Die Rotunde des Fridericianums ist als Assoziationsraum eingerichtet, der in nuce bereits die Interessensgebiete von CCB thematisiert - oder wie Lawrence Weiner (* 1942) es in einer Textarbeit an der Glaswand formulierte: „THE MIDDLE OF – THE MIDDLE OF – THE MIDDLE OF“ als ein konzentrisches Kreisen um, ein Nachdenken über, das keinen Abschluss finden wird. Nachdem man von Ryan Genders (* 1976) permanenten „Brise“, einem kühlenden Windhauch, durch das Erdgeschoss getragen wurde, schließt eben jene Glaswand den halbrunden Bereich im hinteren Gebäudeteil ab. Dahinter finden sich - im so genannten „Brain“ – neben geschmolzenen Kunstwerken aus dem Nationalmuseum in Beirut Keramiken aus dem Besitz von Giorgio Morandi, wobei letztere auch in einigen seiner berühmten Stillleben „verarbeitet“ sind. Lee Millers (1907-1977) bekannte Fotoserie, die die Fotografin in der Badewanne Hitlers zeigt, wird durch Objekte, die Miller aus der Wohnung Hitlers mitgenommen hat, ergänzt. Man Rays Augen-Metronome darüber stehen still. Das Auge der Fotografin blickt ohne zu blinzeln.
Deutschland / Kassel
9.6. – 16.9.2012
Dass die Freiheit der Kunst ein immer wieder zu erkämpfendes Gut ist, darauf verweist die Geschichte von Mohammad Yusuf Asefi, der selbst durch ein in unserem Terminus als „postimpressionistisch“ zu bezeichnendes Landschaftsbild vertreten ist. Unter dem Vorwand, er würde Werke restaurieren, schützte er figurative Darstellungen aus der Nationalgalerie in Kabul vor den Taliban, indem er die als anstößig angesehen Gestalten von Tieren und Menschen mit abwaschbaren Wasserfarben übermalte. Kleine Figurinen der sog. „Baktrischen Prinzessinnen“ hingegen belegen figurative Kunst um 2000 vor Christus im gleichen Gebiet. Immer wieder fällt auf, dass CCB historische Verweise in ihre dOCUMENTA einbaut, um den Blick auf Aktuelles zu schärfen oder sogar um Entwicklungslinien aufzuzeigen.
Der italienische Arte Povera Künstler Giuseppe Penone (* 1947) hinterfrägt mit zwei scheinbar identischen Steinen – einer ein Flussstein und der andere dessen Kopie aus Carrara-Marmor – auf die Position des Künstlers (Titel der Arbeit ist „Essere fiume 6“, vulgo „Fluss-Sein“). Er stellt Fragen nach Originalität, dem Verhältnis zwischen Naturgestalt und Nachbilden. In diesem Sinne lässt sich auch seine Baum-Kopie „Idee di pietra“ (2003/2008/2010), dem ersten Kunstwerk der dOCUMENTA (13) in der Karlsaue, interpretieren. Hierfür stellte Penone eine naturalistisch bemalte Bronzekopie eines blattlosen Baumes auf, der einen Stein in seiner Krone trägt: die Natur als Ausgangsmaterial, die Kunst als deren Kopie und Aufladung mit Bedeutung - könnte das Verhältnis von Stein und Baum doch auf die Widerstandsfähigkeit der Natur anspielen.
Teil 1: dOCUMENTA (13): Raumfragen
Teil 3: dOCUMENTA (13): Kunst und ihre politische Verantwortung
Teil 4: dOCUMENTA (13): Kunst und der Umgang mit Geschichte
Teil 5: dOCUMENTA (13): Kassel und Afghanistan
Teil 6: dOCUMENTA (13): Kassel und Australien
Teil 7: dOCUMENTA (13): Historische Wurzeln aktueller Kunst
Teil 8: dOCUMENTA (13) Kunst und Naturwissenschaft
Teil 9: dOCUMENTA (13): Aktuelle Malerei – oder gegen jede Art von Medienspezifität
Teil 10: dOCUMENTA (13): Kunst und Ökologie
Teil 11: dOCUMENTA (13): Künstler und Schamanismus
Teil 12: dOCUMENTA (13): „Realität“ und ihre mediale Vermittlung