter als mutiger Reiter beschrieben, konnte aber ab 1878/79 körperlich beeinträchtigt diesen Erwartungen nicht mehr gerecht werden. Die Mutter schildert Toulouse-Lautrec als still am Tisch sitzende oder handarbeitende Frau, stets mit gesenktem Blick. In ihren Bildnissen gelang ihm erstmals eine überzeugende, impressionistische Auffassung einer Person. Allerdings verschwimmt sie fast mit ihrer Umgebung.

 

Ausbildung in Paris

Ab April 1882 studierte Henri de Toulouse-Lautrec bei Léon Bonnat (1833–1922), dem „Maler der Millionäre“. Obwohl sehr geübt als Zeichner, schätzte ihn sein Lehrer offenbar nicht als außergewöhnliches Talent ein. Als Bonnat an die École des Beaux-Arts wechselte, musste Toulouse bei Cormon Aufnahme finden, da ihn sein Lehrer nicht an die neue Ausbildungsstätte mitnahm. Cormon, ein Realist mit Ambitionen im historischen Fach, ließ seine Studenten gewähren und wurde so zu einem der einflussreichsten Lehrer des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, sogar Henri Matisse besuchte noch 1898 sein Studio. Im Atelier von Cormon traf Toulouse auf wichtige Maler der kommenden Generation. Er schloss in den folgenden Jahren Freundschaften mit: Louis Anquetin (1861–1932), François Gauzi (1861–1933), Emile Bernard (1868─1941) und Vincent van Gogh (1853–1890).

 

Henri de Toulouse-Lautrec und der Impressionismus

Bevor Toulouse-Lautrec zum Bild-Revolutionär des Montmartre wurde, durchlief er eine Phase des Impressionismus. Bildnisse vornehmlich seiner Mutter Comtesse Adèle Zoë Marie Marquette (geb. Tapié de Céleyran, 1841–1930) zeigen, wie er sich die Licht- und Farbmalerei seiner verehrten Vorgänger aneignete. Alltägliche Szenen im Schloss und im Garten beobachtete er mit Verve und schnellem Pinsel. Die hellen Farben, der offene Strich und der Effekt des Unvollendeten, sich Bewegenden verstärken den Eindruck einer Momenthaftigkeit, die sich in den Werken zur stillgelegten Ewigkeit steigern. In den Gemälden aus dem Jahr 1882 scheinen die Figuren mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, erste Experimente mit der Aufteilung der Bildfläche führen zu asymmetrischen Kompositionen wie z. B. „Der junge Routy in Céleyran“ (1882, Albi, Musée Toulouse-Lautrec). Die früheste erhaltene „Aktstudie“ (1882/83, Musée Toulouse-Lautrec, Albi), ein „Selbstbildnis vor einem Spiegel“ (um 1882/83, Albi) und Porträts seines damaligen Lieblingsmodells, der rothaarigen Carmen Gaudin zwischen 1884 und 1886, wie auch seiner Freunde belegen den schnellen Fortschritt Toulouse-Lautrecs in der Ölmalerei. Zu seinen neuen Heroen zählten: wegen der Pinselführung Camille Pissarro (1830–1903), wegen der Farbigkeit Pierre-Auguste Renoir (1841–1919) und wegen des unbearbeiteten Grundes Raffaëlli (1850–1924). Am meisten verehrte er aber Edgar Degas (1834–1917), der von 1879 bis 1886 sein Atelier in unmittelbarer Nachbarschaft zu Toulouse-Lautrec hatte. Toulouse traute sich jedoch nicht, bei Degas vorzusprechen.

 

Toulouse-Lautrec, Maler des Montmartre

Toulouse-Lautrec mietete 1886, nachdem Cormon sein Atelier aufgelöst hatte, in Montmartre (→ Schirn analysiert den Montmartre) ein Atelier in der Rue Lepic und begab sich auf die Spuren des gerade eingemeindeten Bezirks mit seinen Vergnügungslokalen, den Halbweltdamen, Sängerinnen und Sängern, Wäschemädchen, englischen Touristen, Vergnügungssuchenden, Absinthtrinkende Arbeiterinnen sowie deren wohlhabenden Freier. Da sich Toulouse aufgrund seiner geringen Größe (152 cm), seines Aussehens und seiner kränklichen Gesundheit als Ausgestoßener („artiste maudit“) fühlte, schloss er bald rege Kontakte zu den Dienstleisterinnen und Dienstleistern der modernen Gesellschaft. Seine „Glanzzeit“ erlebte die „Butte“ in den Jahren zwischen 1885 und 1910, dann wurde der Montmartre vom Montparnasse abgelöst. Im Jahr 1900 verfasste Georges d`Avenel eine Artikelserie über die Mechanismen des modernen Lebens, in der er über die Pariserin schrieb:

„Sie ist eine Ikone, die sexy und zugleich unerreichbar sei, eine Göttin und gleichzeitig eine Dirne, […] halb Märchenprinzessin, halb Straßenmädchen.“2

Als „femmes de brasserie“, „grisette“ (lebenshungrige Frauen als Gefährtinnen), „lorette“ oder „gigolette“ (Prostituierte) bezeichnet, werden sie vom Künstler im Café sitzend, im Bordell posierend, d. h. mehr oder weniger offensichtlich bei ihren erotischen Tätigkeiten gezeigt. Während die Einblicke ins gutbürgerliche und reich ausgestattete Bordell im Werk von Toulouse-Lautrec eine gewisse Beiläufigkeit haben, vor allem die Lithografieserie „Elles“, werden die Schilderungen nach der Jahrhundertwende explizierter, ungeschönter und weniger romantisiert (vgl. Pablo Picasso).

 

Henri de Toulouse-Lautrec im Moulin Rouge

Da Cormon 1886 sein Studio auflöste, musste sich Toulouse-Lautrec ein eigenes Atelier suchen. Entgegen des Wunsches seines Vaters fand er es am Montmartre, wo er im selben Haus wie Federigo Zandomeneghi (1841–1917) und Suzanne Valadon (1867–1938) wohnte. Toulouse-Lautrects Freund Gauzi behauptete, diese Neuorientierung wäre auf den Einfluss des italienischen Malers Federico Zandomenighi (1841–1917), einem Freund von Degas, zurückzuführen. Über ihn hätte Lautrec sich mit dem Impressionismus vertraut gemacht und seine Palette aufgehellt. Auch seine Art zu malen, die zwischen Malerei und Zeichnung steht und die den Malgrund nicht mehr völlig mit Farbe zudeckt, wäre in diesem Jahr erstmals aufgetreten. Suzanne Valadon war von Puvis de Chavannes entdeckt worden und wurde das Modell von Renoir und Toulouse-Lautrec. Sie lebte in diesem Haus seit Dezember 1883, nachdem sie ihren Sohn Maurice Utrillo geboren und ihr Degas geraten hatte, selbst mit dem Malen zu beginnen. Toulouse-Lautrec und Valadon hatten zwischen 1886 und 1888 eine mehrjährige Beziehung.

Henri de Toulouse-Lautrec begann am Montmartre seine Aufmerksamkeit auf die Umwelt zu lenken. Anstelle der bisher von ihm angewandten traditionellen, tonigen Malerei nutzte er nun Materialien und eine Technik, mit der er schnappschussartige Eindrücke erzielte. Die Ölmalerei ergänzten Kohle, Pastellkreide und Wasserfarben auf Karton oder festes Papier als Malgrund. Erst nachträglich zog er diese Arbeiten auf Leinwand auf. Zu den außergewöhnlichsten Mitteln zählt die „peinture à l’essence“ (Terpentinmalerei), die einen sehr wässrigen, dünnen Farbauftrag ermöglicht. Dafür wird der Ölfarbe durch Eintrocknen Flüssigkeit entzogen, anschließen wird sie pulverisiert und mit sehr viel Terpentinöl oder einem anderen Lösungsmittel zu einer dünnflüssigen Masse vermischt. Von 1888 an wurden fast alle Ölbilder mit dieser „Essenz“ ausgeführt. Große Teile des Malgrunds ließ Toulouse-Lautrec unbearbeitet, sodass die Bilder immer mehr wie große Zeichnungen aussahen.

Als am 5. Oktober 1889 das Moulin Rouge eröffnet wurde, trat Toulouse-Lautrec in eine neue Phase seines (künstlerischen) Lebens ein. Der Besitzer des Moulin Rouge, Joseph Oller, präsentierte ein großformatiges Zirkusbild von Toulouse-Lautrec in der Eingangshalle, das ihn schlagartig berühmt machte. Toulouse-Lautrec wurde zum ersten Stammgast mit reserviertem Tisch. Hier fand er seine berühmtesten Motive, die ab 1890 zu Bildern wurden! Der Ésprit des Montmartre führte zur wahren künstlerischen Explosion von Toulouse-Lautrec. Tagsüber arbeitete er an Gemälden und häufiger noch an Druckgrafiken und Plakaten, während er in der Nacht in die zwielichtige Amüsiermeile eintauchte. Fünf Jahre später war der junge Künstler über die Landesgrenzen bekannt, Alkoholiker und verbraucht.

 

Toulouse-Lautrec's Plakate: Kunst für Alle – an den Wänden der Straßen und im Eigenheim

Unter dem Motto „Kunst für alle“ stand die Plakatkunst in den 1880er und 1890er Jahren hoch in Mode! Sogar Kunstkritiker schrieben Rezensionen und Künstler wie Jules Chéret, Théophile Alexandre Steinlen und Alphonse Mucha machten sich und ihre Stars über die Grenzen der Stadt hinaus berühmt. Triumphiert auf dem ersten Plakat für das Moulin Rouge, gestaltet von Chéret, noch ein junges, hübsches Mädchen in duftiger Rokoko-Manier, so wandelte sich das Bild ab 1891 gewaltig! Henri de Toulouse-Lautrec hielt ab nun die größten Stars in realistischer Weise fest: La Goulue, die Gefräßige und 1891 eine Debütantin am Moulin Rouge, Valentin Désossé, der Schlangenmensch mit ewig ernster Miene prangen großflächig und auf ihre Umrisslinien reduziert vor einer schwarzen Menge. Die Silhouettenwirkung wird von Toulouse bis zum Äußersten gesteigert. Das Zentrum des Plakats bleibt hingegen weiß – eine Leerstelle, wo der Hintern der Protagonistin vorzustellen ist. Der Blick unter den Rock und der Auftritt auf der Bühne wurden zu Toulouses‘ erfolgreichsten Strategien. Sängerinnen wie Yvette Guilbert, May Belfort und Jane Avril oder der Sänger Aristide Bruant inszenierten sich mit Hilfe ihrer Markenzeichen. Vereinfachung der Formen, Reduktion der Farben und große Figuren nutzte er für die Verführungskraft der Kunst.

Gleichzeitig begann sich Toulouse-Lautrec zu einem der herausragendsten Künstler der Farblithografie zu entwickeln. Neben den berühmten Plakaten entstanden ab 1890 Drucke, die teilweise nach Ölgemälden gestaltet wurden. Besonders nach Mitte der 1890er Jahre, als Überarbeitung und Alkoholmissbrauch sich nicht mehr verheimlichen ließen, und die Kreativität des Künstlers nachließ – versuchten Toulouse-Lautrecs Freunde ihn vom Trinken abzuhalten, indem sie ihn ermutigten, seine Gemälde in Drucke umzusetzen. Einige wenige Motive – wie „Die Passagierin von Kabine 54 – Promenade in der Yacht“ (1895, Budapest, Szépművészeti Múzeum), „Brustbild Mademoiselle Marcelle Lender“ (1895, Paris, Bibliothèque Nationale de France) und „Die sitzende Clownesse – Mademoiselle Cha-U-Kao“ (1896, Paris, Bibliothèque Nationale de France) – sind auch als Probedrucke erhalten. Vor allem an den fünf Probedrucken des Porträts von Marcelle Lender lässt sich die Schwierigkeit nachvollziehen, die ein mehrfarbiger Druck hervorruft. Für jeden Farbton muss eine eigene Lithoplatte vorbereitet und dann korrekt über den schon existierenden Druck abgedruckt werden.

 

Rückzug ins Bordell

Der arbeitsintensiven Anfangsphase folgte eine der Ernüchterung. Es scheint, als hätte Toulouse-Lautrec ab 1894 seine Katerstimmung im Bordell auskuriert. Hier zog er für mehrere Monate mit Sack und Pack ein, brüskierte einerseits damit seine Familie und schuf andererseits außerordentliche Zeugnisse des Lebens in den „maisons closes“. Er erzählt von Freundschaften zwischen den Huren, schildert ihre menschliche Seite und lässt dabei meistens die Kunden weg. Das karikaturistische Element, das bereits seine Arbeiten für die Stars des Montmartre auszeichnet, wird in diesen reiferen Arbeiten zurückgedrängt.3

 

Elles

Im Jahr 1895 arbeitete Toulouse-Lautrec so gut wie nicht, seine Werke wurden aber zu neuen Höchstpreisen gehandelt. Die Druckgrafikserie „Elles“ zählt im Jahr 1896 zu den wichtigsten Werken, auch wenn sie sich anfangs auch aufgrund des hohen Preises von 300 Francs als unverkäuflich herausstellte.4

Erneut ist es die Welt der Freudenmädchen, die Toulouse-Lautrec schonungslos schildert. Stilistisch sind die Blätter höchst unterschiedlich und wechseln zwischen flächiger Gestaltung und realistisch-atmosphärischen Strichzeichnungen. Dass ihn dazu nicht nur das Werk von Degas inspirierte, sondern auch japanische Shungas eine Rolle spielten, mag der Kauf der „Uta-makura“ (Edo/Tokio 1788) von Utamaro in diesem Jahr noch unterstreichen.

Die elf Blätter schildern den Tagesablauf von Prostituierten in einem noblen Hotel. Sie sind nicht nur bei völlig alltäglichen Handlungen zu sehen, sondern auch häufig von hinten oder im Profil. Ob Toulouse-Lautrecs Auseinandersetzung mit den Grafiken des japanischen Künstlers Utamaro5 oder die Fotografie hierfür eine wichtigere Inspirationsquelle bot, kann nicht geklärt werden.

 

Therapie, Zirkus und Rückfall

Der jahrelange Alkoholmissbrauch und das große Arbeitspensum zeigten zunehmend Konsequenzen. Der ohnedies kränkliche Gesundheitszustand von Toulouse-Lautrec verschlechterte sich zusehens. Die Familie, vor allem sein Mutter, und Freunde versuchten ihn vom Trinken abzuhalten, indem sie ihn inspirierten Druckgrafiken nach älteren Gemälden anzufertigen. Wenn auch einige schöne Stücke entstanden, in denen sich Toulouse-Lautrec mit Jugendstil und Japonismus (→ Monet, Gauguin, van Gogh …. Inspiration Japan) auseinandersetzte, sollte er nie wieder seine alte Schaffenskraft zurückerhalten.

 

Entzug und Zirkus

Toulouse-Lautrec plagten Angstneurosen, Wutausbrüche, tiefe Depressionen und Wahnvorstellungen. Seine Mutter verließ Anfang Januar 1899 Paris, um ihre eigene Mutter in Albi zu pflegen. Ihrem Sohn teilte sie ihren Entschluss jedoch nicht mit. Ende Februar fiel Toulouse-Lautrec in ein Delirium tremens, hatte Anfang März einen Nervenzusammenbruch und wurde wohl ab 5. März in der privaten Nervenklinik von Dr. René Semelaignes in Neuilly interniert. Dort hatte er einen kalten Entzug, den der Maler an sich gut überstand. Am 17. März 1899 bat er Joyant um Lithosteine, ein Aquarellkästchen mit Sepia, Pinsel, Lithokreiden und Tusche sowie Papier. Nun entstanden jene faszinierenden Zirkus-Zeichnungen, mit denen sich Toulouse-Lautrec quasi aus der Nervenklinik freikaufte. Insgesamt 39 preziösen Arbeiten entstanden, aus denen keinerleit körperliche oder geistige Beeinträchtigungen abgeleitet werden können.

Am 17. Mai befanden die Ärzte daher, dass Toulouse-Lautrecs Zustand sich gebessert hätte, er entlassen werden könnte aber überwacht werden müsste. Nach einer Reise nach Le Crotoy am Ärmelkanal mit Paul Viaud, einem entfernten Verwandten und Freund, kehrte er im Herbst nach Paris zurück, wo er sich wieder für Pferde interessierte. Am 28. Oktober schrieb er dem englischen Verleger W. H. B. Sands, er wäre daran, ein Album über den Zirkus mit 20 bis 25 Farbtafeln vorzubereiten, das der Verlag Joyant, Manzi & Cie herausbringen wollte. Erschienen ist die Mappe allerdings erst vier Jahre nach dem Tod des Künstlers 1905. Für die Mappe „Toulouse-Lautrec au cirque. Vingt-deux dessins aux crayons de couleur“ nutzte man die hohe Qualität des neuen photomechanischen Druckverfahrens „chromotypogravure“ oder Chromotypographie.

 

Rückfall und Tod

Im Jahr 1900 wurde Henri de Toulouse-Lautrec wieder rückfällig. Als Jurymitglied der Pariser Weltausstellung, Abteilung Lithografie, wurde er mit dem Rollstuhl durch die Ausstellungshallen gefahren. Den Sommer verbrachte er am Meer und im Herbst war keine Rückkehr nach Paris denkbar. Ende März 1901 verursachte eine Gehirnblutung die Lähmung der Beine. Die Rückkehr nach Paris Ende April diente dazu, ein Atelier aufzulassen und einige Werke zu vollenden.

Kurz vor seinem Tod hatte er noch ein „Programm für „Der Totschläger“ von Émile Zola“ (1900, Mugrabi Collection) gestaltet und Porträts6 gemalt. Mit den sechs Gemälden zur Oper „Messalina“ von Isidore de Lara – darunter „Messalina steigt die Treppe herab“ (1900/01, Los Angeles County Museum of Art) – stellte er die Betrachter_innen zur skandalumwitterten Gattin des römischen Kaisers Claudius mitten auf die Bühne, so wie in den Zeichnungen zuvor in die Zirkusarena.

Die Abreise in den Süden erfolgte am 15. Juli. Nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt, starb Henri de Toulouse-Lautrec am 9. September 1901 im Alter von 36 Jahren.

 

Nachruhm

Toulouse-Lautrec zählt heute zu den bekanntesten Künstlern der Belle-Epoque, als Pionier der Plakatkunst und Meister der Druckgrafik. 1902 schenkte seine Mutter den grafischen Nachlass Toulouse-Lautrecs der Bibliothèque Nationale in Paris.

Obschon Zeitgenossen die schrille Farbigkeit seiner Werke kritisierten, wandte sich u.a. der Berliner Sammler Otto Gerstenberg der Kunst des Franzosen zu. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gelang Gerstenberg, nahezu das gesamte druckgrafische Werk (von den 360 existierenden) sowie etliche Zeichnungen und Gemälde zu erwerben. Die Bedeutung der Sammlung Gerstenberg erschließt sich auch aus den vielen Vorzugs-, Probe- und Zustandsdrucken.

 

Henri de Toulouse-Lautrec: wichtigste Werke

  • Henri de Toulouse-Lautrec, Graf Alphonse de Toulouse-Lautrec lenkt einen Vierspänner, 1880 (Paris, Musée du Petit Palais)
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Der Schimmel „Gazelle“, 1881 (Albertina, Wien, Sammlung Batliner).
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Der junge Routy in Céleyran, 1882 (Albi, Musée Toulouse-Lautrec)
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Gräfin Adèle de Toulouse-Lautrec, 1882 (Albi, Musée Toulouse-Lautrec)
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Moulin Rouge – La Goulue, 1891 (Albertina, Wien)
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Ambassadeurs, Aristide Bruant dans son cabaret, 1892, Farblithografie (Plakat), 135 x 93,5 cm
  • Henri de Toulouse-Lautrec Ambassadeurs: Aristide Bruant, 1892, Farblithografie (Plakat), 135 x 93,5 cm
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Im Moulin Rouge. Die Goulue, und ihre Schwester, 1892, Farblithographie in Pinsel und Spritztechnik, 58 x 43,5 cm
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Der Engländer im Moulin Rouge, 1892, Farblithographie in Pinsel, 62,7 x 49 cm
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Im Bett, 1892, Öl auf Karton, 53 × 34 cm (Privatsammlung, Schweiz)
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Femme tirant son bas, 1894, Öl auf Leinwand , 58 x 46 cm (Musée d’Orsay, Paris)
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Marcelle Lender als Büste, 1895, Farblithographie in Pinsel, Kreide und Spritztechnik, 48,5 x 42 cm
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Brustbild Mademoiselle Marcelle Lender, 1895 (Bibliothèque nationale de France, Paris)
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Yvette Guilbert, 1895 (Privatbesitz, New York)
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Diese Damen im Esszimmer, 1893–1895, Öl auf Leinwand, 60,2 x 80,7 cm (Szepmüveszeti Muzeum, Budapest)
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Plakat für den Photographen Sescau, 1896, Farblithographie in Pinsel, Kreide und Spritztechnik, 60,7 x 80 cm
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Misia Natanson am Flügel, 1897, Öl auf Karton, parkettiert, 82 x 96 cm (Kunstmuseum Bern, Schenkung Hilde Thannhauser)
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Jane Avril, 1899 (Albertina, Wien)
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Der Jockey, 1899, Farblithographie in Pinsel, Kreide und Spritztechnik, 51,6 x 36,4 cm
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Im Zirkus: Clown Footit – Dresseur, 1899 (Statens Museum for Kunst, Kopenhagen)
  • Henri de Toulouse-Lautrec, Messalina steigt die Treppe herab, 1900-1901 (Los Angeles County Museum of Art)

 

Henri de Toulouse-Lautrec in Fotografien

  • Maurice Guibert, Lautrec mit Hut und Boa von Jane Avril, um 1892, Neuabzug von einem Glasnegativ, Albi, Musée Toulouse-Lautrec
  • Maurice Guibert, Toulouse-Lautrec als Samurai, schielend, um 1892, Aus einem Album mit 33 Photographien von Toulouse-Lautrec, Originalabzug (Collection Georges Beaute)
  • Maurice Guibert, Lautrec arbeitet am Gemälde «La Danse au Moulin-Rouge», 1894, Neuabzug von einem Glasnegativ, Albi, Musée Toulouse-Lautrec © Musée Toulouse-Lautrec, Albi - Tarn - France.
  • Paul Sescau, Toulouse-Lautrec stehend mit Spazierstock, 1894, Neuabzug von einem Glasnegativ, Albi, Musee Toulouse-Lautrec
  • Maurice Guibert, Lautrec porträtiert Lautrec, um 1894, Aus einem Album mit 33 Photographien der Familie Toulouse-Lautrec, Collection Georges Beaute

Beiträge zu Henri de Toulouse-Lautrec

8. Oktober 2023
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Das Van Gogh Museum, Amsterdam, zeigt eine Retrospektive zu Gustav Klimt, incl. den Einfluss der internationalen Avantgarde auf dessen Werk. 100 Gemälde, je 50 von Klimt sowie James McNeill Whistler, Jan Toroop, Claude Monet, Auguste Rodin, Vincent van Gogh, Henri Matisse - Herbst 2020!
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Pablo Picasso und Henri de Toulouse-Lautrec Vorbildwirkung mit lebenslangen Folgen

Pablo Picasso (1881‒1973) und Henri de Toulouse-Lautrec (1864‒1901) sind einander nie begegnet. Als der 19-jährige Picasso zum ersten Mal Mitte Oktober 1900 in Paris ankam, war der Franzose bereits krank und starb wenig später am 9. September 1901 im Alter von nur 36 Jahren. Und dennoch hat Toulouse-Lautrecs radikales Werk einen immensen Eindruck auf den jungen Spanier hinterlassen. Die unkonventionellen Themen, die der heute so berühmte Grafiker und Maler aus Südfrankreich wählte, lassen dessen Verbundenheit mit der Welt der Künstler, Artisten und Unterwelt genauso erkennen, wie sie das Pariser Nachtleben feiern und die Schattenseiten der käuflichen Liebe enthüllen. Wie sehr diese Bilder den jungen Picasso prägten, wurde schon von dessen Freunden, Kritikern erkannt und gilt in der Forschung als Grundlage.
7. August 2017
Félix Vallotton, Die Weiße und die Schwarze, 1913, Öl auf Leinwand, 114 x 147 cm (Hahnloser/Jaeggli Stiftung, Winterthur, Schenkung Geschwister Jäggli, 1981)

Sammlung Hahnloser: Meisterwerke des Postimpressionismus Sammlung Hahnloser in Bern (ehemals Villa Flora, Winterthur)

Arthur und Hedy Hahnloser-Bühler trugen zwischen 1905 und 1936 eine der prestiegeträchtigsten Schweizer Privatsammlungen zusammen: Die derzeit im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) ausgestellten Werke von den Nabis und Fauvisten stehen aber auch für die Freundschaften des Sammlerehepaares, für das die so häufig genutzte Formel „Leben für die Kunst“ wahrhaftig zutraf.
5. August 2016
„La femme au miroir“ in Jena, Cover des Ausstellungskatalogs

Französische Druckgrafik von Manet bis Picasso

Eine interessante Auswahl französischer Druckgrafik aus der Coninx-Stiftung Zürich – von Werken der Impressionisten bis Pablo Picasso – ist derzeit in der Kunstsammlung Jena zu sehen. Gezeigt werden 77 Druckgrafiken von den Impressionisten, Nabis und der Schule von Paris sowie 46 Werke von Pablo Picasso.
26. August 2015
Toulouse-Lautrec und die Photographie, HIRMER (Cover)

Toulouse-Lautrec und die Fotografie Selbstinszenierung und Dokumentation

Bislang war hinlänglich bekannt, dass sich Henri de Toulouse-Lautrec für seine lebensnahen Gemälde, Plakate und Grafiken ins Nachtleben des Montmartre stürzte und seine Eindrücke in Skizzen in Blei- oder Farbstift festhielt. Dass er sich darüber hinaus auch mit Fotografie beschäftigte, war zwar präsent, ist aber bis zu dieser Ausstellung in Bern nur marginal gewürdigt worden. Der Spezialist für Vallotton und das Pariser Fin-de-Siècle Rudolf Koella hat in der Bibliothèque nationale im Musée de Montmartre in Paris, bei Privatsammlern und Verwandten des Künstlers sowie im Musée Toulouse-Lautrec in Albi noch unbekanntes Fotomaterial gefunden und sich Gedanken zum „fotografischen Blick“ Toulouse-Lautrecs gemacht.
17. Oktober 2014
Maurice Guibert, Lautrec porträtiert Lautrec, um 1894, Aus einem Album mit 33 Photographien der Familie Toulouse-Lautrec, Collection Georges Beaute © Beaute, Réalmont; Photographe David Milh.

Henri de Toulouse-Lautrec: Biografie Leben und Werk des Malers und Grafikers am Montmartre

Henri de Toulouse-Lautrec (1864─1901) wurde in eine alte südfranzösische Adelsfamilie geboren und feierte ab 1890 internationale Erfolge als Plakatentwerfer berühmter Vergnügungslokale wie dem Moulin Rouge. Mit stark vereinfachten Darstellungen von Stars und Sternchen revolutionierte er das Bild der Straße. Nach Jahren der Überarbeitung und des Feierns zog sich Henri de Toulouse-Lautrec ins Nobelbordell zurück. Hier entstanden eindrucksvolle, weil intime Bildnisse der arbeitenden Frauen, ihren Verhältnissen zueinander, ihren Lebensbedingungen. Die Alkoholsucht des Malers führte zum frühen Tod mit knapp 36 Jahren.
17. Oktober 2014
Henri de Toulouse-Lautrec, Moulin Rouge – La Goulue, 1891 (Albertina, Wien)

Henri de Toulouse-Lautrec: Werke, Bilder vom Moulin Rouge Revolution der Plakatkunst, neuer Blick auf die Frau

Als Revolutionär der Plakatkunst aber auch „artiste maudit“, als Außenseiter der Gesellschaft, ging Graf Henri Marie Raymond de Toulouse-Lautrec-Monfa in die Kunstgeschichte ein. Am 24. November 1864 als Spross einer uralten französischen Adelsfamilie in Albi (Südfrankreich) geboren, stand ihm ein sorgenfreies Leben voller Jagden, Spleens und Kunstgenuss bevor, wären nicht seine beiden Eltern Cousin und Cousine gewesen.
9. Februar 2014
Henri de Toulouse-Lautrec, Ambassadeurs, Aristide Bruant dans son cabaret, 1892, Farblithografie (Plakat), 135 x 93,5 cm. © Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen. Foto: L. Lohrich.

Schirn analysiert den Montmartre Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900

Die Schirn Kunsthalle Frankfurt nähert sich der Pariser Avantgarde um 1900 über jenen fast schon mythischen Ort an, an dem sie ihre anti-akademischen und revolutionären Ideen in Malerei, Grafik und Plakatkunst umsetzte: dem Montmartre im 18. Arrondissement. Er ist höchste Erhebung im Pariser Becken, Gipsbergwerk, Arbeiterbezirk mit ärmlichen Behausungen, Ort der kommerziellen Unterhaltungsindustrie und halbseidene Gegend, ein Anziehungspunkt für die Bohème aber auch eine Pilgerstätte zum heiligen Dionysius. Neben dem allseits bekannten Künstler Henri de Toulouse-Lautrec (1864–1901), der wie kein Zweiter das Bild der Sänger und Sängerinnen, der leichten Mädchen und der Vergnügungslokale am Montmartre prägte, stehen Vincent van Gogh und Pablo Picasso im Zentrum einer Reihe von weniger bekannten Künstlern und zweier Künstlerinnen, die sich dem Esprit des Viertels hingaben und daraus Inspiration zogen.
  1. Dank an Evelyn Benesch für diese Information. Siehe zu Pyknodysostose (letzter Aufruf 15.10.2014).
  2. Ursula Perucchi-Petri: Die Nabis und das moderne Paris. Bonnard, Vuillard, Vallotton und Toulouse-Lautrec aus der Sammlung Arthur und Hedy Hahnloser-Bühler und aus Schweizer Museums- und Privatbesitz (Ausst.-Kat. Villa Flora Winterthur), Bern 2001, S. 92. → Villa Flora: Meisterwerke des Postimpressionismus
  3. Einzig „Der Wäschemann des Bordells“ (1894, Albi) erhält ob seiner Geilheit eine fast animalische Fratze und das Wäschebündel zwischen seinen Beinen eine geschickt doppeldeutige Form.
  4. Götz Adriani führte zum Vergleich an, dass 1892 im Moulin Rouge ein Cocktail für 1,50 Francs und eine Flasche Champagner für 12 Francs verkauft wurden. Götz Adriani, Touloiuse-Lautrec. Das grsamte graphische Werk. Sammlung Gerstenberg, Köln 2002 [erste Ausgabe Tübingen 1986], S. 12.
  5. Einige der kühnen Neuerungen, die Toulouse-Lautrec um 1890 in sein Werk einführte, gingen mit Sicherheit auf die Auseinandersetzung mit fernöstlicher Kunst zurück. Vincent van Gogh hatte seine Künstlerfreunde Emile Bernard, Louis Anquetin und Henri de Toulouse-Lautrec in die Galerie von Samuel Bing eingeführt. Im Herbst/Winter 1887/88 schworen sie dem Impressionismus ab und begannen eine Malweise zu entwickeln, die den Eigenwert von Linie und Fläche markant steigerte und so zu einem völlig neuen Stil führte, dem sogenannten „Cloisonnisme“ (Cloisonnismus).
  6. Beispielsweise wurde „Maurice Joyant bei der Entenjagd“ (1900, Albi) als in die Wogen starrenden Admiral porträtiert.