VERMEER - ein Name ist Programm! Das Rijksmuseum organisiert im Frühjahr 2023 die größte Jan Vermeer-Ausstellung in seiner Geschichte. 35 Gemälde werden aktuell als authentisch anerkannt. Dass davon 28 Gemälde nach Amsterdam kommen, ist atemberaubend. Das biete die einzigartige Chance, den intimen Kompositionen des populären Barock-Meisters nahezukommen.
Niederlande | Amsterdam: Rijksmuseum
Philips wing
10.2. – 4.6.2023
Das Rijksmuseum besitzt immerhin vier Bilder Vermeers, die berühmte „Milchmagd“, „Die Briefleserin in Blau“, „Straße in Delft“ und „Der Liebesbrief“ (um 1669/70). Als das Mauritshuis seine drei Gemälde, darunter das berühmte „Mädchen mit dem Perlenohrring“, als Leihgaben zusagte, und eine Kooperation mit der Frick Collection in New York drei weitere Vermeers ermöglichte, war die Basis für ein außergewöhnliches Ausstellungsereignis gelegt. Jetzt ist es fast einfacher, die fehlenden Werke aufzuzählen (→ Vermeer: Werke).
Im Gegensatz zu Rembrandt van Rijn hinterließ Vermeer ein bemerkenswert kleines Werk von nur etwa 35 Gemälden (→ Jan Vermeer: Biografie). Da Vermeer-Gemälde allgemein als die wertvollsten Schätze jeder Museumssammlung gelten, werden sie selten ausgeliehen. Vermeer-Ausstellungen in den letzten Jahren in Dresden (→ Dresden | Zwinger: Vermeer), in Paris (2017/18) und Washington präsentierten Arbeiten aus Amsterdam, weshalb das Rijksmuseum mit großzügigen Gegenleihgaben rechnen durfte. Dass die Liste allerdings so lang wurde, dürfte auch die beiden Kuratoren der Schau, Gregor J. M. Weber und Pieter Roelofs, überrascht haben. Als ausstellungsbegleitende Publikation geben die beiden eine neue Vermeer-Biografie heraus, die das gesamte Werk des Delfter Meisters umfasst und es in Gruppen gliedert (dt. Ausgabe bei Belser, ISBN 978-3-7630–2904-4).
Delft war im 17. Jahrhundert eine mittelgroße, niederländische Stadt, die während der Lebzeit Vermeers wirtschaftlich erfolgreich und künstlerisch interessant war. Das führte dazu, dass sich nahezu das gesamte Werk des Barockmalers in Besitz seiner Nachbarn befand. Deren Interesse an der Stadt könnte dazu geführt haben, dass der Genremaler Vermeer in zwei Bildern seiner Heimatstadt ein Denkmal setzte. Die Vermeer-Ausstellung im Rijksmuseum startet mit der Gegenüberstellung der breitgelagerten Ansicht von Delft und der sogenannten Kleinen Straße. Während das erstgenannte Bild den Blick auf den Kanal eröffnet, der in die Stadt hineinführt, porträtiert Vermeer in der Kleinen Straße erstmals in der niederländischen Kunst ein Wohnhaus. Beide Werke sind so außergewöhnlich in ihrer Anlage, dass sie allein den Maler als Revolutionär erkennen lassen. Um die Zerstörung der Stadt durch die Explosion des Munitionslagers nicht zu zeigen, stellte Vermeer Delft erstmals von Südwesten vor. Er verbindet Detailrealismus mit barocken Kompositionsregeln und lässt das Sonnenlicht in Form von Lichtflecken aufblitzen. Hier wird bereits Vermeers Alleinstellungsmerkmal erkennbar: Licht und Farbe als optische Phänomene aufzufassen, Schärfe und Unschärfe nach seinen Erfahrungen einzusetzen.
Das Frühwerk Vermeers ist zur Gänze in Amsterdam zu sehen. Es umfasst vier Gemälde, in denen Vermeer seinen Personalstil entwickelte: „Christus im Haus von Maria und Martha“, die „Heilige Praxedis“, „Diana und ihre Nymphen“ und „Bei der Kupplerin“.
Wo Vermeer ausgebildet wurde, ist nicht überliefert. Seine Einschreibung in der Delfter Malerzunft lässt jedoch den Schluss zu dass, der junge Künstler eine Lehre außerhalb von Delft gemacht haben muss. Mit den oben genannten vier Bildern stellte er sich seinen Künstlerkollegen und dem Publikum Mitte der 1650er Jahre vor. Dabei überrascht sowohl das thematische wie auch stilistische Spektrum seiner Anfänge. Religiöse und mythologische Historien werden von einem Genrebild abgelöst. Offenbar hatte Vermeer anfangs eine Karriere als Historienmaler angestrebt. Mit „Bei der Kupplerin“ dürfte er allerdings den Nerv der Zeit getroffen und soviel Erfolg gehabt haben, dass er zu einem der interessantesten Genremaler seiner Generation wurde.
Eine zumeist einzelne weibliche Figur in einem Innenraum wird Vermeers Erfolgsrezept der folgenden 15 Jahre. Kaum hatte er sich von der Historienmalerei ab- und der Genremalerei zugewandt, widmete er sich mit großem Erfolg der häuslichen Welt. Drei Werke werden von den Kuratoren der Ausstellung als grundlegend für Vermeers Entwicklung angesehen: „Schlafendes Mädchen“, „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ und die „Milchmagd“. Frauen in Nahsicht, mit einer alltäglichen Tätigkeit beschäftigt, Bilder an den Wänden, die eine weitere Bedeutungsebene erschließen, und ein zunehmend stuppender Umgang mit Farbe und Licht - das sind die „Zutaten“ für einen „echten Vermeer“. Statistisch gesehen, tat er dies mit zwei Bildern pro Jahr, die naherzu alle von einem Mäzen und Nachbarn erworben wurden.
Der Delfter Maler hat bei seinen Zeitgenossen Anleihen genommen, als der sich für das Genre entschied (Jan Steen, Gerard ter Borgh) und seine Bild-im-Bild-Idee entwickelte. Er zitiert Landschaften und Bordellszenen seiner Zeitgenossen aber auch Allegorien von Ehrlichkeit und Liebe in Form des Amors, der über Masken triumphiert.
Vermeer dürfte sich in einer Gesellschaft bewegt haben, die Wissenschaften (Optik) und Empirie schätzte. Es ist in der Forschung zwar noch strittig, ob er mit einer Camera obsura - einer dunklen Kammer mit Loch in der Wand, durch die das Licht hereinfällt und damit ein Bild der Realität an der gegenüberliegenden Wand wiedergibt - gearbeitet hat, der Spezialist des Rijksmuseums geht jedoch davon aus. Denn wie hätte der Maler sonst sein Farbkonzept so sehr auf den Kopf stellen können, dass er in Lichtpunkten arbeitete? Wäre es vorstellbar, dass er ohne optisches Hilfsmittel mit Schärfe und Unschärfe, also mit einem eindeutigen Fokus in seinen Bildern, gleichsam jonglierte?
Der Umgang mit Farbe und Licht machen die Gemälde Vermeers neben ihren anheimelnden Motiven auch so reizvoll, ja revolutionär für das 17. Jahrhundert: Der Delfter Meister vertraute nicht auf Gelerntes und Gewusstes, sondern muss in seinem Atelier genau geschaut und auf der Leinwand farbig nachempfunden haben. Er hat das Sehen neu gelernt - wie vor ihm etwa Albrecht Dürer. Der Katalog trumpht deshalb auch mit unzähligen Detailaufnahmen auf, welche die Betrachter die Mikroskopebene der Malerei zieht. So wird schnell verständlich, dass die Wiederentdeckung Vermeers in Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts stattfand. Im Zeitalter des aufkommenden Impressionismus begann Vermeers Stern erstmals wieder zu leuchten.
Fenster gehören zu Vermeer wie die Versenkung der Modelle in ihre Tätigkeiten. Nachdem er Probleme der Raumdarstellung und Perspektivkonstruktion gelöst hatte, entschied sich der Maler für Raumecken als ideale Bühnen für seine Kompositionen. Deshalb positionierte Vermeer seine Modelle vor Fenstern, anfangs mit geöffnetem Fensterflügel. Lichtregie und Modellierung der Farben reagieren auf das sanfte, einfallende Licht. In „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ (Dresden) und „Die Milchmagd“ (Rijksmuseum) entwickelte Vermeer seinen Personalstil, in dem er das Potenzial von Innenräumen auslotete
Mit den Fenstern tritt die äußere Welt in das häusliche Ambiente - ergänzt um galant gekleidete Herren auf Besuch. Das Ambiente wirkt gediengen, ja (groß)-bürgerlich. In welcher Beziehung diese Herren zu den Damen stehen, bleibt dabei im Dunkeln. Sie reichen ein Weinglas, schenken nach, sind am Tisch eingeschlafen. Vermutlich handelt es sich um amouröse Szenen, fehlen doch die in Bordellen allgegenwärtigen Kupplerinnen (Zuhälterinnen). Und einmal mehr gelingt es Vermeer, seine Protagonisten angenehme Stimmung und Ruhe verbreiten zu lassen.
Tronjen - Charakterstudien in Kostümierung - gehören nach Rembrandt zu den beliebten Motiven der niederländischen Barockmalerei. Die beiden kleinformatigen Studien aus Washington wurden jüngst Untersuchungen unterzogen, deren Ergebnisse die Eigenhändigkeit Vermeers in Frage stellen. Im Rijksmuseum schließt man sich der Annahme nicht an, dass sie von einer Person, die Vermeer nahestand (möglicherweise einem Ateliermitarbeiter oder einem Lehrling oder einer seiner Töchter?), gemalt worden sein könnten. Stattdessen unterbreiten die Kuratoren den Vorschlag, dass es sich um experimentelle Ölskizzen des Malers handeln könnten. Auf Basis dieser beiden Mädchendarstellungen erprobte Vermeer jene Darstellungsform, die er in seinem berühmtesten Werk - „Mädchen mit dem Perlenohrring“ - einsetzte.
Zu den überraschendsten Erkenntnissen für mich gehört die Erkenntnis, dass das Mädchen mit dem Perlenohrring keine Augenbrauen hat. Wissensreich erklären die Kuratoren im Katalog dies mit der zeitgenössischen Mode und einem Verweis auf Moralliteratur, welche gegen die Pinzette ins Feld zog. Der Mädchenkopf wird ausstaffiert mit einem orientalisch wirkenden Turban und einer gigantisch großen Perle, die aufgrund ihres Wertes die finanziellen Möglichkeiten des Malers deutlich überschritten haben und deshalb aus Glas gefertigt gewesen sein dürfte. Die Büste vor schwarzem Hintergrund tritt von links beleuchtet effektvoll hervor. Die junge Dame wirft einen interessierten Blick über ihre Schulter aus dem Bild heraus und hat den Mund leicht geöffnet. Die Weichheit der großflächig eingesetzten Farbe, die zurückgenommene Modellierung der Nase, der Glanz auf den Lippen und die fehlenden Augenbrauen machen das Bild zu einer Ikone der Kunstgeschichte. Ob es sich um eine lebende Person aus dem Umfeld des Künstlers handelt - vielleicht sogar eine seiner Töchter - lässt sich heute nicht mehr beantworten. Vermeer schuf mit dieser Tronje ein Meisterwerk der europäischen Malerei. Das Geheimnis seiner Entstehung lässt es sich nicht nehmen.
Kaum zu glauben, dass Die Spitzenklöpplerin nur etwas mehr als halb so groß wie das Mädchen mit dem Perlohrring ist. Der Maler rückte seinem Modell nicht nur sehr nahe. Er zwingt die Betrachter:innen zu einer intimen Nahsicht auf das kleinformatige Bild. Ab Mitte der 1660er Jahre wechselte der Künstler zwischen Frauen, die in ihren Tätigkeiten gänzlich aufgehen, und jenen, die aus dem Bild herausblicken und auf das Publikum reagieren. Klöppeln erfordert die ganze Aufmerksamkeit der Handarbeiterin. Zwar schildert Vermeer die Fäden und die Klöppel korrekt, doch überrascht er hier mit unscharfen Details links im Vordergrund. Der Maler empfindet den Sehakt nach, wenn er den Fokus auf das Tun lenkt und die Quasten und Fäden auf dem Beistelltisch als farbige, aber unscharfe Erscheinungen beschreibt.
In der selben Zeit, in der Rembrandt in Amsterdam seinen berühmten Spätstil - ein Malen mit pastosem Farbmaterial, welches das Bearbeiten der Farbe mit der Spachtel erlaubte - voll entwickelt hatte, setzte sich in Delft ein Maler mit der Frage von Farbtönen und dem Sehen auseinander. Vermeers Welt überrascht in ihrer Experimentierfreude fernab der niederländischen Feinmalerei seiner Generation.
Briefe zu schreiben, lesen und erhalten, gehört - neben Musizieren und Handarbeiten - zu den wichtigsten Tätigkeiten in Vermeers bürgerlich geprägter Bildwelt. Er zeigt Damen, die völlig in ihrer Tätigkeit aufgehen, selten sind diese durch anekdotische Elemente ergänzt. Stattdessen verströmen Vermeers Bilder Ruhe und ein Insichgekehrtsein, das das Innenleben der Personen zu betonen scheint. Das Stück Papier verbindet Menschen über Länder und Zeiten hinweg, es öffnet den eigenen Haushalt in Richtung weite Welt. So manche hat deshalb einen alten Brief aus einer Schatulle gezogen, eine andere vertieft sich in das Verfassen neuer Zeilen.
Mit Hilfe der Bild-in-Bild Strategie gibt Vermeer Hinweise, welche Inhalte wohl verarbeitet werden müssen: Sei es eine stürmische See als Metapher für das Leben und die Liebe oder der breitbeinig stehende Amorknabe, der daran erinnert, dass wahre Liebe nichts mit Lug und Trug zu tun hat. Das erinnert daran, dass die Alphabetisierungsrate in den Sieben Vereinigten Provinzen zwar beneidenswert hoch war, doch Moralisten gerne ihre Zweifel an der Nützlichkeit von Bildung für Frauen zum Ausdruck brachten. Was überwiegt? Der Zeitvertreib, der den Müßiggang bekämpfte, oder die Möglichkeit, sich aus der Enge des eigenen Haushaltes zu befreien? Vermeers Damen ziehen sich in ihre Gemächer zurück, um ungestört zu lesen oder zu schreiben. Briefe zu schreiben, gehörte zur Lieblingsbeschäftigung der wohlhabenden, städtischen Elite. Gleichzeitig erinnert es daran, dass der Wohlstand der Niederlande auf dem weltweiten Handel beruhte. Erhaltene Briefe aus dieser Zeit spiegeln das Bedürfnis, mit Menschen in der Ferne kommunizieren zu können und von ihnen Neuigkeiten zu erfahren. Vermeers Schriftstücke hingegen sind mehr Dokumente von Liebesbeziehungen. Nicht selten fungieren Dienerinnen als Übermittlerinnen von Briefen, Botschaften und Gefühlsregungen, hatte sie doch deutlich mehr Möglichkeiten, das Haus zu verlassen als ihre bürgerlichen Dienstgeberinnen.
Die vorbereitenden Forschungen für die Ausstellung konzentrieren sich auf Vermeers Malpraxis, seine künstlerischen Entscheidungen und Motivationen für seine Kompositionen sowie auf den kreativen Prozess. Für diese Ausstellung arbeitet das Rijksmuseum eng mit dem Mauritshuis in Den Haag zusammen. Ein Team von Kurator:innen, Restaurator:innen und Naturwissenschaftler:innen untersucht alle sieben Gemälde von Jan Vermeer in niederländischem Besitz. Dazu zählen die vier oben genannten Werke des Rijksmuseums und die drei Gemälde des Mauritshuis – „Diana mit Nymphen“, die „Ansicht von Delft“ sowie das berühmte „Mädchen mit dem Perlenohrring“.
Parallel zur Vermeer-Ausstellung im Rijksmuseum organisiert das Museum Prinsenhof Delft die Ausstellung Het Delft van Vermeer (10. Februar bis 4. Juni 2023). Erstmals zeigt eine Ausstellung den kulturhistorischen Kontext, in dem Vermeers Kunst entstand. Zu sehen sein werden Werke Delfter Zeitgenossen neben Delfter Keramik, Delfter Teppichen, Archivalien und Briefen.
Die vorbereitenden Forschungen für die Ausstellung konzentrieren sich auf Vermeers Malpraxis, seine künstlerischen Entscheidungen und Motivationen für seine Kompositionen sowie auf den kreativen Prozess. Für diese Ausstellung arbeitet das Rijksmuseum eng mit dem Mauritshuis in Den Haag zusammen. Ein Team von Kurator:innen, Restaurator:innen und Naturwissenschaftler:innen untersucht alle sieben Gemälde von Jan Vermeer in niederländischem Besitz. Dazu zählen die vier oben genannten Werke des Rijksmuseums und die drei Gemälde des Mauritshuis – „Diana mit Nymphen“, die „Ansicht von Delft“ sowie das berühmte „Mädchen mit dem Perlenohrring“.
Parallel zur Vermeer-Ausstellung im Rijksmuseum organisiert das Museum Prinsenhof Delft die Ausstellung Het Delft van Vermeer (10. Februar bis 4. Juni 2023). Erstmals zeigt eine Ausstellung den kulturhistorischen Kontext, in dem Vermeers Kunst entstand (→ Jan Vermeer: Biografie). Zu sehen sein werden Werke Delfter Zeitgenossen neben Delfter Keramik, Delfter Teppichen, Archivalien und Briefen.