Georges Braque bringt die Formen zum Tanzen! Auch wenn er als Initiator des Kubismus bekannt ist, findet Braques nach 1914 entstandene Werk vergleichsweise wenig Beachtung. Die Neubewertung der post-kubistischen Arbeiten erfolgt in Hamburg in einer chronologischen Einzelausstellung, in der die kubistische Phase und das malerische Werk im Zentrum stehen. Dennoch wird auch das fauvistische Frühwerk und die danach folgenden 50 Jahre künstlerischen Schaffens nicht vergessen. Wenn Braque meint, „der Maler denkt in Formen und Farben“, so umreißen diese beide Kategorien seine Herkunft aus dem Fauvismus und die Entwicklung des Kubismus, während im malerischen Werk nach 1917 die Balance zwischen beiden zu immer abstrahierteren Bildern führte.
Deutschland Hamburg: Bucerius Kunst Forum
10.10.2020 – 24.1.2021
verlängert bis 30.4.2021
Von Georges Braques Frühwerk ist nur wenig erhalten, da der Maler selbst viele dieser Arbeiten zerstört hat. Der 1882 in Argenteuil geborene und ab 1890 in Le Havre (Normandie) groß gewordene Braque hatte eine Lehre zum Dekorationsmaler bei seinem Vater begonnen. Im Herbst 1900 zog er nach Paris und zwei Jahre später wandte er sich der Kunst zu. Nachdem er sich für die Kunst des Impressionismus und Postimpressionismus begeistert hatte, entdeckte Braque im Salon d´Automne 1905 Bilder von Henri Matisse (1869–1954), André Derain (1880–1954) und Raoul Dufy, die ihn tief beeindruckten. Bestärkt durch seine Freunde Dufy und Othon Friesz, begann Braque im Herbst mit reiner Farbe zu malen.
Demzufolge beginnt die Ausstellung im Bucerius Kunstforum mit vier Landschaften aus L’Estaque: „L’Estaque“ vom Oktober 1906, der „Paysage de L’Estaque [Landschaft bei L’Estaque]“ (1906/07), „L’Estaque“ (Oktober/November 1906), „Die kleine Bucht von La Ciotat“ (Juni 1907). Braques Fauvismus ist gekennzeichnet von starker Formvereinfachung, die auf der Kunst der Nabis aufbaut, reinen Farbtönen und starken Farbkontrasten, allen voran der Komplementärkontrast zwischen Blau-Violett und Gelb-Orange. Gestrichelte Umrisslinien und der durchscheinende Malgrund, rhythmisierter Pinselstrich und schwingende Formen, vor allem aber die Loslösung von realistischen Farbwerten gehen auf den Neo-Impressionismus von Paul Signac zurück, der bereits Henri Matisse und André Derain zur Entwicklung des Fauvismus anregte. Licht und Stimmung werden in den Landschaftsbildern mittels der Vereinfachung der Formen und des Farbauftrags erzielt, was Georges Braque als das „Physische“1 am Fauvismus beschrieb. Dass er sich dafür gerade nach L’Estaque aufmachte, liegt in Braques Verehrung von Paul Cézanne begründet. Seit 1870 hatte Cézanne immer wieder in L’Estaque gearbeitet. Während Braque auf den Spuren seines Vorbilds auf der Suche nach seinem Stil war, verstarb dieser im Oktober 1906. Zwei Jahre später sollte in diesem Küstenort die Wiege der kubistischen Malerei stehen. Daraufhin zerstörte er sein Frühwerk nahezu komplett.
Das Viadukt von L‘Estaque, die Straße nach L’Estaque und Musikinstrumente regten Georges Braque im Herbst/Winter 1908/09 an, den Fauvismus hinter sich zu lassen und den Schritt in Richtung Kubismus zu gehen. Auf farbenfrohe, von weich schwingenden Formen dominierte Landschaften der Jahre 1906/07 folgten Bilder mit einfachen, kubischen Formen in Erdtönen. Zu dieser Zeit entstanden Braques erste Stillleben; sein ganzes Leben lang nahmen sie eine bedeutende Rolle in seinem Schaffen ein.
Im März 1907 stellte Georges Braque gemeinsam mit den Fauves im XXIII. Salon des Indépendants sechs Landschaften aus L‘Estaque aus. Im Rahmen der Eröffnung machte Braque die Bekanntschaft mit Henri Matisse, Albert Marquet (1875–1947), Maurice de Vlaminck und André Derain (→ Matisse und die Künstler des Fauvismus). Der deutsche Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler (1884–1979) oder der Maler Alexis Axilette (1860–1931) kauften das Bild „Das Tal“. Die anderen fünf Bilder erwarb der deutsche Kunstsammler Wilhelm Uhde (1874–1947), der in den folgenden Jahrzehnten einer der wichtigsten Unterstützer des Malers wurde.
„Neben Picasso wurde mein zweites großes Kunsterlebnis, das nie eine Abschwächung erfuhr, Georges Braque. Es war Liebe auf den ersten Blick, als ich die rotglühenden Landschaften des Südens sah, die er im Salon d’Automne1 ausgestellt hatte. Ich erwarb sie alle, wurde so sein erster Käufer in Paris, und verfolgte liebevoll seine Entwicklung, im Laufe derer er immer großartiger und bewusster das Erbe Chardins und Corots antrat.“2
Im März oder April 1907 hinterließ Georges Braque seine Visitenkarte im Atelier von Pablo Picasso, ein erstes persönliches Treffen ist für Ende des Jahres dokumentiert. Der intensive Austausch zwischen den beiden Künstlern führte zur Entwicklung des Kubismus. Bis zum Sommer 1914 arbeiteten die Braque und Picasso intensiv zusammen. Sie besuchten einander fast täglich im Atelier, um zu sehen, woran der andere gearbeitet hatte. Picassos und Braques Werke aus der Zeit des Analytischen Kubismus sind nicht einfach einem der beiden Künstler, was auch auf ihre Versuche verweist, die persönliche Handschrift auszulöschen, „um Originalität zu finden“.
Im Bucerius Kunst Forum ist die kubistische Phase durch fünf Gemälde vertreten, welche die Zersplitterung der Formen, die Abkehr vom euklidischen Raum und der Zentralperspektive und die Reduktion der Farbwerte vermitteln. Durch das Zusammenfallen von Figur und Grund, Vorder- und Hintergrund wird das Erkennen der Bildthemen erschwert. In seiner Konzentration auf die Erneuerung der europäischen Malerei konzentrierte er sich auf das Porträt, die menschliche Figur du das Stillleben. Georges Braque umschreibt die Figuren mit schwarzen Linien, führte wiedererkennbare Fragmente vor und nutzte eine tonale Palette mit Brauntönen, Schwarz, Weiß und Grau. In dieser Phase sind die Werke Braques fast nicht von jenen Picassos zu unterscheiden – und während der Spanier zum berühmtesten Künstler der Welt aufstieg, war es doch Braque, der viele Neuerungen als erster erprobte.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendete die fruchtbare Zusammenarbeit von Braque und Picasso abrupt. Georges Braque wurde eingezogen und 1916 schwer verwundet. Erst im folgenden Jahr wieder genesen, kehrte der Maler dem Analytischen wie auch dem Synthetischen Kubismus den Rücken, um sich die Frage zu stellen, „wie weit man in der Vereinigung von Volumen und Farbe gehen kann“. Dabei baute er auf den Kubismus (incl. Textfragmenten) auf, verband ihn aber mit einer neuen Farbigkeit und einer raffinierten Räumlichkeit. Anstelle von kubischen Formen treten organische. Einen gänzlich neuen Weg schlug der Maler mit den „Canéphore [Kanephore]“ von 1922 ein: Die beiden Karyatiden wirken wie malerische Umsetzungen der starken Frauen von Aristide Maillol und erinnern entfernt an die klassischen Frauendarstellungen in Picassos Werk der 1920er. Dahinter darf man Braques Begeisterung für die griechische Antike und Poesie vermuten.
„Form und Farbe vermischen sich nicht; sie sind gleichzeitig“ (George Braque)
Zu den Überraschungen der Braque-Ausstellung in Hamburg gehören Georges Braques Entwürfe für das Ballett „Salade“. Die Studien gelangten erst 2018 dank einer Schenkung von Annick und Quentin Laurens in die Sammlungen des Musée national d’art moderne. Im Auftrag von Graf Etienne de Beaumont (1883–1956) schuf Braque Bühnenbild und Kostüme für Léonide Massines und Darius Milhauds Ballett. Der begeisterte Flöten- und Akkordeonspieler zeigt sich demnach nicht nur in den Stillleben mit Instrumenten, sondern auch in seiner Arbeit für das Theater.
Die Uraufführung dieser modernen Farce der Commedia dellʼArte fand am 17. Mai 1924 statt. Das Ballett erzählt die Geschichte von Polichinelle (frz. für Pulcinella), gespielt von Léonide Massine, und seiner Geliebten Rosetta, die auf Befehl ihres Vaters Tartaglia den Kapitän Cartuccia heiraten soll. Dank der Streiche und Tricks von Polichinelle und Tartaglias Diener Coviello siegt am Ende die Liebe. Braques Entwürfe wirken schlicht, wenn nicht gar zurückhaltend. Die Farben des Bühnenbilds und der Kostüme entsprechen jenen seiner Malerei, die René Crevel mit den „subtilsten der grauen Lieder“3 verglich.
In den 1930er Jahren nutzte Georges Braque Elemente des Synthetischen Kubismus – Collage-Effekte und illusionistische Materialimitationen –, um seine Stillleben weiterzuentwickeln. Die Formen verlieren dabei ihre Form, werden „weich“, transparent und fluid. Im Hamburger Katalog werden diese Gegenstände mit organischen Zügen beschrieben; das Verhältnis, in dem sie zueinanderstehen, wird durch den metamorphen Prozess vieldeutig. Gleichzeitig unterwarf Braque seine Kompositionen einem ornamentalen Gesamteindruck. Carl Einstein, mit Braque befreundet und sein wichtigster Interpret, schrieb 1933, dass die „späten Arbeiten Braques sind von einer Art Traumwertung bestimmt“ wären.4
Während des Zweiten Weltkrieges lebte Braque mit seiner Ehefrau in ärmlichen Verhältnissen in Paris. Er ging in die innere Emigration, als eine Flucht im Jahr 1940 in den Süden nicht den erwünschten Erfolg brachte. In Deutschland wurde Georges Braques Kunst als „entartet“ diffamiert und seine Werke beschlagnahmt; in Frankreich wurde er von den Besatzern in der Rubrik „attentiste [abwartend]“ geführt.5 Allerdings konnte er sie 1943 in einer Retrospektive im des Salon d’Automne zeigen.
Bis zum Sommer 1944 arbeitete Braque an Stillleben, schlicht und dunkel. Einfache Gebrauchsgegenstände und Grundnahrungsmittel stehen jedoch, so der Künstler, für sich selbst und nicht als Symbole für die Gefahren im besetzten Paris. Ob die Objekte, darunter Schädel, Rosenkranz und Kruzifix (ab 1938), wirklich nur um formale Studien, oder ob sie auf die schwierige Situation in der ersten Hälfte der 1940er Bezug nehmen, sei dahingestellt. Jüngst wurde für Pablo Picasso eine ähnliche Haltung nachgewiesen, hatte der Maler doch den Krieg nur in drei von 2.200 Gemälden direkt thematisiert (→ Düsseldorf | K20: Picasso 1939–1945). Braque scheint Angst und Bedrücken in den dunklen Bildern dieser Jahre zu sublimieren. Wohl in aller Einfachheit bewusst ambivalent gestaltet, erfüllen sie eine wichtige Funktion, ohne den Maler jedoch in Gefahr zu bringen.
Die Nachkriegszeit brachte Braque endgültig die offizielle Anerkennung. Der Pariser hatte seine erste Einzelausstellung 1933 in Basel. Der ging voraus, dass die Galerie Georges Petit, Paris, Matisse 1931 und Picasso 1932 große Einzelausstellungen ausrichtete, denen 1932 eine die erste Einzelausstellung Picassos im Kunsthaus Zürich folgte (überhaupt die erste institutionelle Ausstellung eines lebenden Künstlers → Picasso. Die erste Museumsausstellung 1932). Ursprünglich war eine Kollektivschau von Werken Picassos, Georges Braques und Fernand Légers vorgesehen, die, wohl dem Wunsch Picassos entsprechend, auf sein Werk eingeschränkt wurde.6 Die Braque-Ausstellung sollte gleich im Anschluss an die Picasso-Retrospektive im November 1932 eröffnen und die Léger-Schau fand ab Mai 1933 statt. Von diesem Vorgehen überrascht, wandte sich Georges Braque an die Kunsthalle Basel, die ihm im Frühjahr 1933 eine Einzelausstellung ausrichtete. Diese Episode zeigt deutlich die Übermacht Picassos am Kunstmarkt wie auch im musealen Bereich. Dass Braque zu den ersten „Opfern“ des Spaniers zählte, ist unbestritten. Dass er nach Ende des Kriegs mit seiner weniger expressiven Malerei aber auch große Bewunderung genoss, zeigt die Vielzahl an Retrospektiven und Ehrungen.
Zu den wichtigsten Auszeichnungen Braques zählte 1948 die Würdigung mit dem Großen Preis für Malerei auf der Biennale von Venedig. Er erhielt den Auftrag, ein Deckengemälde für den Etrusker-Saal (Henri II) des Louvre zu schaffen. Als erstem lebenden Künstler richtete ihm der Louvre auch eine Ausstellung aus. Zentrales Motiv in der Bildwelt Braques wurde ab 1954 der Vogel vor blauem Hintergrund. Mit ihm gelang es dem Maler, seine dunklen Interieurs hinter sich zu lassen. Die zunehmend abstrahierten, zu Piktogrammen reduzierten Tiere erinnern in manchen Kompositionen an die Scherenschnitte von Henri Matisse. Die späten Landschaften, die der Maler in der Umgebung von Varengeville fand, könnten als Hommagen an Vincent van Goghs extremes Querformat und seinen pastosen Farbauftrag verstanden werden. Mit „La Sarcleuse [Die Jätmaschine]“ (1961–1963) schuf Georges Braque sein künstlerisches Testament, mit dem er sich gedanklich mit Van Goghs „Ährenfeld“ (Van Gogh Museum, Amsterdam) verband. Das quergelagerte Weizenfeld und der düstere Himmel bilden den Hintergrund für eine Jätmaschine. Natur und Technologie werden einander gegenübergestellt, die Landwirtschaft wird industrialisiert. Da sich Braques Gesundheitszustand 1961 rapide verschlechterte, musste er die Arbeit an den Gemälden nahezu ganz einstellen. Am 31. August 1963 verstarb Braque – einer der am höchsten ausgezeichneten Maler der Nachkriegszeit. Er hatte nach Kriegsende in allen wichtigen europäischen und US-amerikanischen Museen ausgestellt, war nach Tokio eingeladen worden, hatte an der documenta I und der documenta II wie auch der Biennale von Venedig seine Werke zeigen können. Dass er bis heute im Schatten des übermächtigen Picasso steht, wird wohl auch diese Hamburger Ausstellung nicht ändern können. Aber sie zeigt einen wandlungsfähigen Künstler, einen Pionier des Kubismus, einen Maler mit französischer Eleganz und einen Meister von Farbe und Raum.
„Mit dem Alter werden Kunst und Leben eins.“
Die Ausstellung entsteht in Zusammenarbeit mit dem Centre Pompidou, Paris und wird gefördert von ExxonMobil, Bankhaus Lampe und Lampe Asset Management.