Richard Gerstl (1883–1908) wird oft als Österreichs erster Expressionist bezeichnet. Obwohl er 1908 mit nur 25 Jahren seinem Leben selbst ein Ende bereitete und davor nie ausstellte, war er in Künstlerkreisen geschätzt. Der Künstler führte seine rund 60 überlieferten Gemälde in Auseinandersetzung mit Werken von Vincent van Gogh und Edvard Munch in Richtung einer befreiten Malweise und intensiver Farbigkeit. Während Gustav Klimt in Gerstls Todesjahr seinen goldenen „Kuss“ vollendete, orientierte sich Gerstl an Vincent van Gogh und näherte sich mit wildem Duktus der gestischen Aktionskunst an. Auf dem Höhepunkt des Wiener Jugendstils brach der Wiener Maler mit den Regeln der Schönlinigkeit und dem repräsentativen Frauenbildnis und erzielte mit Hilfe eines gestischen Pinselstrichs, offenen Formen und leuchtenden Farben eine neuartige Innerlichkeit. Die Ausstellung in der Schirn vereint erstmals Gerstls wichtigste Werke in Deutschland und New York: Gemälde aus dem Belvedere, dem Leopold Museum, dem mumok und dem Kunsthaus Zug (Sammlung Kamm) dokumentieren den suchenden Künstler und seinen Weg in die Avantgarde.
Deutschland / Frankfurt: Schirn Kunsthalle
24.2. – 14.5.2017
USA / New York: Neue Galerie
29.6. – 25.9.2017
Der Maler Richard Gerstl wurde 1883 als Sohn eines wohlhabenden Geschäftsmanns in Wien geboren. Er wurde mit nur fünfzehn Jahren an der Akademie der bildenden Künste in Wien aufgenommen und studierte in der Klasse von Christian Griepenkerl. Dieser war einer der führenden Maler der Ringstraßenepoche und lehrte einen trockenen Akademismus. Richard Gerstl und sein Professor verstanden einander künstlerisch nicht. Nach nur drei Jahren verließ er die Akademie mit der Note „Genügend“. Um sich selbständig künstlerisch weiterzubilden, verbrachte der finanziell unabhängige Kunststudent die Sommer 1900 und 1901 in der freien Malschule des ungarischen Malers Simon Hollósy (1857–1918) in Nagybánya, wo besonders fortschrittliche Lehrmethoden angewandt wurden. Die Künstlerkolonie galt um die Jahrhundertwende als Zentrum moderner Kunst und avancierte zum Treffpunkt für junge, internationale Künstler. Hollósy lehrte Freilichtmalerei, was völlig im Widerspruch zu Griepenkerls Lehre stand.
Zwischen 1902 und 1904 bildete sich Richard Gerstl selbständig weiter, indem er mit zeitgenössischer Literatur, Philosophie, Psychoanalyse, Musik beschäftige. Das Studienjahr 1905/06 besuchte Gerstl erneut die Akademie. Der völlig zurückgezogen lebende, aber äußerst musikbegeisterte Maler war von Heinrich Lefler in dessen „Systemisierte Spezialschule für Landschaftsmalerei“ an der Akademie eingeladen worden. Mit seinem Lehrer überwarf sich der kompromisslose Maler allerdings, da dieser zum 60jährigen Regierungsjubiläum an dem kommerziell ausgerichteten Fetzug teilnahm.Wenn auch im Ausstellungskatalog von Frankfurt a.M. noch immer wiederholt wird, dass Gerstl zeitlebens niemals ausstellte, so muss dies mit Verweis auf Zeitungskritiken zurückgewiesen werden: Er nahm an der zwischen dem 7. und dem 14. Juli präsentierten Schulausstellung teil - und sein Werk erregte Aufmerksamkeit.1
Im Frühjahr 1906 lernte Gerstl Arnold Schönberg und dessen Ehefrau Mathilde kennen. Die Schönbergs und der Schönberg-Kreis nahm ihn mit offenen Armen auf und ließ sich von Gerstl porträtieren. Auf Einladung Schönbergs verbrachte Richard Gerstl die Sommermonate 1907 mit dessen Kreis in Gmunden am Traunsee. Er widmete sich der Landschafts- und Freilichtmalerei (größte Serie von Landschaften). Zu einem unbekannten Zeitpunkt entwickelte sich zwischen Richard Gerstl und Mathilde Schönberg ein heimliches Liebesverhältnis. Mögliche Ausstellungsbeteiligungen Gerstls in diesem Jahr scheiterten u. a. an der Weigerung des Malers, gemeinsam mit Gustav Klimt (1862–1918) auszustellen. Am 26. August 1908 ertappte Arnold Schönberg seine Ehefrau in flagranti mit dem jungen Maler, beide reisten beschämt vom Traunsee nach Wien zurück. Wenige Tage nach dem Bekanntwerden der Affäre kehrte Mathilde wieder zu ihrer Familie zurück. Im September 1908 entstand das letzte Selbstporträt Gerstls, das „Selbstbildnis als Akt“ (Leopold Museum, Wien), Mitte Oktober ein „Sitzender weiblicher Akt“ (Leopold Museum). Am frühen Abend des 4. November beendete Gerstl sein Leben. Gleichzeitig fand das Tonkünstler-Orchesterkonzert der Schönberg-Schüler im Großen Wiener Musikvereinssaal statt, zu dem Gerstl nachweislich nicht eingeladen war.
Richard Gerstl war davon überzeugt, mit seinen Gemälden einen „ganz neuen Weg“ eingeschlagen zu haben. Er wollte weder künstlerisch noch ausstellungstechnisch Kompromisse eingehen. Wenn er auch einige Porträtaufträge im Freundeskreis erhielt, so verdiente er damit kein Geld, weil die Ergebnisse die Porträtierten erschreckten. Wie auch Oskar Kokoschka und Egon Schiele einige Jahre später stellte sich Richard Gerstl in etwa zwanzig Selbstbildnissen dar. Von den etwa 80 mutmaßlich entstandenen Gemälden sind heute noch etwa 60 Werke auffindbar. Zwischen dem ersten zwischen 1902 und 1904 entstandenen „Selbstbildnis“ und dem letzten „Selbstbildnis als Akt“, das mit dem 12. September 1908 datiert ist (beide Leopold Museum), liegen nur knapp fünf Jahre. Das frühe Bildnis zeigt den Maler, frontal vor blau-türkisem Hintergrund stehend. Er blickt selbstbewusst aus dem Bild, eine Art Aura umgibt seinen Kopf. Gerstl verwandte seine ganze Konzentration auf den Kopf, hier ist das Gemälde am detailliertesten ausgeführt. Im Bereich des Bauches und des Lendentuchs wird die Malerei dünn, fast lasierend. Bewegungsunschärfe oder Pentimenti an den Händen, die grundierte Leinwand großflächig im Bereich des Tuches sichtbar, alles frühe Merkmale einer Malerei, deren Schöpfer sich mit dem avancierten Impressionismus beschäftigt hatte.
Das späteste „Selbstbildnis als Akt“ (1902/04) zeigt einen völlig anderen Umgang mit Farbe, mit Farbmasse. Für Kuratorin Ingrid Pfeiffer wurde Richard Gerstl durch sein Malen mit „meterlangen Pinseln“, den Ritzungen auf der aufgerauten Oberfläche, den Spuren des Pinselstiels zu einem „Vorläufer einer gestischen Aktionskunst“.2 Man kann Gerstl durchaus als den malerischsten Maler des Wiener Expressionismus bezeichnen, der sich Maltechniken bediente, die wenige Jahre später auch Oskar Kokoschka (v.a. Ritzungen) aber höchst selten Egon Schiele (seltene pastos ausgeführte Gemälde) beschäftigten. Ohne vorzuzeichnen oder das Bild gar auf klassische Weise aufzubauen, ging Gerstl seine Kompositionen direkt auf der Leinwand an. Da Gestls Werk in einer Phase der Selbstorientierung entstand, lässt es sich nur schwer in ein festgefügtes Raster einordnen. Er scheint avancierteste Bilder und konventionellere Werke gleichzeitig geschaffen zu haben. Wie Ingrid Pfeiffer in ihrem Katalogbeitrag hervorhebt, nutzte Gerstl verschiedene Stilmöglichkeiten, die ihm u. a. der Pointillismus bot, ohne sich gänzlich darauf festzulegen.3 Gerade das letzte Selbstbildnis und die berühmten Gruppenporträts der Schönbergs aus seinem Todesjahr dürfen als prononcierte Werke eines Suchenden gedeutet werden, der sich 1908 bis zur Grenze der Abstraktion vorwagte.
Mit dem Doppelporträt „Die Schwestern Karoline und Pauline Fey“ (März/April 1905), eines von zwei Werken Gerstls, das genau datiert werden kann, durchbrach Richard Gerstl alle akademischen Regeln. Er zeigt die beiden Freundinnen in weißen Kleidern. Sie wirken wir Gespenster, so fahl sind ihre Köpfe. Gemeinsam mit den weißen Abendkleidern heben sie sich kontrastreich vom Hintergrund ab. Der dunkelbraune Fond und die weißen Kleider sind nur kursorisch und mit gestischem Pinselstrich ausgeführt. Wenige Monate zuvor war der Maler, der sich mit diesem Bildnis anschickte, Österreichs wichtigster Frühexpressionist zu werden, noch in einem Sanatorium gewesen. Eigentlich hätte er wie sein Bruder Alois zum Militär gewollt, doch aufgrund seiner Statur („physische Schwäche“) wurde er ausgemustert und zurückgewiesen. Die Jahre 1905/06 wurden für die weitere Entwicklung Richard Gerstls wegweisend, lud ihn doch aufgrund des Gemäldes „Die Schwestern Karoline und Pauline Fey“ Heinrich Lefler in seine Spezialschule auf der Akademie ein und stellte ihm Arnold Schönberg vor. Der Komponist verdiente noch kaum Geld mit seiner Musik und dachte in diesen Jahren daran, sich als Maler eine weitere Einnahmequelle zu erschließen. Hier kam Richard Gerstl als Mallehrer ins Spiel.
„Zwei wie wir sollten uns nicht durch eine Frau auseinanderbringen lassen.“4 (Arnold Schönberg an Richard Gerstl)
Im Frühjahr 1906 malte Gerstl lebensgroße Porträts der Schönberg-Familie und ein Jahr später soll er den Komponisten nach einem vernichtend kritisierten Konzert vom Selbstmord abgehalten haben. Für den aus der Musik-Welt kommenden Coffer ist das Verhältnis von Arnold Schönberg und Richard Gerstl für deren künstlerische Entwicklung essentiell.5 Während des gemeinsamen Aufenthalts in Gmunden begann Schönberg am 1. September 1907 an dem ersten Satz seines bahnbrechenden „Zweiten Streichquartetts“ zu arbeiten. Gleichzeitig löste sich Richard Gerstl von seinen Vorbildern (Postimpressionismus | Pointillismus | Divisionismus, Vincent van Gogh) und wandte sich einer freien, gestischen Malweise zu. In diesem Sommer malte er „Mathilde Schönberg“ und das „Selbstbildnis, lachend“. Dafür, dass die Affäre zwischen Gerstl und Mathilde Schönberg schon im Sommer 1907 begonnen hätte, gibt es keine Anhaltspunkte.
Auch 1908 fuhr der Schönberg-Kreis an den Traunsee, um dort die Sommerfrische zu verbringen. Ab 26. Juni hielt sich der Komponist erneut in Gmunden auf, einen Tag später kamen Richard Gerstl und Anton von Webern. Webern brachte für seinen Wochenendbesuch ein Exemplar von Stefan Georges Gedichtzyklus „Der siebente Ring“ mit, das den Komponisten sofort in seinen Bann zog. Die Gedichte Litanei und Entrückung bilden die Textgrundlage für den dritten und vierten Satz seines Zweiten Streichquartetts op. 10, in denen Schönberg eine Sopranstimme einsetzte. Den dritten Satz komponierte er zwischen dem 5. und 11. Juli 1908, den zweiten (Scherzo) bis zum 27. Juli, den vierten bis zum 30/31. Juli. Da die Affäre zwischen Gerstl und Mathilde Schönberg erst am 26. August aufflog (wann immer sie begonnen haben mag), dürfen alle Spekulationen, ob Schönberg seine Enttäuschung musikalisch verarbeitet hat, zurückgewiesen werden.6 Der Flucht Mathildes gemeinsam mit dem Maler nach Wien folgte die Rückkehr der Ehefrau am 30. August.
Gerstl hingegen malte am 12. September 1908 „Selbstbildnis als Akt [Selbstakt mit Palette]“ (Leopold Museum). Der junge Künstler steht völlig nackt mit Pinsel und Palette in der Hand vor einem Sofa. Die Rechte in die Hüfte gestützt blickt er aus dem Spiegel und malt sich mit aufgewühltem Pinselstrich. Ob das Werk als Werk eines Resignierten7 (Diethard Leopold) gemeint war oder als Neubeginn eines sich seinen Fähigkeiten bewussten Künstlers (Coffer) bleibt weiterhin Diskussionspunkt der Forschung und hängt von der persönlichen Wahrnehmung der Interpreten ab. Die Liebesbeziehung zu Mathilde dürfte noch nicht gänzlich abgeschlossen gewesen sein, gilt sie gemeinhin als das Modell seines letzten Frauenaktes, der danach entstand.
Bevor sich Richard Gerstl malerisch dem Werk Vincent van Goghs annäherte, probte er ab Frühling 1907 den Pointillismus (→ Seurat, Signac, Van Gogh – Wege des Pointillismus), wie in „Trasse der Zahnradbahn auf den Kahlenberg“ (Belvedere), „Obstbaum mit Holzstützen“ (Kunsthaus Zug, Stiftung Sammlung Kamm) zu sehen ist. Mehr als fünfzehn Landschaftsgemälde entstanden während des ersten Aufenthalts Gerstls am Traunsee. Die Familie Schönberg und ihr Kreis hatten ihn erstmals zur gemeinsamen Sommerfrische ins Salzkammergut eingeladen. Auffallend ist – im Vergleich zu den französischen Vorbildern – die Grün-Braun-Tönung der Bilder. Raymond Coffer führt dies vor allem auf das feuchte Wetter und die daraus erwachsende üppige Vegetation der Streuobstwiesen zurück.8
Nachdem sich Gerstl mit den ersten Skizzen „eingemalt“ und die Gegend rund um das Haus erkundet hatte, weitete er seinen Radius auf die Uferpromenade von Gmunden und Bauerngärten hinter Holzzäunen aus. „Uferstraße bei Gmunden“, „Bauerngarten mit Zaun“ und „Baum mit Häusern im Hintergrund“ (alle drei Leopold Museum) weisen eine deutlich wildere Pinselschrift auf als ihre Vorgänger. Der Farbauftrag erfolgt nicht mehr in Punkten oder in parallel gerichteten, kurzen Strichen, sondern in längeren Strichen, die die Farbe pastos auf der Leinwand verteilen. Insgesamt entsteht der Eindruck eines hastigen, weniger kontrollierten Malvorgangs, der eine spontane Beobachtung auf den Malgrund „wirft“. Bereits mit der pointillistischen Technik hatte sich Richard Gerstl von jeglicher Naturwiedergabe gelöst und war zu einer Verwandlung des Seheindrucks gekommen. Nun fügte er die Auflösung der Objekte auf der Bildfläche dazu. In den Kritiken zu Gerstls erster Ausstellung im Jahr 1931 (!) vermeinten die Rezensenten eines „österreichischen Wunders“ teilhaben zu können, da „der österreichische Van Gogh“ dem Dunkel des Vergessens entrissen wurde. Richard Gerstl hat wohl die Ausstellung von 45 Gemälde Vincent van Goghs in der Galerie Miethke Anfang des Jahres 1906 gesehen (→ Vincent van Gogh. Gezeichnete Bilder) - für seine Entwicklung kann die Präsentation nicht überbewertet werden. Ludwig Hevesi schrieb in seiner Kritik über „Formen, die ein ewiges Suchen sind und sich niemals finden“9. Die Abstrahierungstendenz nahm im Werk Gerstls bis in den Sommer 1908 noch zu – wie die Gruppenporträts des folgenden Jahres und die Landschaftsbilder belegen.
Während sich Arnold Schönberg mit dem Zweiten Streichquartett abmühte und/oder urlaubte, malte Richard Gerstl am Traunsee großformatige Porträts seiner Freunde: „Mathilde Schönberg im Garten“ (Juli 1908, Leopold Museum), Alexander von Zemlinsky (Juli 1908, Stiftung Sammlung Kamm, Kunsthaus Zug), „Die Familie Schönberg“ (Ende Juli 1908, mumok), „Paar im Grünen“ (Leopold Museum), „Familie Schönberg“ im Gras sitzend (mumok). Das „Gruppenbildnis mit Schönberg“ (23./24. Juli 1908, Stiftung Sammlung Kamm, Kunsthaus Zug) zeigt höchstwahrscheinlich Arnold Schönberg, Mathilde, Alexander und Ida von Zemlinsky und das Ehepaar Horwitz. Zum Vorbild Van Gogh gesellte sich zweifellos auch Edvard Munch (→ Edvard Munch. Archetypen). Die Gesichter gerinnen ihm zu farbigen Masken. Das Spiel mit der Farbe scheint wichtiger zu sein als die Wiedererkennbarkeit der Dargestellten. Angesichts der gleichzeitigen Produktion von Gustav Klimts „Kuss“ (1908, Belvedere) und dem ersten „Porträt Adele Bloch-Bauer“ (1908, Neue Galerie, New York) erstaunt die völlige Freiheit, die sich Gerstl für seine Entwicklung nahm (Gustav Klimt: Der Kuss (1907/08), Gustav Klimt: Adele Bloch-Bauer I und Adele Bloch-Bauer II). Den Jugendstil und seine dekorative Ornamentik völlig außer Acht lassend, ging der junge Maler, inspiriert durch die internationale Moderne, einen einsamen Weg, der ihn zweifellos zu etwas völlig Neuem in der Wiener Moderne führte.
Mythos und Wirkung Richard Gerstls sind eng mit seinem Selbstmord im Alter von nur 25 Jahren verbunden. Raymond Coffer konnte in seinen minutiösen Studien die genauen Umstände aufdecken, die sich am 4. November 1908 abspielten. Der Maler wählte eine sichere Methode, um seinem Leben ein Ende zu bereiten; er rammte sich ein Messer ins Herz und erhängt sich im Fallen. Auslöser des spontanen Suizids war wohl Gerstls Erkenntnis, kein Mitglied des Schönberg-Clans mehr zu sein. Wenn sich auch die Hinweise verdichten, dass Mathilde Schönberg die geheime Liebesbeziehung zu Gerstl wiederaufgenommen haben könnte (Sie dürfte das Modell des letzten Frauenaktes sein!), so hatte der Maler doch seinen wichtigsten „Sparringpartner“ in Sachen Kunst verloren. Am frühen Abend des 4. November fand ein Tonkünstler-Orchesterkonzert der Schönberg-Schüler im Großen Wiener Musikvereinssaal statt, zu dem Gerstl nachweislich nicht eingeladen war. Zur selben Zeit beendete der talentierte Expressionist sein Leben.
„Als Richard Gerstl [1908] die Familie Schönberg malte, wurde das kein Bild, sondern eine Explosion, aber sie erfolgte in Österreich und daher war sie unhörbar und bis jetzt eigentlich auch unsichtbar.“ (Fritz Wotruba, 1962)
Die Wirkung von Richard Gerstls Werk konnte sich aufgrund der Weigerung des Malers zu Lebzeiten auszustellen erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs entfalten. Es ist dem Bruder Alois Gerstl zu verdanken, dass er die Gemälde bis in die frühen 1930er Jahre in einem Lager aufbehielt und sie Anfang 1931 Otto Nirenstein (Kallir) zeigte.10 Der wichtige Wiener Galerist konnte den Frühexpressionisten Gerstl daher erstmals der Öffentlichkeit vorstellen und ihn als Vorläufer von Oskar Kokoschka (1886–1980) und Egon Schiele (1890–1918) aufbauen. Doch die Emigration Nirensteins in die USA im Jahr 1938, die Verunglimpfung expressionistischer Tendenzen durch den Nationalsozialismus unterbrachen das Projekt der Wiederentdeckung. Erst nach 1945 wurden österreichische Kunsthistoriker und Avantgarde-Künstler auf die Leistungen Gerstls aufmerksam.11 Der Aktionskünstler Günter Brus setzte sich intensiv mit Gerstl (und auch Schiele) auseinander, der Bildhauer Fritz Wotruba verglich das Schönberg-Familienporträt mit einer Explosion.
Am 14. September 1883 wurde Richard Gerstl als jüngster von drei Söhnen des Ehepaares Emil Gerstl (1834–1912) und Marie Gerstl (geb. Pfeiffer, 1857–1910) in Wien geboren. Der Vater war jüdischer Abstammung und vermögender Geschäftsmann (Privatier), wodurch die Familie in finanziell stabilen, gutbürgerlichen Verhältnissen lebte. Die Mutter war Christin und bestand auf einer römisch-katholischen Taufe ihrer Söhne.
1889–1895 Besuch der Volksschule in der Bartensteingasse
1895–1897 zwei Jahre am Wiener Piaristengymnasium Maria Treu
1897 Wechsel an die Meixner Privatschule wegen disziplinarischer Schwierigkeiten. Bereits während der Schulzeit erhielt Richard Gerstl Zeichenunterricht von dem Akademiestudenten Otto Frey.
1898 Zwei Monate lang Unterricht an der von Ladislaus Rohsdorfer geleiteten Zeichenschule „Aula“, um sich auf die Aufnahmeprüfung der Akademie der bildenden Künste in Wien vorzubereiten (Sommer). Der erst 15-Jährige wurde an der Akademie angenommen und trat in die Allgemeine Malerschule von Professor Christian Griepenkerl (1838–1912) ein. Richard Gerstl wurde Zeit seines Lebens von seiner Familie finanziell unterstützt. Die Mutter förderte seine künstlerischen Ambitionen, während der Vater diesen eher skeptisch gegenüberstand.
1900/01 An der Akademie hatte Gerstl nur „genügenden“ Erfolg. Er verbrachte daher die Sommer 1900 und 1901 in der freien Malschule des ungarischen Malers Simon Hollósy in Nagybánya, wo besonders fortschrittliche Lehrmethoden angewandt wurden. Die Künstlerkolonie galt um die Jahrhundertwende als Zentrum moderner Kunst und avancierte zum Treffpunkt für junge internationale Künstler. Dem Vorbild des französischen, koloristischen Impressionismus folgend, wurde die Freilichtmalerei gelehrt, was völlig konträr zu Griepenkerls Lehre stand. Gerstls Wunsch seinem Lieblingsbruder Alois in die Armee zu folgen, wurde aufgrund seiner „physischen Schwäche“ abgelehnt.
1901 Das Schüler-Lehrer-Verhältnis zwischen Griepenkerl und Gerstl war von häufigen Differenzen geprägt. Gerstl wurde mit der Note „Genügend“ bewertet, weshalb er die Akademie im Juli 1901 verließ und das Studium für drei Jahre unterbrach. Am 17. Oktober erhielt Gerstl für das 1898 begonnene Studium ein Zeugnis.
1902–1904 Richard Gerstl mietete zwei Zimmer in Wien (Haubenbiglgasse in Döblingen und anschließend im Therese-Krones-Haus auf der Hohen Warte 37 in Heiligenstadt), wo er sich autodidaktisch bildete und mithilfe der Langenscheidt-Methode Italienisch und Spanisch lernte. Er begeisterte sich für Philosophie und Literatur. Sein Interesse galt insbesondere den Abhandlungen Otto Weiningers (1880–1903) und der „Traumlehre“ (1899/1900) Sigmund Freuds (1856–1939) sowie den Theaterstücken von Henrik Ibsen und Frank Wedekind. Zudem beschäftigt er sich intensiv mit Musikwissenschaften. Wöchentlich besuchte Gerstl die Oper und Klassikkonzerte in Wien. Während dieser Zeit lebte er zurückhaltend, u. a. mit seinem Jugendfreund und angehenden Anwalt Waldemar Unger sowie dem etwa gleichaltrigen Studienkollegen Victor Hammer. Verbindungen zu Wiener Künstlerkreisen sind nicht bekannt. Den späteren Überlieferungen seines Bruders Alois zufolge, zu dem er ebenfalls ein enges Verhältnis hatte, hatte er keine hohe Meinung von den zeitgenössischen Wiener Malern. Erstes Selbstporträt (Leopold Museum, Wien), das ihn als Akt vor blauem Hintergrund zeigt und aufgrund des symbolistischen Charakters eine Sonderstellung im Werk des Künstlers einnimmt.
1904 Kurzer Aufenthalt in einem Sanatorium (August). Neuerlicher Eintritt in die Klasse Griepenkerls an der Akademie (Oktober) und Beendigung des Grundkurses der Allgemeinen Malerschule.
1905 Nach zwei Semestern, kurz vor dem Wintersemester 1905/06, musste Gerstl endgültig den Kurs verlassen. Lernte den von ihm hoch geschätzten Direktor der Wiener Hofoper Gustav Mahler kennen und bat um Porträtsitzungen. Zu Gerstls Bedauern lehnte dieser jedoch ab. Malte „Die Schwestern Karoline und Pauline Fey“ (März/April 1905, Belvedere).
1906 Mietete vorübergehend ein Atelier in der Gumpendorferstraße 11, das er sich vermutlich mit Victor Hammer teilte. Hammer wechselte in die „Systemisierte Spezialschule für Landschaftsmalerei“ von Prof. Heinrich Lefler (1863–1919) an der Akademie der bildenden Künste. Der Mitbegründer des Hagenbundes (1900) galt als besonders fortschrittlich im damaligen Lehrkörper der Akademie. Lefler lud Gerstl im März in seine Klasse ein, nachdem er dessen Gemälde „Die Schwestern Karoline und Pauline Fey“ (1905, Belvedere) gesehen hatte. Gerstl stimmte zu, unter der Bedingung, ein eigenes Atelier in der Akademie zu bekommen. Unter den Mitschülern befanden sich Franz Wacik, Ignaz Schönfeld, Victor Hammer und Anton Kolig (1886–1950)
Im Frühjahr lernte Richard Gerstl den Komponisten Arnold Schönberg (1874–1951) und dessen Frau Mathilde (1877–1923) kennen, denen er privaten Malunterricht erteilte. Anfang des Sommers porträtierte er Arnold Schönberg (Frühling/Sommer 1906, Wien Museum) und im Juni entstand das erste von acht Bildnissen von Mathilde, das sie mit ihrer Tochter Trudi zeigt („Frau mit Kind (Mathilde Schönberg mit Tochter Gertrud)“, Belvedere). Gerstl fand sofort Aufnahme in den „Schönberg-Kreis“, eine eng verschworene Gruppe von Musikern, Komponisten und Schönberg-Schülern, die er von nun an porträtierte. Über Schönberg lernte er dessen Schwager, den Dirigenten und Komponisten Alexander von Zemlinsky, den Kunsthistoriker Ernst Diez, die Pianistin Smaragda Berg sowie die Komponisten Alban Berg, Anton von Webern, Egon Wellesz, Heinrich Jalowetz und Victor Krüger kennen. Gerstl zog sogar kurzzeitig eine Karriere als Musikkritiker in Erwägung.
1907 Auf Einladung Schönbergs verbrachte Richard Gerstl die Sommermonate mit dessen Kreis in Gmunden am Traunsee. Er widmete sich der Landschafts- und Freilichtmalerei (größte Serie von Landschaften). Neben der Familie Schönberg waren auch die Schönberg-Schüler Victor Krüger, Heinrich Jalowetz, Anton von Webern und Karl Horwitz anwesend. Zu einem unbekannten Zeitpunkt entwickelte sich die freundschaftliche Beziehung zwischen Gerstl und Mathilde Schönberg zu einem heimlichen Liebesverhältnis.
1908 Das gute Verhältnis zu Professor Lefler verschlechterte sich, denn Gerstl stellte das Engagement seines Lehrers im Rahmen des Huldigungs-Festzuges anlässlich des 60-jährigen Thronjubiläums von Kaiser Franz Joseph I. am 12. Juni 1908 infrage. Die geplante Ausstellung des Hagenbundes kritisierte er scharf. Lefler zog zwar kurzzeitig in Erwägung, Gerstls Arbeiten im Hagenbund auszustellen, doch verwarf er das Vorhaben aus Furcht vor einem Skandal letztlich. Das Angebot des Präsidenten des „Ansorge-Vereins“, Dr. von Wymetal, zu einer Ausstellung lehnte Gerstl aus unbekannten Gründen ab. Ebenso scheiterte seine geplante Teilnahme an einer Präsentation in der von Carl Moll geleiteten Galerie Miethke, da Gerstl nicht mit Gustav Klimt zusammen ausgestellt werden wollte. Im Februar bezog Gerstl ein zweites Atelier in der Liechtensteinstraße 68/70 im Wohnhaus der Schönbergs.
Zweite Reise mit den Schönbergs nach Gmunden an den Traunsee (Juli). Gerstl sandte am 22. Juli einen Beschwerdebrief an das Ministerium für Kultur und Unterricht, in dem er beklagte, dass seine Bilder in der am 19. Juli eröffneten Schulausstellung nicht ausgestellt wurden. Damit blieb ihm die Chance auf den Spezialschulpreis verwehrt, der letztlich seinem Studienkollegen Ignaz Schönfeld zugesprochen wurde. Das Schriftstück, das vom Ministerium an den Rektor der Akademie weitergegeben wurde, stieß auf heftige Ablehnung und Unverständnis seitens der Professoren. Zwei „Gruppenporträts“ um Schönberg in gestischer Malweise und hohem Abstraktionsgrad.
Ende August erfuhr Arnold Schönberg vom Verhältnis von Gerstl und seiner Frau. Mathilde verließ ihre Familie am Traunsee und fuhr gemeinsam mit Gerstl nach Wien. Wenige Tage später kehrte sie jedoch wieder zu ihrem Ehemann zurück. Sofortiger Bruch zwischen Gerstl und dem „Schönberg-Kreis“ und gesellschaftliche Isolation des Malers. Verließ sein Atelier in der Liechtensteinstraße 68/70 und zog in das Haus seiner Eltern. Letztes Selbstporträt, das „Selbstbildnis als Akt“ (Leopold Museum, Wien). Mitte Oktober Umzug in die Liechtensteinstraße 20. „Sitzender weiblicher Akt“ (Leopold Museum) zeichnet sich durch seinen expressiven und abstrahierenden Stil aus und markiert einen radikalen Schlusspunkt im Œuvre des Künstlers.
Am 4. November vernichtete Gerstl angeblich alle Briefe und schriftlichen Dokumente. Am frühen Abend desselben Tages erhängte und erstach er sich. Zeitgleich zu seinem Selbstmord fand das Tonkünstler-Orchesterkonzert der Schönberg-Schüler im Großen Wiener Musikvereinssaal statt, zu dem Gerstl nachweislich nicht eingeladen war. Aus Furcht vor einem Skandal wurde der Selbstmord von seiner Familie geheim gehalten. Die Affäre mit Mathilde wurde von den Beteiligten ebenfalls verschwiegen und erst rund fünfzig Jahre später publik. Eine ärztliche Unzurechnungsfähigkeitserklärung sicherte Richard Gerstl am 7. November ein christliches Begräbnis auf dem Sieveringer Friedhof in Wien. Die bei seinem Tod hinterlassenen Arbeiten wurden bei der Spedition Rosin & Knauer eingelagert.
Ingrid Pfeiffer und Jill Lloyd in Zusammenarbeit mit Raymond Coffer (Hg.)
mit Beiträge von R. Coffer, P. Demandt, J. Kallir, D. Leopold, J. Lloyd, I. Pfeiffer, M. Sitte
192 Seiten, 122 Abbildungen
23,5 x 28 cm, gebunden
ISBN 978-3-7774-2753-9 (dt.)
ISBN 978-3-7774-2754-6 (engl.)
HIRMER Verlag
Ingrid Pfeiffer, Richard Gerstl— Ein Überblick, S. 14–
Jill Lloyd / Karol Winiarcyk, Richard Gerstls Internationalismus, S. 24
Diethard Leopold, »Zeugnis Einer (Inneren) Krise«? Das Bild der neuen Kunst versus die Legende vom tragischen Künstler, S. 32
Raymond Coffer, Ein Lied an die Sirene. Die Dreiecksbeziehung zwischen Richard Gerstl, Arnold und Mathilde Schönberg, S. 38
Jane Kallir, Die bemerkenswerte Entdeckung und Wiederentdeckung des Richard Gerstl, S. 46 Raymond Coffer, Werkverzeichnis, S. 53
Maria Sitte, Biografie, S. 178