Friedensreich Hundertwasser (1928–2000) war Maler, Grafiker, Architekt und ökologischer Aktivist. Er kritisiert die Architektur der Moderne – allen voran den rechten Winkel von Adolf Loos, war ein Pionier der Aktions- und Performancekunst und ging als früher Prophet der Umweltbewegung in der Geschichte ein. Er nahm an der XXVII. Biennale von Venedig (1954) teil und gestaltete 1962 höchst erfolgreich den Österreichischen Pavillon auf der XXXI. Biennale von Venedig (gemeinsam mit dem Bildhauer Joannis Avramidis). Mit der Aktion „Die Linie von Hamburg“ (Dezember 1959) brachte er die Linie in den Raum und organisierte eines der ersten Happenings in Europa. Hundertwasser nahm 1964 an der documenta III in Kassel teil. Häufig belächelt im Kunstbetrieb ob der dekorativen Qualitäten seiner Bilder, zählt Friedenreich Hundertwasser zu den populärsten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Zu seinen künstlerischen Vorbildern zählte er Giotto di Bondone, Gustav Klimt, Egon Schiele, Pablo Picasso, Paul Klee, Salvador Dalí und Friedrich Schröder-Sonnenstern.
„Maler sein, ist etwas Ungeheures. Die Malerei gibt die Möglichkeit, in unerforschte Regionen vorzustoßen, die sehr, sehr weit weg sind von uns. Ich glaube, dass Malen eine religiöse Beschäftigung ist.“1 (Friedensreich Hundertwasser, 1971)
Friedensreich Hundertwasser wurde am 15. Dezember 1928 in Wien als Friedrich (Fritz) Stowasser geboren. Im folgenden Jahr starb sein Vater, ein technischer Beamter und Offizier im Ersten Weltkrieg. Elsa Stowasser zog den Sohn allein auf. Die ersten Jugendzeichnungen entstanden bereits 1934. Als der sechsjährige Hundertwasser 1936 ein Jahr die Montessorischule in Wien besuchte, wurde dem Kind dort ein „außergewöhnlicher Farben- und Formensinn“ attestiert.
1938: Nach dem „Anschluss“ Österreichs an den NS-Staat waren Hundertwasser und seine jüdische Mutter gezwungen, zu Tante und Großmutter in die Obere Donaustraße 12/14, im zweiten Wiener Gemeindebezirk, zu übersiedeln. Erste bewusste Buntstiftzeichnungen nach der Natur entstanden 1943. Im gleichen Jahr wurden 69 Familienangehörige Hundertwassers deportiert und ermordet, so auch die Tante und Großmutter. Hundertwasser engagierte sich als Hitlerjunge und konnte die Gewerbeschule besuchen. Später erklärte er:
„Ich war geschützt, weil ich Halbjude war, und meine volljüdische Mutter war geschützt, weil sie einen halbjüdischen Sohn hatte.“
Kurz nach Ende des Kriegs schickte Hundertwasser seine Mutter an die Akademie, um Zeichnungen vorzulegen. Der 1945/46 kurzzeitig als Rektor amtierende Herbert Boeckl befürwortete die künstlerische Ausbildung mit starken Worten.
Mitte Juni 1948 machte Hundertwasser die Matura (Abitur) und entdeckte in der notdürftig sanierten und gerade wiedereröffneten Albertina die Werke von Gustav Klimt, Walter Kampmann und Egon Schiele, die ihn tief beeindruckten. Von Walter Kampmann übernahm Hundertwasser die „Seelenbäume“, von Klimt den Hang zum Abstrakt-Ornamentalen und von Schiele einiges mehr. Über ein realistisch gezeichnetes Selbstbildnis schrieb er später:
„Ich schaute in den Spiegel und sah ein seltsames Lächeln. Da wusste ich, dass ich ein Großer bin.“ 2 (Friedensreich Hundertwasser, Kommentar über das Selbstporträt Nr. JW 135 (Wien, August 1948), 1974)
Im Wintersemester 1948/49 studierte Hundertwasser drei Monate an der Akademie der bildenden Künste, wo er die Klasse von Robin Christian Andersen besuchte. Bereits im Oktober stellte er ein erstes Bild auf einer Studentenausstellung der Akademie in der Wiener Secession aus. In der Bibliothek entdeckte er die Schiele-Monografie von Otto Kallir (1930), die er begeistert las. Zehn Jahre später ist in einer ersten Publikation über Hundertwasser zu finden:
„Das erste künstlerische Erlebnis verdankte er einer Egon Schiele-Ausstellung (1949 [sic!]). Aber den nachhaltigsten Eindruck muss Gustav Klimt auf ihn gemacht haben. Wir finden auf Hundertwassers Bildern Ornamente, die ihre Provenienz von dem großen Meister der Wiener Sezession (sic) nicht verleugnen können.“3
Ende des Jahres 1948 wurde Friedensreich Hundertwasser eingeladen, das „Salzburg Seminar of American Studies“ im Schloss Leopoldskron zu besuchen und einen Vortrag zu halten. Er referierte zum Thema „Everybody must be creative“, auch häufig als „Art is Always Changing [Die Kunst ist im ständigen Wandel]“ bezeichnet. Der selbstbewusste Junge lernte Sprachen gerne und leicht. Dies ermöglichte ihm später das Leben eines „globetrotters“. Ende Januar 1949 kehrte Hundertwasser nach Wien zurück und setzte sein Studium an der Akademie in der Klasse von Robin Christian Andersen fort.
Am 14. April 1949 brach Friedensreich Hundertwasser zu einer ersten Reise nach Italien auf. Nach gerade einmal drei Monaten in der Klasse von Andersen, machte er sich zu Fuß und per Autostopp auf den Weg, um die italienische Kunst selbständig zu studieren: am 15. April hielt er sich in Venedig und am 19. in Neapel auf. Nach Ostern kehrte Hundertwasser wieder nach Wien zurück, von wo er im Juli 1949 erneut in den Süden reiste: Er besichtigte Norditalien (Como See), die Toskana mit Assisi und Florenz, Rom, Neapel, Sizilien. Im Süden angekommen, setzte sich Hundertwasser vor allem mit der frühneuzeitlichen Wandmalerei auseinander und traf sich mit verschiedenen Künstlern. Einige der Zeichnungen, die er unterwegs machte, bezeugen die tiefen Eindrücke, die Siena und Assisi bei ihm hinterlassen hatten. In seiner Biografie wies er auch immer auf Keramikkacheln mit zerrinnenden Farben in einem kleinen Café in Rom hin, die ihn begeistert hätten. In Florenz schloss Hundertwasser, der eigentlich noch Stowasser hieß, Freundschaft mit dem etwas jüngeren Künstler René Brô und dessen Freundin und späteren Ehefrau Micheline.
Im Spätsommer 1949 folgte Hundertwasser Brô nach Paris. Am 11. Dezember bat er seine Mutter, ihm Arthur Roesslers Buch über Schiele zu schicken – offensichtlich erpicht darauf, dieses zu besitzen und seinen Freunden zeigen. Weitere Exemplare vermittelte er an Freunde, um seine prekäre finanzielle Lage aufzubessern. Seine erste Ausstellungsbeteiligung erfolgte im Oktober in der Pariser Galerie Librairie Palmes.
Seiner Mutter zuliebe schrieb sich Hundertwasser im Winter 1950 an der École nationale supérieure des beaux-arts de Paris ein, um bei Maurice Brianchon zu studieren. Doch nach nur einem Tag verließ er die Akademie wieder – sein neuer Lehrer, so will es die Legende, sagte ihm: „Du kannst hier nichts mehr lernen.“ Das hätte Hundertwasser gar nicht überrascht. (Mythos). Seine Briefe an die Mutter und Aktstudien belegen, dass er den Unterricht länger besucht haben muss. Ab Mitte Mai 1950 nannte er sich Friederich Hundertwasser (er übersetzte die Silbe Sto in Hundert), um seine „Geburt“ als Künstler zu markieren. Gemeinsam mit Brô malte Hundertwasser zwei Wandbilder in St. Mandé: „Paradies – Land der Menschen, Vögel und Schiffe“ sowie „Der wunderbare Fischzug“. Brô führte die Zeichnung aus und Hundertwasser kolorierte sie. In ihnen ist der Einfluss von Paul Klee nachweisbar.
Hundertwasser reiste 1951 nach Marokko und Tunesien, wo er Winter und Frühjahr verbrachte. Er lernte die arabische Musik lieben, die er jeder anderen vorzog. Einflüsse sowohl der arabischen Kultur – darunter des naiven Malers Moulay Ahmed – wie auch der Kunst von Paul Klee (Reise nach Tunis 1914) machten sich in Hundertwassers Werk bemerkbar. Hundertwasser änderte sein Erscheinungsbild, indem er farbenprächtige, selbstgefertigte Kleidung trug.
Im September 1951 kehrte Hundertwasser nach Wien zurück und wurde in den Art Club aufgenommen. Dort lernte er Albert Paris Gütersloh und Wieland Schmied kennen, die den jungen Künstler förderten. Hundertwassers Teilnahme an der Ausstellung „Das gute Bild für Jeden“ im Künstlerhaus, Wien, hatte die erste positive Besprechung seiner Kunst zur Folge.
Bereits im folgenden Jahr hatte Friedensreich Hundertwasser seine erste Einzelausstellungen im Art Club Wien, „Hundertwasser. Malerei“ (5.–18.1. 1952) und der Galleria Sandri, Venedig (Februar 1952). In Wien hielt er die Eröffnungsrede „Mein Bestreben, mich vom allgemeinen Bluff unserer Zivilisation zu befreien“. In diesem ersten Manifest wetterte er gegen das Bildungswesen und den Zwang zur Gleichmacherei der Gesellschaft und rief zum Aufstand gegen die normierte Massenkultur auf, um eine universelle Schöpfung zu realisieren.
Friedensreich Hundertwassers zweite Ausstellung im Art Club Wien fand vom 10. bis 30. Januar 1953 statt. Im Katalog wurde sein Text „Wir sind nicht mehr fähig, Gleichnisse zum Leben zu schaffen“ veröffentlicht. Hundertwasser stellte die Collage „145 Die Werte der Straße“ aus, die alle Gegenstände vereint, die er auf einer 50 Meter langen Strecke eines Gehsteigs im Wiener Stadtzentrum zufällig fand.
„Wenn ich horizontal, flach, arbeite, ohne Leinwand, dann ist dies eine vegetabilische, erdgebundene Disziplin. Meine farbigen Linien sind wie die Lebensringe eines Baumstamms, wie natürliche Sedimente, wie organisches Wachstum.“4 (Friedensreich Hundertwasser)
Ende 1952 sah Hundertwasser auf der Wiener Universität den Dokumentarfilm „Images de la folie“, in dem der Regisseur und Psychotherapeut Enrico Fulchignoni Kunstwerke von schizophrenen Patient*innen des Pariser psychiatrischen Krankenhauses Sainte-Anne präsentierte. Eine Einstellung zeigt eine sich drehende Spirale (mit Op-Art Effekt). Von Gustav Klimts vegetabilen Formen vorbereitet, war Hundertwasser vom Schwindel ergriffen und entdeckte die doppelte Spirale als Symbol für Leben und Tod. Er verfasste in Erwartung seiner Ausstellung im Art Club seinen ersten theoretischen Text, in dem er die Rolle der Kunst in der Gesellschaft als einen Ersatz für die Wissenschaft und die Religion bestimmte. Friedensreich Hundertwasser malte im Juni 1953 in Stuttgart das Aquarell „163 Der Berg und die Sonne – Erstes Spiraloid“, das seine erste Spirale zeigt. Im August malte er im Garten von Brô „169 Das Blut das im Kreis fließt und ich habe ein Fahrrad“, seine erste in Öl gemalte Spirale, die er als „Hauptgleichnis für Leben und Tod“ ansah.5 Mit „224 Der große Weg“ (Belvedere) schuf Hundertwasser im Juni 1955 eines seiner Hauptwerke und die klassische Hundertwasser-Spirale. Er malte das Bild von der Mitte aus, schuf eine sich farbig wandelnde Linie, die Hindernisse umschifft, diese aber auch in sich aufnimmt. Erst 1956, anlässlich seiner zweiten Ausstellung bei Paul Facchetti in Paris (ab 13.4., Katalog: Ausstellungen sind die Bekenntnisse unserer Zeit“), verwendete Hundertwasser das Wort „spiralförmige Entwicklung“ in einem theoretischen Text. Die Spirale prägt als Hauptmotiv Hundertwassers Werk der Jahre zwischen Mitte 1953 und 1961. Danach wandte er sich von der abstrakten Malerei ab und erneut Häusern und Menschen zu, die er jedoch gerne mit Spiralen verband.
„Für mich ist die Spirale ein Symbol des Lebens. Ich glaube, die Spirale ist dort, wo die Materie aufhört zu sein und beginnt, etwas Lebendiges zu werden. Meine Spirale ist keine geometrische Spirale, sie ist eine biologische Spirale, die nicht mit dem Zirkel nachgemessen werden kann. Sie hat Ausbuchtungen, Widerstände und Partikel in der Mitte und an den Rändern. Meine Spirale wächst vegetativ.“6 (Friedensreich Hundertwasser, 1971)
Zwischen Mai und November 1974 führte Hundertwasser im Text „Die Spirale“, geschrieben in Wien, seine Gedanken weiter aus. Für ihn war die Spirale bereits seit Jahren ein Symbol des Lebens und des Todes. Als Vergleiche führte er Spiralnebel im Universum, spiralförmiges Wachstum der Kristalle und Moleküle an. Ihn faszinierte, dass eine Spirale ein scheinbarer Kreis ist, der sich nicht schließt, weil er doch nie zum gleichen Ursprungsort zurückkehrt. Von der stilisierten Spirale setzte sich der häufig mit der Wiener Moderne und vor allem dem Werk von Gustav Klimt in Zusammenhang gebrachte Künstler bewusst ab, empfand er diese doch als dekorativ. Sterile Geometrie bedeutete für Hundertwasser den Tod. Seine Spirale ist vegetativ. Hundertwasser ließ sich daher von der freien Hand leiten. Hundertwassers Spirale „ist eine vegetative Spirale, die Ausbuchtungen hat, wo die Linien dicker und dünner werden“7.
Im Sommer hielt sich Friedensreich Hundertwasser zum zweiten Mal in Paris auf, wo er allein in Brôs Atelier in St. Maurice arbeitete. Dann zog er um in das nahegelegene Saint-Maindé zu Familie Dumage. In den folgenden sieben Jahren hielt er sich immer wieder als Gast bei den Dumage auf. In diesem Sommer war Hundertwasser sehr produktiv und schuf Werke wie „166 Auf der Sonnenseite der Straße“, „168 Der Fluss“, „170 Der Garten der glücklichen Toten“ und „173 Kathedrale II“.
Die zunehmende Anerkennung seiner Kunst brachte ihm 1953 eine Teilnahme an einer Gruppenausstellung im Studio Paul Facchetti, Paris, ein. In der Galerie lernte er den Kunstkritiker Pierre Restany kennen. Dieser beschrieb später Hundertwassers Platz zwischen den Abstrakten der Schule von Paris, indem er die „gestische Aufzeichnung“ einer „beschreibenden Linie“ (Fahrradspur) von Hundertwassers Bildsprache als „Rand des kontrollierten Automatismus“ verortete. Hundertwasser selbst hatte seine ab dem Sommer 1953 entstandenen Spiral-Bilder mit dem täglich mit dem Fahrrad zurückgelegten Weg zu Paul Facchetti verglichen, den er um eine Ausstellung bat.
Hundertwassers erste Einzelausstellung in Paris bei Paul Facchetti, präsentiert von Julien Alvard, fand vom 29. Januar bis zum Februar 1954 statt. Der Katalog mit dem Titel „J’ai une bicyclette“ enthält Hundertwassers Text „Die gerade Linie führt zum Untergang“, in der sich Hundertwassers Hinwendung zur Kreis- und Spiralform schon deutlich ausmachen lässt:
„Und ich habe eine unendliche Genugtuung, wenn ich sehe, dass diese Linie niemals gerade und niemals wirr ist, sondern dass sie ihre Berechtigung hat, so zu sein, wie sie ist, in jedem kleinsten Teilabschnitt. Hütet euch vor der betrunkenen Linie. Aber besonders vor der geraden Linie. Die gerade Linie führt zum Untergang der Menschheit.“8
Die zunehmende internationale Würdigung von Hundertwassers Werk lässt sich an zwei Ausstellungseinladungen 1954 nachweisen: Er war auf der XXVII. Biennale von Venedig vertreten wie auch auf dem 2. Internationalen Festival in Parma. Daher verbrachte er den Sommer in Italien, wo er an der Gelbsucht erkrankte und mehr als ein Monat im Spital Santo Spirito in Rom verbringen musste (September–Oktober). Dort malte er viele Aquarelle, legte ein erstes Werkverzeichnis an und entwickelte die Theorie des „Transautomatismus“, wobei er den Begriff seit 1952 bereits verwendete und seither an der Ausarbeitung des Konzepts als Gegenreaktion auf den Tachismus arbeitete. Der Transautomatismus wäre wie ein innerer Film, ausgelöst durch das Betrachten eines Kunstwerks. Hundertwasser begann daher seine Bilder zu nummerieren. Obschon Hundertwassers Bilder auch Werktitel tragen, sind diese doch nur als eine mögliche Interpretation des Dargestellten angeführt. Eigentlich bezweckte Hundertwasser damit, ein für jegliche Deutung offenes Kunstwerk vorzustellen.
Nachdem er sich mit Fragen der individuellen Bildabläufe im Betrachter beschäftigt hatte, veröffentlichte er die Texte „Arte come transautomatico“ (Februar 1955) sowie „La visibilitè de la création transautomatique“ in „Cimaise“ (Mai 1956) und „Phases“ (3.11.1956) in Paris. Er erweiterte im folgenden Jahr die Theorie des Transautomatismus zu einer „Grammatik des Sehens“ und veröffentlichte diese in Paris.
Der künstlerischen Selbstfindung folgte Hundertwassers wirtschaftlicher Erfolg in Zusammenarbeit mit der Galerie H. Kamer. Dieser ermöglichte Hundertwasser, sich 1957 einen Bauernhof [Landhaus] in der Normandie zu kaufen: La Picaudière. Die dort entstandenen Gemälde gelten heute als einige der besten im Werk des Wiener Künstlers. Ebenfalls 1957 wurde der Wiener Maler zur Teilnahme an der IV. Bienal do Museu de Arte Moderna de São Paulo eingeladen, und Hundertwasser erhielt den Prix du Syndicat d’Initiative, der I. Biennale der abstrakten Kunst von Bordeaux. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre hatte Hundertwasser sich dem Tachismus, so weit wie es ihm möglich war, geöffnet. Seine abstrakten Bilder wurden von der Spirale gleichsam zusammengehalten und intuitiv aus dem Material und der Stimmung des Künstlers heraus entwickelt.
Friedensreich Hundertwasser wurde 1958 zum Internationalen Kunst- und Architekturkongress im Kloster Seckau eingeladen, wo er am 4. Juli mittags das „Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur“ verlas. Neuerliche Lesungen des „Verschimmelungsmanifests“ fanden in der Galerie Van de Loo, München (11.7.) und der Galerie Parnass, Wuppertal (26.7.), statt. Eberhard Fiebig und R. Kaufmann veröffentlichten den Text bei der Galerie Renate Boukes in Wiesbaden. Das „Verschimmelungsmanifest“ zählt heute zu den am meisten zitierten Texten von Friedensreich Hundertwasser, enthält es doch im Kern bereits alle in den folgenden Jahrzehnten ausformulierten Ideen über Architektur. Für den bislang als Maler und Grafiker arbeitenden Hundertwasser war Architektur keine freie Kunst, sondern von Interessen der Auftraggeber und Geld abhängig. Die Rettung der modernen, auf dem rechten Winkel und geraden Linien aufbauenden Architektur wäre der Schimmel, der die Oberflächen zersetzt. Darauf sollten die Bewohner*innen der Gebäude aufbauen können und ihren eigenen Lebensraum – vor allem die Wände rund um die Fenster – gestalten dürfen.
1959 stellte Friedensreich Hundertwasser auf der Première Biennale de Paris und der V. Biennale São Paolo aus, wo er den Sanbra-Preis erhielt. Am 17. September gründete er mit Ernst Fuchs und Arnulf Rainer das „Pintorarium“, für das die drei ein Manifest zusammenstellten.
Seit 15. Oktober 1959 lehrte Friedensreich Hundertwasser als Dozent an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Bazon Brock initiierte ein Happening an der Hochschule und entwarf mit Hundertwasser und dem Schriftsteller Herbert Schuldt das Konzept für „Die Linie von Hamburg“.
Am 18. Dezember 1959 um 15.11 Uhr begann Hundertwasser „Die Linie von Hamburg“ zu ziehen. Herbert Schuldt, Brock, Hundertwasser und Studierende aus seiner Klasse überzogen alle Wände seines Raumes mit einer frei fließenden Linie. Aufgrund des großen Medien- und Besucherinteresses brach die Hochschulleitung die Aktion am 20. Dezember um 13.40 Ihr ab. Der Senat von Hamburg untersagte die weitere Ausführung und das Happening, woraufhin Hundertwasser die Dozentur zurücklegte. Er hielt am 21. Dezember die Rede „Warum man auf Akademien nichts lernen kann“. Friedensreich Hundertwasser erhielt den Sanbra-Preis der V. Biennale von São Paulo.
1961 erhielt Hundertwasser eine Einladung zur 6. Internationalen Kunst-Ausstellung in Tokio. Er kam am 14. Februar in Japan an und blieb für acht Monate im Land (→ Hundertwasser, Japan und die Avantgarde). Hundertwasser wählte – um seinen Namen in japanische Schriftzeichen zu übersetzen – als Vornamen: „Friede-reich“ bzw. „Friedenreich“. Hundertwasser erhielt den Mainichi Preis und hatte großen Erfolg mit einer Ausstellung in der Tokyo Gallery, organisiert vom Kunstkritiker Shinichi Segi (Eröffnung 15.5., Katalog mit dem Kanji-Text → Friedensreich Hundertwasser, Kanji-Text). Ab Mitte September kehrte er mit der Transsibirischen Eisenbahn über Sibirien nach Wien zurück. In Wien heiratete Friedensreich Hundertwasser 1962 die japanische Künstlerin Yuko Ikewada (* 1940). Die Ehe hielt bis 1966.
Hundertwassers Kunst begann sich Anfang der 1960er Jahre wieder deutlich der figurativen Malerei anzunähern. Zunehmend war er an einer eindeutig lesbaren Bildsprache interessiert. Vor allem Häuser, Gärten und Dampfer wurden zu wichtigen Bildmotiven.
Friedensreich Hundertwasser vertrat Österreich äußerst erfolgreich auf der XXXI. Biennale von Venedig (Kommissär Vinzenz Ludwig Oberhammer, 16.6.–7.10.1962). Ausgestellt waren u.a. die Bilder „Die politische Gärtnerin“ (1954), „Der große Weg“ (1955) und „Hommage au Tachisme“ (1961). In der Eröffnungsausstellung des Museums des 20. Jahrhunderts in Wien, „Kunst von 1900“, war Friedensreich Hundertwasser auch vertreten (September).
1963 hatte Hundertwasser in der Galerie Änne Abels, Köln, seine erste Einzelausstellung in Deutschland: „Hundertwasser ist ein Geschenk für Deutschland“. Dieser folgte eine große Retrospektive in der Kestner-Gesellschaft, Hannover, organisiert von Wieland Schmied (25.3.–3.5.1964), die bis Frühjahr 1965 in fünf europäischen Städten zu sehen war. Im Rahmen der Ausstellung wurde Hundertwassers erster Werkkatalog veröffentlicht. Die Ausstellung tourte weiter nach Bern (20.5.–21.6.), Hagen (Juli–August), Amsterdam (23.10.–7.12.), Stockholm (Dezember–Januar 1965), Wien (20.2.–28.3.1965).
Dass der nunmehr äußerst erfolgreiche Künstler 1964 zur Teilnahme an der documenta III in Kassel, die der abstrakten Kunst gewidmet war, eingeladen wurde, ließ dieser jahrelang aus seiner Biografie streichen. In der Zwischenzeit hatte sich Hundertwasser wieder der figurativen Malerei zugewandt, reflektierte die Shoa, nutzte Häuser als Symbole für die schreckliche Vergangenheit und begann intensive Leuchtfarben für seine Kompositionen zu nutzen. Als er sich im Verbund mit den führenden abstrakten Malern seiner Generation ausgestellt sah, muss er sich äußerst befremdlich gefühlt haben. Kurz bevor er 1966 ein Krisenjahr zu bewältigen hatte, schuf er in „Der Nasenbohrer und die Beweinung Egon Schieles“ (1965) ein doppeltes Selbstporträt, dem in „Haus, geboren in Stockholm, gestorben in Paris und die Beweinung meiner selbst“ (1966) folgte.
„Die Mauer auf einem der Bilder von Egon Schiele im Oberen Belvedere in Wien hat mich zu diesem Haus mit seinen roten Fenstern und blauen Türmen inspiriert; sie blättert ab wie die Haut eines kranken Menschen. Oben auf dem Dachboden sitze ich wie in einem Rübenfeld, und mein Porträt vorne ist von Wolken bedeckt.“9
Wichtiger war ihm sicher, dass Ferry Radax den ersten Dokumentarfilm über Hundertwasser in La Picaudière und im Waldviertel drehte. Damit trat zunehmend die der Natur zugewandte Lebensweise des Künstlers, seine individuelle Gestaltung des Lebensraums und seine Hinwendung zur Architektur ins Zentrum von Hundertwassers Überlegungen – und vor allem der öffentlichen Wahrnehmung.
1975 war der Beginn der Welt-Wanderausstellung von Hundertwassers malerischen Werken im Musée d’Art Moderne de la Villa de Paris, die bis 1983 in 27 Ländern und 40 Museen gezeigt wurde. Gleichzeitig begann auch die Welt-Wanderausstellung von Hundertwassers grafischem Werk, die bis 1992 in 15 Ländern und über 80 Museen und Galerien gezeigt wurde.
Friedensreich Hundertwasser hielt 1967 die „Nacktrede“ in der Galerie Hartmann, München, und trat für das „Anrecht auf die Dritte Haut“ ein (12.12.). Obschon diese „Nacktrede“ von Fotografien Stefan Moses‘ gut dokumentiert ist, hatte Hundertwasser damit doch nicht den öffentlichkeitswirksamen Erfolg, den er sich vielleicht erhofft hatte. Am 25. Januar 1968 eröffnete er im Internationalen Studentenheim der Stadt Wien eine kleine Ausstellung (26.–31.1.) mit der zweiten „Nacktrede gegen die Herrschaft der rationalistischen Architektur“. Die Aktion wurde abgebrochen und ein in der Presse heftig debattierter Kunstskandal. Kurz darauf verlas der Maler sein Architektur-Boykott Manifest „Loos von Loos“ im Presseclub Concordia Wien (9.2. → Adolf Loos).
„Die gerade Linie ist gottlos und unmoralisch. Die gerade Linie ist keine schöpferische, sondern eine reproduktive Linie. In ihr wohn weder Gott noch der menschliche Geist, sondern vielmehr die bequemheilslüsterne, hirnlose Massenameise.“10 (Friedensreich Hundertwasser, 1971)
Er selbst lebte und arbeitete von 1968 bis 1971 auf seinem Schiff Regentag in der Lagune von Venedig (Pellestrina). Gleichzeitig fand die größte Wanderausstellung seiner Kunst durch die USA statt (1968/69). Diese machte Friedensreich Hundertwasser zum berühmtesten österreichischen Künstler nach Gustav Klimt und Egon Schiele. Die enorm gestiegene Nachfrage organisierte ab 1972 Joram Harel, der Hundertwassers Manager wurde.
Die seit dem „Verschimmelungsmanifest“ und der „Nacktrede“ sich formierenden Gedanken über moderne Architektur brachte Friedensreich Hundertwasser 1972 in der TV-Sendung „Wünsch Dir was“ einem Millionenpublikum näher: Dachbewaldung und individuelle Fassadengestaltung, Fensterrecht und Baumpflicht. Darauf folgte 1975 die „Humus Toilette“.
„Wir ersticken in unseren Städten an Luftverpestung und Sauerstoffmangel. Die Vegetation, die uns leben und atmen lässt, wird systematisch vernichtet. […] Du selbst musst deine Umwelt gestalten […] Es ist dein Recht, dein Fenster und so weit dein Arm reicht, auch die Außenseite so zu gestalten, wie es dir entspricht. […] Es ist deine Pflicht, der Vegetation mit allen Mitteln zu ihrem Recht zu verhelfen. […] Straßen und Dächer sollen bewaldet werden. […] Das Verhältnis Mensch – Baum muss religiöse Ausmaße annehmen.“11 (Friedensreich Hundertwasser, Deine Baumpflicht – Dein Fensterrecht, 1972)
Ab 1977/78 konnte Friedensreich Hundertwasser erstmals ein eigenes Haus realisieren: das Hundertwasser-Haus im 3. Bezirk Wiens. Ihm gelang es, nicht nur die Fassade zu „dekorieren“, sondern von Grund auf als abgetrepptes Gebilde mit Dachgärten, zwei Türmen, Baummietern und dem „Fensterrecht“ zu gestalten. Der Architekt Peter Pelinka stand Hundertwasser mit Rat und Tat zur Seite. Am 16.August 1983 erfolgte die Grundsteinlegung und am 17. Juli 1984 war das Richtfest. Der noch nicht ganz fertiggestellte Gemeindebau konnte am 5. September 1985 von Bürgermeister Zilk der Presse vorgestellt werden. Hundertwasser war ab Sommer 1984 elf Monate nahezu durchgehend in Wien und arbeitete an der Baustelle mit, wobei er sich über das Interesse der Bauarbeiter besonders freute. Sein Konzept von Abwechslung, Vielfalt und Unregelmäßigkeit (z.B. Boden) sah begrünte Dächer, Baummieter, Fenster in verschiedenen Größen und unregelmäßigen Abständen, Schlusssteinen über den Fenstern, Säulen, Fliesen, unebene Böden, gewellte Wände, runde Ecken, eine gestaltete Fassade, Zwirbeltürme, ein Wandelgang (mit Kinderkunst) vor. Insgesamt 52 Wohnungen und eine Tiefgarage konnte auf knapp über 1.000 m² Baufläche untergebracht werden.
Zu den wichtigsten Architektur-Projekten Hundertwassers gehört der Regenturm in Plochingen (Württemberg, D) das Hügelwälderland Bad Blumau (1993–Mai 1997), die Kindertagesstätte Heddernheim in Frankfurt a.M. (D, 1988–1995), die St.-Barbara-Kirche in Bärnbach (Steiermark, A, 1984–1988), das KunstHaus Wien (Umgestaltung, 1989–1991), das Fernwärmewerk Wien-Spittelau (1988–1990)
Friedensreich Hundertwasser verstarb am 19. Februar 2000 an einem Herzversagen an Bord der Queen Elizabeth II. auf hoher See. Er wurde in Neuseeland auf seinem Land im „Garten der glücklichen Toten“ unter einem Tulpenbaum beerdigt.